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Jan Volker Röhnert
Notes From Sofia
Wo ein Kopfschütteln ein Ja bedeutet
Die bulgarischen Blätter des Jan Volker Röhnert
Kritik |
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Jan Volker Röhnert
Notes From Sofia – Bulgarische Blätter
Edition AZUR, Dresden 2011
Euro 19,80
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Wer schon einmal durch Bulgarien gereist ist, wird sich gut daran erinnern, dass ein Nicken dort ein Nein und ein Kopfschütteln ein Ja bedeutet. Dies führt am Anfang dazu, dass der Tourist der ständigen Missverständnisse wegen seine eigene Körpersprache zu hinterfragen beginnt. Wer auf keinen Fall etwas falsch machen will, wird sich eine Gestik angewöhnen, die nicht von spontanen Emotionen, sondern vom Nachdenken geleitet wird.
Jan Volker Röhnert war nicht als Tourist in Bulgarien unterwegs, sondern lebte von 2008 – 2010 als Deutschlektor in Sofia. Zweifellos hat er während dieser Zeit gelernt, seine Körpersprache den Landessitten anzupassen. Und doch erscheinen viele Texte so, als sei ihr Autor beobachtend am Rand eines Sofioter Trottoirs gestanden und habe auf sehr mitteleuropäische Art den Kopf geschüttelt: Über das Nebeneinander von billigem Glanz und bitterstem Elend; über Mafiosi und Neureiche, die mit ihren Autos protzen; und immer wieder über phantasievoll bestrumpfte Mädchenbeine. Keine Frage, Röhnert bildet sich nicht ein, dazuzugehören. Er weiß, dass er die fremde Kultur nie wirklich wird verstehen können, dass das, was er wahrnimmt, Stückwerk bleiben muss. Vielleicht leitet er seine „Notes From Sofia“ gerade deshalb mit einer Sammlung von Prosaaufzeichnungen ein, deren Umfang zwischen wenigen Zeilen und eineinhalb Seiten schwankt. Mit beeindruckend klarer, von Metaphernbeiwerk weitgehend freier Sprache und enormem Reflektionsvermögen vermag er es, Alltagserlebnisse zu poetisieren.
„Als er dieses Mädchen sah, wusste er auf einmal, was zu tun war“, heißt es in einem kurzen Text, der an eine Verkäuferin in einem „sonnenblumengelbgemusterten Kleid“ gerichtet ist. „Sie floralisierte das Leben, den stinkenden Alltag dank der stofflichen Muster auf ihrem Leib. (…) Dafür hatte sie Blumen verdient.“
Röhnerts Wille zur reinen Anschauung ergänzt sich hier auf das Schönste mit einem beherzten Griff zum Blumenstrauß. Der nur angedeutete Kontakt zur Verkäuferin gibt diesem Text eine emotionale Intensität, die sich der Rezensent für manch andere Prosastücke gewünscht hätte. Wirkliche Begegnungen mit Menschen sind selten in diesem Band, aber Röhnert geht es ja nicht primär darum, ein Bild der bulgarischen Hauptstadt zu zeichnen oder gar die Mittel der Reportage anzuwenden. Er beruft sich nicht umsonst auf Handke, den er als „größten deutschsprachigen Schriftsteller der Gegenwart“ bezeichnet. „Vor aller notierten Poesie“, heißt es in einem Text, stehe „das Rühmen“: Das Rühmen „der seltenen Vögel, die in den Zweigen wundersekundenkurz sich zeigen (…); der Bäume und ihrer Rinden, der windgegerbten, kerbenreichen Kiefern-, Birken-, und Lindenstämme.“ Und immer wieder rühmt Röhnert die schön bestrumpften Beine der jungen Bulgarinnen. Völlig zu Recht, wie der Rezensent von seinen eigenen touristischen Streifzügen zu berichten weiß. Wie fast überall im ehemaligen Ostblock verwandeln die Mädchen auch in Bulgarien selbst noch Gehsteige mit Baustellencharakter in Laufstege, und man möchte sich ob der meist herrschenden Tristesse bei einer jeden von ihnen mit einem Blumenstrauß dafür bedanken.
Was aber, wenn dieser geschenkte Blumenstrauß zu einer näheren Bekanntschaft führt und herauskommt, dass die jungen Frauen nicht aus Modezeitschriften herausstolziert sind, sondern mit Eltern und Geschwistern einen bröseligen Plattenbau bewohnen und ihr halbes Verkäuferinnengehalt für Outfit und Make-up ausgeben? Kann Röhnerts poetische Technik dann noch funktionieren?
Diese Prosa wäre vollkommen, wüsste der Autor all das Gewöhnlich-Wunderbare, Alltäglich-Geheimnisvolle, das er zu beschreiben vermag, um eine Winzigkeit stärker zu emotionalisieren. Viel von dem Schwebleichten, das er inmitten der dreckigen Großstadt bemerkt, verliert auch deswegen seine Faszination, weil er dem „Rühmen“ nichts adäquates entgegensetzt. Auch das zornige Verdammen kann zum Beispiel eine poetische Grundqualität haben, das Verdammen von Korruption, Willkür und Ausbeutung, das gerade im europäischen Osten kaum übersehen werden kann. Immerhin treibt es Röhnert dazu, ob derartiger Zustände seine Poetologie in Frage zu stellen: „Jede ausgestreckte Bettlerhand ist ein unmittelbarer, grausam realer Vorwurf an den Luxus schöner Worte (…) – oder ist es ohnehin so, dass man sie nur als Kontrast zur Wirklichkeit empfinden kann?“, fragt sich der Dichter und bescheinigt sich an anderer Stelle eine „Vorliebe für Oberflächen“. Dieses uneitle Grübeln ist es, das Röhnerts Kurztexte nicht in sprachlichem Glamour erstarren und sie nie oberflächlich wirken lässt. Sein spürbarer Wille, auch unter widrigen Umständen so etwas wie eine untadelige poetische Haltung zu bewahren, berührt.
Die kurzen Prosastücke und Aphorismen, die das erste Drittel des Bandes ausmachen, verdichten sich in dessen Mittelteil zu einer Erzählung. Warum Bulgarien, warum Sofia und nicht Amsterdam, Pretoria oder Anchorage? Röhnerts flanierender Protagonist sieht sich in „Die Wiederkehr“ mit dieser Frage konfrontiert, als er einer Gruppe von Mädchen begegnet, die etwas umgibt, das er „sonst, andernorts, nur als aufdringlich oder störend empfunden hätte, das ihm hier jedoch wie natürlich zu ihnen zu gehören schien (…): das Parfüm.“ Auf olfaktorische Art wird damit eine Madeleine in Tee getunkt, denn plötzlich stellen sich Bilder ein, die Bilder eines Pionierlagers in der späten DDR, an der auch eine Gruppe bulgarischer Mädchen teilnahm. Eines davon verschenkte ein Parfumflakon an einen Jungen, der nun als Mann durch die Straßen Sofias wandelt und sich ebenso traumleicht wie präzise an die Ereignisse jenes Sommers erinnert.
„Das, was einst hatte leer bleiben müssen endlich einmal zu benennen – wäre das Erkennen?“, heißt es gegen Ende der Erzählung, und an ihrem Schluss steht eine Aufzählung: „(…) den Beton, den Granit, die scheppernden Bahnen, das alles nähme er mit.“ Der Held der Geschichte wird die Stadt ganz wie ihr Autor irgendwann in dem Wissen verlassen, für viele Dinge nicht einfach Wörter verwendet, sondern sie auf eine ganz eigene Art „benannt“ zu haben.
Der reizvoll-züchtige Ton dieser Prosa weicht in den Gedichten, die den letzten Teil des Buches ausmachen, nicht selten einer sinnlicheren Sprache, etwa wenn Röhnert sich auf einem Markt ein Suppenrezept erklären lässt:
Sind wir Lippenblütler?
Die roten Rosen vorm Schenskibasar
Sind чушки, heiße Paprika.
Ihr Fleisch gefällt sich
In den Linsen der alten Frau,
die auf meinen Einkauf baut.
Сирене, Schafskäse in Salz, weiß zerbrockt,
geht brodelnd in der Brühe auf.
Чубрица, ich weiß, das Bohnenkraut,
gibt zwischen Handkanten zerrieben erst
der Kreation ihr Essentielles, das
der Blumenwelt uns näher bringt.
Ein Text, der dem Rezensenten Appetit machte auf mehr Lokalkolorit, auf das Fremdartig-Schöne der bulgarischen Klöster zum Beispiel, die noch heute eine wesentliche Rolle für das kulturelle Selbstverständnis des Landes spielen. Doch Röhnert bleibt auch in seinen Gedichten weitgehend in Sofia und ganz bei sich selbst. In „Januar“ spricht das lyrische Du von Spuren, die ihm gelegt worden seien, berichtigt sich aber gleich darauf: „die du dir gelegt?“ Nicht die Fremde an sich ist es, die das Bild, das wir uns von ihr machen, bestimmt, sondern unsere Präferenzen, Prägungen und Wahrnehmungsmöglichkeiten.
So ist mit diesem Buch gut bedient, wer eine Reise in ein Inneres anzutreten bereit ist, das mindestens ebenso faszinierend und vielgestaltig ist wie der Balkan selbst. Auch Sammlern sei dieser Band schon seiner besonderen graphischen Gestaltung wegen empfohlen. Der Umschlag ließ den Rezensenten anfangs an ein altes bulgarisches Webmuster denken, im Lauf der Lektüre kam er aber zur Überzeugung, dass es sich um eine moderne Spinnereizeichnung handeln muss: Zartblau überzieht ein phantasievoll gemusterter Mädchenstrumpf Jan Volker Röhnerts außergewöhnliches Werk.
Christian Lorenz Müller 07.09.2011 |
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Christian Lorenz Müller
Lyrik
Prosa
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