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Sylvain Tesson
In den Wäldern Sibiriens
Blockhütten-Weisheiten und Wodkarausch
Ein ungewöhnliches Tagebuch aus Sibirien
Kritik |
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Sylvain Tesson
In den Wäldern Sibiriens
Tagebuch aus der Einsamkeit
272 Seiten
Albrecht Knaus Verlag 2014
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Was würden Sie mitnehmen, wenn Sie sich für sechs Monate in eine einsame Blockhütte zurückziehen könnten? Sylvain Tesson entscheidet sich für Grundnahrungsmittel und Werkzeug sowie für viel Lektüre und viel Tabasco, bevor er sich mitten im Winter in ein Naturreservat am sibirischen Baikalsee bringen lässt. Ganz auf sich gestellt, will der gebürtige Pariser dort herausfinden, ob er „ein Innenleben hat“. In den knapp vierzig Jahren seines bisherigen Lebens nämlich ist er ruhelos von einem Ort zum anderen gezogen. Seine ersehnte Verwandlung zum abgeklärten Einsiedler hält er in einem Tagebuch fest, das nun auch in deutscher Übersetzung erschienen ist.
Tessons Hütte ist von „bernsteinfarbenem Holz“ und steht direkt am Ufer des Sees. Weil in einem Radius von dreißig Kilometern rund um seinen Ofen, den er die „Achse der Welt“ nennt, kein einziger anderer Mensch lebt, kann der Autor sicher sein, dass er zumindest vordergründig in niemandes Fußstapfen treten wird. Mutterseelenallein spurt er hinauf ins frostklirrende Ufergebirge oder wandert halbe Tage lang über das Eis, um am Abend die Wärme des Ofens zu genießen, eine Zigarre zu rauchen und die Sonne zu betrachten, die auf das gegenüberliegende Ufer des Sees hinabsinkt. Auch Tessons Sprache schwankt zwischen Aktion und Kontemplation, zwischen ekstatisch-adjektivischer Naturbeschreibung und Sätzen, die sich gewissermaßen in sich selbst zurückziehen, um die Ruhe und Zufriedenheit, von der er erfasst zu werden glaubt, zu beweisen. Immer und immer wieder sucht der Autor die Essenz seines Einsiedlerdaseins zu sentenzieren, zum Beispiel: „In der Blockhütte kommt die Zeit zur Ruhe. Sie legt sich uns zu Füßen wie ein guter alter Hund, und plötzlich merkt man nicht einmal mehr, dass sie da ist.“
Tesson ist alles andere als ein naturmystischer Schwärmer, der fest daran glaubt, dass irgendwo in den sibirischen Wäldern die Wahrheit wohnt; er ist ein scharfer, hochgebildeter Geist, der weiß, in welcher Reihe er steht: Während seiner Klausnerzeit liest er von einem vorchristlichen chinesischen Philosophen, der das Hüttenleben preist, über Defoe und Chauteaubriand bis zu Heidegger alles, was irgendwie mit dem Thema zu tun hat. Auch Kenner der Materie, die auf Thoreaus Walden warten, werden nicht enttäuscht. Wissend, wie abgeschmackt es wäre, wenn er auch nur den Namen des grünen Urvaters erwähnte, spielt Tesson mit dessen wohl berühmtesten Satz: „Im Grunde habe ich mich in die Wälder zurückgezogen, um endlich zu tun, was mich immer eingeschüchtert hat.“ Überhaupt spart der Autor nicht mit Selbstkritik. Er spricht davon, dass er sich nur deswegen unablässig die Schönheit des Daseins vor Augen führe, weil er sein Einsiedlerleben ja irgendwie rechtfertigen müsse, oder er nennt sich einen „Drückeberger“, der sich aus „lauter Angst vor der Welt in eine Hütte tief in den Wäldern zurückgezogen“ habe.
Es ist wohl die Angst vor der Sesshaftigkeit und der Mäßigung gemeint, die mit dem mitteleuropäischen Durchschnittsdasein einhergehen. Tesson hat die Welt nicht mit dem Flugzeug, sondern mit dem Fahrrad umrundet; er hat nicht den Bus genommen, sondern ist zu Fuß gegangen, als er einmal von Sibirien nach Indien wollte und hat sich monatelang mit Zelt und Schlafsack in den Steppen Zentralasiens herumgetrieben. Auch in seiner Blockhütte hält er es nicht allzu lange aus. Hat den Anachoreten einmal die Unruhe gepackt, klappt er bald schon seine Lektüre zu und macht sich mit ein paar Flaschen Wodka im Rucksack auf in Richtung Nachbarschaft. Nach dreißig, vierzig strapaziösen Marschkilometern über das Eis oder über die Berge wird er von einem der kauzigen Waldläufer, die teilweise seit zehn, fünfzehn Jahren nicht mehr in der fernen Großstadt Irkutsk gewesen sind, zum Vorglühen in die Banja befördert. Anschließend kippen sich die beiden so viel Hochprozentiges hinter die Binde, dass sie noch zwei Tage später mit Vergiftungserscheinungen durch die Wälder wanken. Diese wiederkehrenden Exzesse mögen Tessons Gesundheit schaden, seinen Tagebucheintragungen tun sie gut. Trifft er mit anderen Menschen zusammen, sind seine Seiten plötzlich voll mit Witz und funkelnder Ironie. Einmal gibt er eine Unterhaltung während eines Zechgelages wieder, zu dem sich am helllichten Vormittag einige Fischer eingeladen haben:
Wolodja: Übrigens, Sylvain, es ist Krise, Europa geht es gar nicht gut, heißt es. Vor allem Griechenland: zusammengebrochen. Auf den Knien. Alles futsch.
Ich: Alles futsch?
Igor: Futsch.
Wolodja: Du wirst nicht mehr heimkönnen.
Auch die Waldläufer und Fischer des Baikal hören Radio, und so sickert die Kremlpropaganda, die gegenwärtig im Osten der Ukraine ihre verheerende Wirkung zeigt, bis in die entlegenste Blockhütte. Es ist ein wenig schade, dass Tesson das Tagespolitische, Aktuelle ansonsten weitgehend ausklammert. Nie starrt er abends in das Feuer seines Ofens und verliert sich in Erinnerungen an sein ereignisreiches Reiseleben oder gibt Anekdoten zum besten; es scheint, als wolle er assoziative Abschweifungen unbedingt vermeiden, weil sie ihn von der Ruhe und Zufriedenheit, die er sich so sehr wünscht, ablenken könnten. Als Beweis für seine diesbezüglichen Fortschritte dienen ihm die oben genannten Sentenzen, denen oft etwas rührend Bemühtes, manchmal auch Altkluges anhaftet.
Ende Mai bricht das Eis des Baikalsees. Tesson bekommt von einem Nachbarn zwei junge Hunde geschenkt, die ihn vor hungrig herumstreifenden Bären schützen sollen. Aika und Bek bringen zusammen mit dem Frühling Leben und Gemeinschaft in die Wildnis. Weil es warm wird, sind innen und außen plötzlich nicht mehr so strikt voneinander geschieden. Die philosophische Selbstzucht des Autors weicht seiner Hingabe an die Schönheit der Natur, wie das ganze Buch famos ins Deutsche gebracht von Claudia Kalscheuer: „Der See: Ein Alabasterkirchenfenster mit Fugen aus bläulichem Blei. Die Eisplatten gleiten nach Süden. Ich liege in der milden Luft und schaue ihrem Abtrieb zu.“ Tesson paddelt am Ufer entlang, verwöhnt seine beiden Lieblinge mit selbstgefangenem Fisch oder steigt mit ihnen auf die höchsten Gipfel des Ufergebirges und blickt stundenlang ins sibirische Tiefland hinunter. Es geht ihm so gut, dass er einmal sogar davon spricht, dass es schwieriger sei, eine Ameise zu lieben, als einen Menschen, in dessen Gesicht man ja doch nur „sein eigenes Spiegelbild feiern“ wolle. Dass dem wohl doch nicht so ist, erfährt er, als ihm seine Lebensgefährtin über das Satellitentelefon, das er für Notfälle bei sich trägt, das Ende der Beziehung mitteilt. Gegen diese niederschmetternde Nachricht helfen weder die Stoiker noch selbstverfasste Sentenzen, sondern nur der Wodka und der Besuch französischer Freunde. Auf dem Boden der Tatsachen angekommen, findet der Einsiedler nach und nach wieder in die Welt der Menschen zurück.
Als Tesson seine Blockhütte verlässt, ist er nicht wirklich zum Weisen geworden, weil er es weder geschafft hat, seine eintönigen Mahlzeiten ohne Tabasco zu genießen, noch seine Mußestunden ohne ablenkende Lektüre zu verbringen. Trotzdem hat er ein ganz und gar ungewöhnliches, absolut lesenswertes Tagebuch verfasst, und das nicht nur für jene, die seit ihren Bubentagen von einer einsamen Blockhütte träumen.
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Christian Lorenz Müller
Lyrik
Prosa
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