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Christine Langer
Findelgesichter
Gedichte, die „spiegelnd bestehn“
Kritik |
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Diese Dichterin vermag es, ihren Erfahrungsschatz auf poetische Weise mit ihren Lesern zu teilen, weil sie es nicht scheut, Emotionen zu äußern. Viel von dem zerebralen Aufwand, der nicht selten in der Gegenwartslyrik betrieben wird, um nur ja nicht in den Verdacht des Klischees oder der Gefühlslastigkeit zu geraten, erscheint nach der Lektüre dieses Bandes, der vorwiegend Naturgedichte enthält, beinahe pathetisch.
Freudige Gesänge an das Gras, die Fichtenbäume oder die Kraniche, die „Streicher der Wolken“, sind zu hören. Wie schon die Texte ihres viel beachteten Debütbands „Lichtrisse“ erscheinen viele Gedichte aus „Findelgesichter“, als seien sie noch im Gehen entstanden. Der Rhythmus dieser Bewegung ist manchen Texten derart eingeschrieben, dass ich während der Lektüre versucht war, mir die Dichterin, mit Bleistift und Block bewehrt, durch ihre Lieblingslandschaften wandernd vorzustellen. Kaum glaublich, dass der frische Landwind, der nicht selten durch diese Texte weht, durch beharrliche Arbeit am Schreibtisch entstanden, dass das Rote-Backen-Gefühl, das sich während des Lesens einstellte, das Ergebnis reiflicher Überlegung ist. Die Mühen des Poetenalltags sind Langers Versen nur selten anzumerken; das gilt ganz besonders für Gedicht wie das folgende, dessen Schritttempo durch zahlreiche Alliterationen erhöht wird:
Über die Lust zu sehen
Jeder Busch ein Buch mit unbeschriebenen Seiten
Mit Knospen wie Buchstaben: Mimosen länger werdender Tage
Hellgrün hellwach in diesem aufgehenden Maiwald
Der mit seinen üppigen eingekleideten zweigen
Das Innerste entlarvt Lust entfacht
Lust zu sehen und zu gehen auf Füßen wie Tatzen so nah
An der Erde so nah an den Gewächsen Gestalten gewärmten
Steinen dass Verführungen sich wandeln in augenblickliche
Fügungen - der Weidenstrauch spreizt seine Zweige und
Zeigt seine Mitte da hat ein Vogelnest seinen Platz angestrahlt
Zwischen Blättern hellsichtigen Astlöchern: Kleinen Lichtungen
Lichtblicken unter Wolkenfetzen
Hier verwandelt Christine Langer die Verführungen der üppig sprießenden Natur derart gekonnt in Verführungen der Sprache, dass selbst der hartnäckigste Stubenhocker nach der Lektüre einen Ausflug in Erwägung ziehen wird. Nicht wenige andere Gedichte sind ebenfalls ähnlich „nah an den Gewächsen Gestalten“, auch wenn längst nicht alle so viel frühlingshafte Bewegung enthalten. Langsamer wird der sprachliche Rhythmus der Dichterin, wenn sie zum Beispiel Details betrachtet: „Die Pflaume“, „Die Birne“, „Das Weidenkätzchen“ heißen Gedichte, die den Band eröffnen. Diese Überschriften wirken wie aus einem Bestimmungsbuch entnommen, deshalb ging ich mit nüchternen visuellen Vorstellungen an die Texte heran und war umso überraschter über Langers poetische Pflanzenkunde: „Die Sonne fällt in Flaum“, heißt es beispielsweise in „Das Weidenkätzchen“, und die enorme Wuchskraft der Salixpflanzen wird sehr gelungen mit „diese empor sprießenden schießenden Gesten“ beschrieben. Botanisches Grundwissen ist für die Lektüre speziell dieser Texte zwar manchmal hilfreich, aber nicht Voraussetzung; viel wichtiger ist wohl die Bereitschaft, sich auf sensorische Art und Weise auf die Gedichte einzulassen. Wer schon einmal Weidenkätzchen durch seine Finger gleiten hat lassen, wird sich wieder an ihre Schmiegsamkeit erinnern und den Strauch beim nächsten Frühlingsspaziergang bestimmt nicht links liegen lassen. Schade nur, dass Langer diesen Text mit „Blütenkatzen // Rilkes Augen: sein Panther // An Ort und Stelle“ beschließt. Beinahe abstrakt erscheint dieser Literaturverweis angesichts des ansonsten geradezu multisensorisch nachvollziehbaren Gedichts.
Vollkommen gelungen hingegen der Text, der den Ponte Vecchio in Florenz besingt: „Zwei Ruder tauchen ein / In den Arno tauchen auf / Zwei Ruder unter den Bögen aus Stein / die spiegelnd bestehn / Ein Fingerzeig auf die Taube / Die pickt auf dem warmen Asphalt“. Sofort erinnerte ich mich an meine spontane Begeisterung für dieses Bauwerk, als ich es, siebzehnjährig, das erste Mal erblickte, und fühlte mich nicht im Geringsten durch den abschließenden symbolbehafteten Fingerzeig gestört.
„Ich hole mir Wärme // aus meinen tiefen Manteltaschen“, heißt es in einem Text, der einen Wintertag beschreibt. Wiewohl am Ende dieser Verse der „Himmel kippt“ und der Mond verschwindet, bleiben doch diese Taschen im Gedächtnis, weil sie beispielhaft sind für Christine Langers Gedichte: Sie sind tief und enthalten Wärme, selbst an einem kalten Wintertag.
Christian Lorenz Müller 02.11.2010 |
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Christian Lorenz Müller
Lyrik
Prosa
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