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Marianne Bunes
Mutterwut
Ein psychologischer Roman
&xnbsp; Kritik |
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Marianne Bunes
Mutterwut
Kriminalroman
180 Seiten
Ulrike Helmer Verlag 2015
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Wer das Buch „Mutterwut“ von Marianne Bunes umfänglich und in seiner ganzen Tiefe versteht, so dachte ich bald, versteht, bei aller Spezifik des Vorliegenden, auch Grundlegendes zur „Geschichte der Mentalität“ in der Bundesrepublik Deutschland, und zwar aus der Zeit von vor 1945 bis heute hin. Im Zentrum des Buches steht Maria H., von „Sprachverlust“ getroffen, dergestalt, dass sich ihr Sprachvermögen fortan auf die Wörter beschränkt: „Ja“, „danke“ und „gut“.
&xnbsp; Der Sprachverlust hat zunächst wesentlich mit ihrer Mutter zu tun, doch wer ist ihre Mutter?
&xnbsp; Die Kindheit verbrachte sie in der NS-Diktatur und wurde dort, wie so viele, mit einem im Grunde nicht verarbeitbaren Schmerz konfrontiert. Entscheidend im Weiteren sind die Schlussfolgerungen, die daraus gezogen wurden. Die Mutter von Maria gehörte zu jenen, die sich dafür entschieden, das erfahrene „Dunkel“ aus ihrem Leben zu verbannen. Das ist ebenso verständlich, wenn jemand ein solches Übermaß erleiden musste, wie problematisch, wenn es zur Voraussetzung hat, sich seine Erfahrungen und die Zeit, in der man lebte, nicht genau und kritisch angesehen sowie entsprechend ausgewertet zu haben. So ist man bei der Thematik der sog. „Nachkriegsbewältigung“ bzw. beim sowohl individuellen wie kollektiven Phänomen der „Nachkriegs-Verdrängung“. In der Familie von Maria nimmt sie folgende Gestalt an:
&xnbsp; Die Mutter, das kann zunächst gesagt werden, ordnet sich dezidiert dem Guten zu. Und hat sehr genaue Vorstellungen davon. Es führt in den – vielfach exemplarischen – Schilderungen des Buches auch deswegen zur Problematik, weil die Vorstellungen so festgefügt sind, dass sich auf das neue Lebewesen, die Tochter, nicht eingelassen wird. Die Vorstellungen sind aber nicht nur festgefügt, sondern auch ausschließend. So lässt sich sagen: Alles, was nur in irgendeiner Art „dunkel“ ist, ist tabu, alles, was nicht froh und fröhlich ist, ist tabu, und alles, das nicht einem sehr bestimmten Ordnungsbegriff entspricht, ist tabu.
&xnbsp; Vor diesem Hintergrund fiel Marias Reaktion aus (S. 99): „Ich war schon als Kind erleichtert, wenn sich der Himmel verdunkelte und die Regentropfen aufs Dach prallten, weil es mich der Pflicht enthob, fröhlich zu sein.“
&xnbsp; Die Mutter, die eine anerkannte Stellung im Dorf innehat, versteht es, an vielen Stellen Menschen für sich einzunehmen, die ihr dann gut gesonnen entgegentreten. Allerdings erzählte sie (S. 152) „nicht jedem das Gleiche, sondern jedem genau das, dem er zustimmen würde“. Das bedeutet: Es handelt sich bei den Kontaktnahmen und Beziehungen der Mutter vielfach nicht um wiederkehrend zuverlässige, verbindlich zu nehmende Äußerungen, sondern, wie landläufig gesagt wird: Sie „redet den Leuten nach dem Mund“, um Zustimmung und Anerkennung des Jeweiligen zu bekommen.
&xnbsp; Dies geschieht nicht selten auf Kosten der Tochter. Die Mutter stimmt mit andern in eine Klage ein, wie dunkel, traurig und eigensinnig ihre Tochter doch sei, die einfach „nichts annehme“ und so die ganze Familie betrübe. Es wird nicht nach den Gründen gefragt. Es wird sich nicht dafür interessiert, warum denn das neue Lebewesen, die Tochter, so ist. Anstelle dessen schart die Mutter Verbündete um sich und geht regelmäßig so weit, damit in schärfste Konkurrenz zu ihrer Tochter zu gehen, indem sie sich, mit Kalkül, z.B. Marias liebster Freundin Gundula gegenüber betont großräumig zeigt (fehlendes Geld wird geborgt oder gar verschenkt) – sodass der Kontakt in ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis gerät bzw. von vorneherein in Dankbarkeit mündet.
&xnbsp; Marias Mutter ist auf allen Ebenen, wie sie meint, mit „dem“ Guten verbunden. Da ihre Tochter sich dem „nicht unterordnet“, ist sie, nach Schwarzweißlogik, das Gegenteil. Maria verfügt indessen über die analytischen Fähigkeiten, dies einer genaueren Prüfung zu unterziehen:
&xnbsp; Da ist das Verhältnis zu Gott. Dazu befindet Maria (S. 157): „Ganz gleich, was du tun oder sagen oder nicht tun und nicht sagen wirst, es wird ihren Glauben an Gott und sich selbst noch fester machen. In den letzten zehneinhalb Jahren war er zu einem Granitblock geworden.“ So wird selbst Gott gegen die Tochter ausgespielt. Z. B. durch alt- und neutestamentliche Äußerungen wie (S. 157): „Ihr werdet gehasst werden von jedermann um meines Namens willen. / Und es wird die Tochter wider die Mutter sein. / Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. / Lass sich nicht über mich freuen, die mich ohne Grund hassen.“
&xnbsp; Ein oder der Kern kann erfasst werden in jenem „ohne Grund“, das die Mutter auf sich selbst bezieht. Sie sieht offensichtlich keinen Grund, der mit ihr zu tun hätte, für die schlechte Befindlichkeit ihrer Tochter. So erweist sich, dass etwas überaus Entscheidendes vollständig fehlt, jedenfalls wird es nie wirksam: Selbst-Reflexion.
&xnbsp; Die Gläubigkeit der Mutter wird verknüpft mit „Hilfsaktionen“. Dies passt insofern ins Bild, als dass es auch da nie um Selbst-Reflexion geht, sondern um Menschen in einer geschwächten Position, deren Verhalten sich auf Dankbarkeit beschränkt und sich darauf zu beschränken hat. So bildet sie zusammen mit ihrem Mann eine Art „Helferteam“. Der Mann, der kaum Worte macht, schlägt sich schweigend auf die Seite seiner Frau. Bekäme aber auch die größten Schwierigkeiten, wenn er es nicht täte. „So wurden sie (S. 117) ein Helferteam in Gottes Namen und brachten neben ihren Hilfeleistungen immer das Wort.“
&xnbsp; So ergreift die Mutter immer gleich das Wort, kommt dabei auf „alles Mögliche“, aber nie, in dem Sinne, auf sich selbst zu sprechen. Und auch nie darauf, der Tochter einmal eine Frage in ernst gemeinter Absicht zu stellen. Heißt, einmal eine Antwort zu erwarten bzw. ganz aufzunehmen, die wirklich von ihr kommt. Anstelle dessen weiß sie „alles von vorneherein“ und ist empört, oft wutentbrannt darüber, dass die Tochter „nicht mitspielt“, „undankbar“ sei.
&xnbsp; Dabei wähnt sie sich uneingeschränkt positiv. Doch Maria sieht (S. 115): „Sie beschönigte ihre Kindheit, aus sechs Jahren Kriegselend und drei Jahren Nachkriegselend machte sie eine heile Welt, in der immer Sommer war […] Wenn sie zugegeben hätte, dass es ihr geschadet hatte, hätte sie zugegeben, dass sie beschädigt war; eine Mutter mit Schaden war. Das durfte nicht sein, also wurde der Schaden auf mich abgewälzt.“ Bzw. auf alle, die sich „anboten“.
&xnbsp; Auch die Schrecknisse der Zeit, in der die Mutter heranwuchs, werden nicht als solche wahrgenommen (S. 143): „Den Juden sei recht geschehen, wusste die Mutter, sie wurden bestraft, weil sie sich nicht bekehren wollten.“
&xnbsp; So wird „Bekehrung“ mit – von einem „christlichen Gott“ ausgehenden – „Gutsein“ gleichgesetzt; wer sich widersetzt, wird im Zweifelsfall der Vernichtung preisgegeben. So steht man vor dem Widerspruch einer Person, die einerseits vorgibt (und dafür auch vieles tut), absolut gut (und ohne Schuld) zu sein, und andererseits den Holocaust rechtfertigt.
&xnbsp; Würde man ihr dies sagen, wäre wieder „alles anders“, was nur zu weiterer Verwirrung beiträgt.
&xnbsp; Was bei solchen Widersprüchen für die Familie, insbesondere für die Tochter herauskommt, ist eine Form von Absolutismus, der demjenigen in einer Diktatur nicht unähnlich ist. Ersichtlich wird dies an den Reaktionen der Tochter:
Maria hat vor allem Angst. So fühlt und denkt sie z.B. Folgendes, als sie sich in der Eltern-Wohnung aufhält, als die Eltern nicht da sind (S. 133):
&xnbsp; „Es war seltsam, durch die Wohnung meiner Eltern zu gehen. Wie ein Spaziergang auf den Gleisen bei offener Schranke; man weiß, dass kein Zug kommen kann, aber man glaubt es nicht, die Gleise strahlen Gefahr aus.“
&xnbsp; Oder: Als Maria von einer kleinen Reise zurückkehrt, hat sie Folgendes wahrzunehmen (S. 127): „Vom Bahnhof nach Hause wurde ich immer langsamer, die Plastiktüte mit dem Schal schnitt mir in die Hand, ich hielt sie ein Stück von mir weg, damit sie bei meinen Schritten nicht raschelte und niemand mich hörte. Mich wird wohl bis an mein Lebensende jedes Geräusch, das ich mache, in Schrecken versetzen.“
Dialoge mit der Mutter verlaufen so (S. 48):
&xnbsp; „Wann soll ich denn geschimpft haben, meint sie herablassend. Ich habe gar nicht über dich geredet. Da hast du dich wohl verhört.
&xnbsp; Ich habe aber genau meinen Namen gehört.
&xnbsp; Ach so!, wird sie noch herablassender. Das war doch alles nur humorvoll gemeint. Du nimmst immer alles viel zu ernst.
&xnbsp; Es hat aber wütend geklungen.
&xnbsp; Ach Quatsch! Jetzt klingt sie abfällig. Das hast du dir nur eingebildet, weil du krankhaft alles auf dich beziehst.“
Das Projizieren und Leugnen, so kann unter anderem geschlossen werden, hat damit zu tun, dass die Mutter es nicht erträgt, wenn etwas von ihrem idealisierten Selbst-Bild abweicht. Auch und gerade hier besteht ein signifikanter Zusammenhang damit, dass sie dem Schmerz ausweicht, sich nie so, wie es wünschenswert gewesen wäre, mit ihrem Schmerz auseinandergesetzt hat. So nimmt sie auch die Dissonanz- Situation mit ihrer Tochter nicht in ihrem Kern wahr. Bzw. verweist diesen ins Reich ihrer Fantasie („Deine Fantasie war schon immer sehr lebhaft“) und sucht zugleich die Übereinstimmung mit Verbündeten zwecks Abreagierung und Frontenbildung.
&xnbsp; Für Maria, dem bereits als Säugling ausgesetzt, kommt dabei heraus, dass sie sich weder ihrer Gegenwart noch ihrer Vergangenheit sicher ist.
&xnbsp; Was damit eigentlich gemeint ist, kann ein Begriff wie „Gaslighting“ erhellen, der besagt gezieltes Verwirren, um das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung zu erschüttern, und wird im Zusammenhang mit narzisstischen Müttern verwendet. Dazu heißt es (Internet-Forum Kira Cossa): „Es treibt einen förmlich in den Wahnsinn, wenn die eigene Wahrnehmung ständig von der Mutter abgestritten und in Frage gestellt wird. Besonders schlimm ist es deswegen, weil es durch die eigene Mutter geschieht, durch die Person, die einem eigentlich Sicherheit geben sollte“.
&xnbsp; Kinder, die das erkennen, werden von ihren Eltern als „Problemkind“ abgestempelt und geraten in die Rolle des Sündenbocks (s. Kira Cossa). Dies korrespondiert mit einem düsteren Fazit, das im Buch „Mutterwut“ von der Mutter im Hinblick auf ihre Tochter gezogen wird (S. 154): „Wir wissen ja, wie sie ist. Die große Betrübnis, die der Herr uns auferlegt hat. Mit dieser Bürde müssen wir leben.“
&xnbsp; Die Schmerz- und Erkenntnismeidung („Keine Erkenntnis ohne Schmerz!“) der Mutter ist dann auch Ursache für Fehlzuschreibungen. So wird Maria, wenn über ihre Kindheit gesprochen wird, entweder als „freches“ oder als „lustiges“ Kind wahrgenommen.
&xnbsp; Bei näherer Sicht sieht das so aus: Als freches Kind galt sie bei jeder Form von Ungehorsam. Und der fing bei der kleinsten Abweichung zur Mutter an. Das bedeutet: Das, was als „frech“ bezeichnet wurde, war, gelinde gesagt, recht harmlos und nicht eigentlich „frech“. Zum lustigen Kind wird ausgesagt (S. 141 f.): „Sie haben Schimpfwörter zu mir gesagt, weil ich immer rannte und so viel Porzellan zerschlug. Du Pollack! So habe ich an den Bibelspruch immer ein Schimpfwort angehängt und damit die Mutter herzlich zum Lachen gebracht: Der Herr ist mein Hirtpollack. Die Großmutter und der Vater lachten ein wenig leiser“.
&xnbsp; Das Lachen der Mutter sucht in dem Fall zu vertuschen, was von jedem gleich gefühlt werden müsste und von den Anwesenden auch gefühlt wird, nämlich dass die Szene, auch vordergründig, bodenlos traurig ist.
&xnbsp; Alle Fehlinterpretationen haben die Funktion, die Tochter nicht wahrzunehmen, wie sie ist. Mit all dem bildet sich ein geschlossener Kreislauf um sie. Nicht etwa einer der Wahrheit, sondern der einer Scheinwelt.
&xnbsp; Maria ist überaus verletzlich und hoch sensibel. Und bei allem: grundehrlich. So erstarrt sie zuweilen, als sie an ihrer Mutter vorbeigeht, und bekommt kein Wort heraus, und wenn, sehr leise, kaum hörbar. Die Mutter interpretiert (S. 47): „Maria ist wirklich eiskalt. Sie geht vorbei, ohne ein Wort zu einer Mutter zu sagen.“ Dabei weiß sie effektvoll mit Sprache umzugehen, wie Maria nicht entgeht, denn es liegt eine Generalisierung in „einer Mutter“, die besagt, dass die Tochter sich ALLEN Müttern gegenüber so verhalten würde, was wiederum nur von ihrer Person ablenkt.
&xnbsp; So ist Maria immer auch mit Erschütterungen dieser Art befasst, liegt nachts über Stunden, nicht selten bis zum frühen Morgen hin wach, um all das erst einmal zu erkennen, oder geht fast täglich allein in den Wald, um wieder ihren „Normalzustand“ zu erreichen. Das trat von vorneherein an die Stelle, wo eigentlich Unterstützung der Eltern für die Entwicklung ihres Kindes stehen sollte. Briefe, die Maria ihrer Mutter in der Absicht einer Klärung schrieb, wurden von dieser in den Ofen geschmissen.
&xnbsp; Neben Verhaltensweisen wie Wut und „Verbündete zu suchen, zu finden“ ist da ein weiteres Grundverhalten der Mutter, sie erzeugt (S. 47) „das Bild der armen, einsamen Mutter“. Darauf einzugehen, was Maria immer wieder tat, bedeutet jedoch, dass Empathie zur Falle wird. Denn gibt man Empathie, rüstet sich die Mutter gleich wieder zu Preisgabe und Triumph, was nie so bezeichnet werden darf.
&xnbsp; So bildet sich die „Tochterwut“ heran (S. 31): „Die Wut breitete sich in meinem Körper aus und brachte ihn zum Kochen. Ich musste die Bettdecke abwerfen, weil mir immer heißer wurde, und lag glühend vor Wut im Dunkeln. Wut, weil ich mich nicht wehren konnte, weil alles, was ich tun oder sagen konnte, meiner Mutter bestätigen würde, dass ich krank war, Wut, weil mir niemand glauben würde, wenn ich mich verteidigte, sondern alle bestätigt sähen, was meine Mutter sagte, Wut, weil ich nichts tun konnte außer abwarten, bis ich wieder abkühlen und das Gehirn in seiner Barmherzigkeit die Worte mit Vergessen bedecken würde. Tagsüber raste mein Herz vor Angst, nachts raste es vor Wut.“
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Über solches Geschehen wurde Maria 41 Jahre alt, da sie sich nach einem Studium darauf einließ, sich Grundstück und Haus mit Wohnrecht der Eltern überschreiben zu lassen (was als eine Art Köder fungiert hatte, um sie an sich zu binden).
&xnbsp; Und die unausweichliche Frage im Hinblick auf Maria lautet: Wie ist das möglich, wie hält jemand so etwas aus?
&xnbsp; Diese Fragen werden von ihr zum Teil selbst beantwortet. Sie gipfeln in dem Selbst-Vorwurf, wenigstens 10 Jahre in ihrem Leben „verschenkt“ zu haben.
&xnbsp; Zu rechtfertigen, ohne Selbstbeteiligung, ist dies nicht. Doch gibt es Gründe, mögen es schwache oder starke sein, warum es so lange gebraucht hat, um sich von dieser Situation zu lösen: fehlendes Selbst-Vertrauen, Unselbstständigkeit und, nach dem Psychologen Seligman, „Erlernte Hilflosigkeit“ gehören sicher dazu.
An dieser Stelle kann gesagt werden, dass es sich bei dem Text angeblich um einen Krimi handelt. Das kann, weil der Begriff sein Spektrum hat, damit gerechtfertigt werden, dass das Geschehen auf einen Mord, nämlich an der Mutter, hinausläuft. So setzt die Erzählung in der forensischen Psychiatrie ein, in der sich Maria H. auf die Gerichtsverhandlung zu besinnen hat. Wenn man schon eine Einordnung vornehmen will, passt für das Vorliegende „psychologischer Roman“ / „psychologische Erzählung“ weit eher als „Krimi“. Denn: Der Text besteht aus einer großen Fülle von Stellen, in denen Empfindungen und innere Handlungen eine Sprache erhalten, die sicher vielen bis dahin unbewusst, wortlos blieben.
&xnbsp; Zugleich entbehrt das Buch nicht gerade der Spannung. Dabei ist es einfach anrührend, wie eigensinnig und, nicht nur aus ihrer Perspektive, richtig Maria H. in ihren Erwägungen fortschreitet und „ihre Welt“ ausfaltet. Ihre „Projekte“ heißen, so ließe es sich vielleicht sagen, „zu Gerechtigkeit zu kommen“ und „sich ins Leben zu befreien“.
&xnbsp; Das Projekt „Gerechtigkeit“ muss deswegen schwierig ausfallen, weil Maria ihr einziger Zeuge ist. Denn sie lebte mit ihren Eltern in einer geschlossenen Welt ohne Korrektiv. Aus der Perspektive der Mutter könnte, nach den Erwägungen Marias, folgendes Wunsch-Bild gegriffen haben (S. 161):
&xnbsp; „Eine Mutter mit einem Kind sitzt im Paradiesgarten, das Kind lächelt und entfacht auf dem Gesicht der Mutter ein Lächeln, der Himmel verdunkelt sich nicht, der Apfel der Sünde wird nicht gegessen, das Kind wird nicht größer, es windet sich nicht aus den Armen, es lernt nicht wegzulaufen und nicht Nein zu sagen, die Mutter hält es für immer und wärmt sich an ihrem gemeinsamen Lächeln, und niemand ist da, der den Fehler im Bild bemerkt oder die beiden aus ihrer paradiesischen Starre herausreißt.“
Maria fühlt sich auf der psychiatrischen Station zunächst wohler als im Nahbereich ihres Elternhauses, weil man es dort „nicht gut meint“, wogegen sie nachvollziehbar „allergisch“ wurde. Und dort, auf der psychiatrischen Station, etwas möglich ist, was im Umgang mit den Eltern nicht möglich war (S. 147): „einfach da sein“. Doch bald merkt sie, dass im entscheidenden Schnittpunkt, so verschieden die Welten sind, kein Unterschied besteht: in beiden Welten wird man stets gezwungen. So erhält Maria, wie jede/r andere, bei jeder Art von Folgsamkeit ggf. einen „Smilie“ in ihrer Akte, z.B. wenn sie farbenfrohe Bilder malt oder täglich die „Tablette des Vergessens“ schluckt. Andernfalls formieren sich Schwestern und Oberarzt bedrohlich gegen den jeweils Einzelnen. Dass auch in der Psychiatrie Surrogate vorherrschen, Scheinwelten appliziert werden, weil „dem Patienten“ nicht die volle Zeit gegeben werden kann, erkennt Maria, dazu den entscheidenden Fehler im System, warum die „Therapien“ gar nicht wirksam sein können (S. 156):
&xnbsp; „Sie glauben, dass man eine Mutter mit Chemikalien vertreiben kann, bis das Abbild ihres Gesichts vor dem inneren Auge verschwimmt und nur noch Farben und Empfindungen vor einem herumwabern. Aber sobald die Wirkung nachlässt, kommt die Mutter zurück und ihre Sätze hacken unerbittlich auf mich ein wie der Schnabel des Spechts, der dem kranken Baum den Rest gibt.“
&xnbsp; Was Maria tatsächlich an den Rand eines „Tobsuchtsanfalls“ bringt, ist die Diagnose oder Aspekte von ihr. Aber nicht, weil sie so „uneinsichtig“ wäre, sondern die Diagnose so ungerecht ist. Denn wiederum läuft alles auf „Personalisierung“ hinaus, wiederum gehen die Verursacher prinzipiell frei. Schließlich handelte es sich in der Familie um ein Kommunikationsproblem, das mit Kommunikation „zu behandeln“ gewesen wäre und auch weiterhin Ausgangspunkt bleibt.
&xnbsp; Da niemand Maria glaubt und Beweise fehlen, bleiben alle Personen um sie herum im Kern – Gerechtigkeit betreffend – leer für sie; so entsteht folgende Vision einer Beweislage (S. 155):
&xnbsp; „Ich wünschte mir, meine Mutter würde im Fegefeuer sitzen. Nicht um zu schmoren, es braucht nicht einmal heiß zu sein, sondern um sich Tonbandaufnahmen all der Sätze über mich anzuhören, die sie in all den Jahren in ihr Telefon geraunt hat. Mit gefesselten Füßen, damit sie nicht weglaufen kann, mit gefesselten Händen, damit sie sich nicht die Ohren zuhalten kann, und mit einem Knebel im Mund, damit sie sich nicht herausreden kann. Und müsste am Ende vor dem gerechten Richter eingestehen, dass sie Unheil angerichtet hat mit ihrer Zunge.“
Mit Entgeisterung wird, im Elternhaus wie auf der psychiatrischen Station, das Schreiben gesehen. Doch das Schreiben, das allmähliche Erkennen und es präzis zu formulieren, bewirkt den Fortschritt. In diesem Prozess erkennt Maria (S. 160), in dem Fall mit Nietzsche als Ausgangspunkt:
&xnbsp; „In unserem Haus herrschte die Umwertung aller Werte. Ich war nicht krank, sondern erstmals gesund. Ich war nicht verrückt, sondern erstmals normal. Ich hatte nicht die Sprache verloren, sondern den Frieden gewonnen. Ich sollte gar nichts anderes sagen als die drei Wörter ja, gut und danke, ich hatte nie etwas anderes sagen sollen.“
&xnbsp; Sowohl Protagonistin Maria als auch der Schreibstil der Autorin haben mich zuweilen an Kafka erinnert. Das wundert nicht ganz, weil Kafka Erwähnung findet. So heißt es (S. 106 f.): „Niemand brauchte mir zu erklären, warum Kafka an einem Morgen als Ungeziefer erwacht war, ich wusste es seit meiner Geburt.“
&xnbsp; Marias Äußerung (S. 158) „Aber mein Text ist mein Messer [...], mit dem ich die Nabelschnur zu meiner Mutter durchschneide, die ich einundvierzig Jahre hinter mir hergeschleppt habe“ zitiert zunächst abgewandelt Hans Bender („Mein Gedicht ist mein Messer“), kann aber auch an den Kafka-Satz erinnern: „Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“.
&xnbsp; Oder (S. 163): „Mein Leben war eine Sackgasse, aus der es keinen Ausweg gab, selbst den Eingang gab es nicht mehr, ich konnte allenfalls an den Mauern kratzen.“ Dass der Eingang verschwunden ist, und die Protagonistin sich in einem Labyrinth, solange sie drinbleibt, ohne Ausgang (wiss.-psychologisch: in einem „Dilemma ohne Lösungen“) befindet, könnte direkt einem Text von Kafka entnommen sein. Schließlich ist es die geschundene Existenz von Anfang an, bei Maria im Hinblick auf ihre Mutter, bei Kafka in Bezug auf seinen Vater. Auch die Gerichts-Situation, die Bestandteil der Text-Struktur ist, gehört zum Kafka-Sujet.
&xnbsp; Das Schreiben nimmt somit seinen Ausgangspunkt bei der Angst. Es ist eine Angst, die verstanden sein will und deswegen nicht verstanden werden kann, weil sie fühlbar werden müsste. Die Angst ist auch das Motiv, es genau zu nehmen; man nimmt etwas ganz genau, wenn man massiv am Leben gehindert wird. So beschreibt und analysiert Maria genau die Auswirkungen dessen, was sich ereignet, auf Psyche und Körper.
&xnbsp; Schreiben bei Maria H. ist eine Suchbewegung nach der nicht gegebenen Würde. Und zugleich suggeriert jede Zeit, in der jemand lebt, dass Suche nach Wahrheit angeblich problematisch, gar „Unrecht“ ist. So hat auch Maria festzustellen (S. 54): „Erstaunlich, dass man mit geschriebenen Worten das Herz so zum Rasen bringen kann, dass es bis in die Hand hinein pocht und den Kugelschreiber Haken schlagen lässt.“ Doch in großer Geduld, mit großer Disziplin setzt sie Wort um Wort und erweist sich dabei als äußerst lösungsorientiert.
&xnbsp; Bestürzend die „Mentalitäts-Unterschiede“ zwischen Mutter und Tochter. Sie scheinen in allem oder vielem ein Gegenteil. So kennzeichnet das Erleben der Tochter, dass jeder Gegenstand, mit dem sie Umgang hat, zu ihrem Intimbereich zu gehören scheint, so z. B. als die Mutter ihre „ausgefransten Unterhemden und Unterhosen“ auf einem Wäscheständer aufhängt (S. 70): „Es fühlte sich an, wie wenn sie in meinen verborgensten Körperteilen herumfingerte, ich hätte am liebsten geschrien und sie ihr aus der Hand gerissen, aber wieder stand ich nur verängstigt da, noch verängstigter als an jedem anderen Tag, denn ich stand da ohne Worte.“
&xnbsp; Maria verfügt über eine zum Teil magische, animistische Weltsicht, also über eine Wahrnehmung, die auch Anorganischem Leben einhaucht. So registriert und denkt Maria (S. 21): „Die Jacken an der Garderobe hingen reglos und stumm an den Haken und hätten nichts gesagt, selbst wenn ich sie gefragt hätte. Auf den untersten Treppenstufen lag der Schal, den ich beim Hinausgehen umgelegt und dann wieder abgeworfen hatte, weil der März sein Versprechen hielt und es jeden Tag wärmer wurde.“ Den Jacken werden die Attribute „reglos“ und „stumm“ zugeschrieben und festgestellt wird, dass auch sie, wie die Mutter oder sonst jemand, nicht antworten. Währenddessen hält der personifizierte März „sein Versprechen“, was aber mit einer Fehleinschätzung der Kleidung verbunden wird. So schleicht sich selbst in kleinste Handlungen leise Verzweiflung ein, grundiert von tiefer Einsamkeit oder dem Gefühl, allein gelassen zu werden, ja völlig allein zu sein. Was bei der Mutter als Wut daherkommt, trägt die Tochter als tiefe Trauer aus. Das heißt: Die Tochter trägt für ihre Mutter die Trauer aus.
&xnbsp; Im Wald erscheint ein morsches Holzstück wie ein „verwestes Tier mit grausam verbogenen Beinen, aus einer aufgerissenen Baumwurzel quoll gelber Eiter, am Stamm einer Birke hatte sich eine Krebsgeschwulst ausgestülpt“ (S. 105), es sind Todesbilder der Seele.
&xnbsp; Maria verfügt überdies über einen feinen Humor, der allerdings, im Gegensatz zu ihrer Mutter, nicht allzu vital daherkommt, sondern das Groteske, Düstere und Aberwitzige erfasst. So ist zu hören (S. 23): „Meine Mutter sieht mittlerweile aus wie Beethoven, der wilde Beethoven auf dem späten Porträt, der an eine Naturkatastrophe erinnert.“ Solche Bilder haben etwas Erleichterndes.
&xnbsp; Bei allem versucht Maria, über einfache Handlungen ins Leben zu gelangen. Wie es gewesen wäre, wenn das Leben auf dem Grundstück gut verlaufen wäre, wird von ihr eindrücklich und mit bestem Realitätssinn festgehalten. Auch erkennt sie, dass und wie sie sich hätte wirksamer verhalten können, ja müssen. Es kam wohl alles so, stellt sie fest (S. 134), „weil ich mich nicht besser gewehrt habe als eine Glockenblume im Wind“. Doch ohne Fürsprecher (ein Wort, das von Maria gebraucht wird und ebenfalls bei Kafka zentral ist), ohne Mann und Kinder, die ihr einmal zur Seite gestanden hätten (auch hier Analogien zu Kafkas Protagonisten), bekam sie es nicht hin. Und weiß ganz, was ihr von vorneherein gefehlt hat (S. 90): „Ich hätte mir eine Mutter vorgestellt, die nicht auf der Seite des Richtergotts stünde und ihm helfen würde, das Schwert zu führen, sondern auf die andere Seite hinüberspränge und den geplagten Menschen in den Arm nähme und mit ihm weinen würde, weinen über die Welt und ihre Unverständlichkeit und Ungerechtigkeit, einfach weinen, bis alle Tränen draußen sind und man wieder froh werden kann.“
&xnbsp; So kommt es zur Tat bei einem Menschen, der sonst „niemandem etwas tut“, als er in einer hoch aufgeladenen Situation, in der die Mutter einfach nicht ablässt, angefasst wird. Es entlädt sich ein Stau, der ein ganzes Leben enthält und stets vor Lüge und Schönfärberei anzuhalten hatte.
&xnbsp; Das Angefasstwerden war das, was zu viel war. Maria wurde zwar ein Leben psychisch unangenehm angefasst, aber der körperliche Kontakt löst letztlich aus, dass sie für Momente in den Wahnsinn eines Mordes abgleitet.
&xnbsp; Dabei war für Maria das Ziel, wie an anderer Stelle von ihr ausgesagt wird, einem Menschen „auf Augenhöhe“ gegenüberzustehen und ihm, im gegenseitigen Respekt, zum Abschied die Hand geben zu können.
Das Buch „Mutterwut“ von Marianne Bunes handelt von einem Kommunikationsdebakel, das sicher extrem ist, aber in Varianten und Abstufungen viele Familien betrifft von der Nachkriegszeit bis heute und weiterhin. Es ist ein Buch, das zur Kommunikation anregen und heilsam sein kann, und insbesondere die tauben und seelenlosen Stellen des sog. Kleinbürger- und Bürgertums (und seinen Transformationen), in seiner vollen Bedeutung, freilegt.
&xnbsp; Schließlich, so kann weitergedacht werden, gehören Kommunikationslosigkeit und „Sprachverlust“ (Sprachreduktion) zu den Implikationen ganzer Gesellschaften. Und die heutige ist, bei noch forciertem (Ablenkungs-) Gerede (wie es Heidegger nannte), eben nicht anders. Nehmen wir quer durch alle Anforderungen und Schichten die unterlegten Strukturen fast aller Berufstätigkeiten. Bei aller Komplexität: Wird eigentlich mehr verlangt, als gegenüber dem jeweiligen Vorgesetzten zu sagen: „ja“, „danke“ und „gut“?
&xnbsp; Und: Wie viel Mörderisches wird geboren, wenn von vorneherein feststeht, dass es nicht erwünscht ist, den jeweiligen Menschen an sich zu sehen. Sondern dies, in einem angeblich guten Klima, nur vorgegaukelt wird. Allen, denen eine Ahnung von Echtheit blieb, dürften somit Worte wie diejenigen von Maria in Bezug auf ihre Mutter aus dem Herzen sprechen (S. 153):
&xnbsp; „Einundvierzig Jahre habe ich nach dem Tonfall gesucht, in dem ein Nein für sie akzeptabel gewesen wäre. Aber diesen Tonfall gab es nicht. Vielleicht haben sich die Wörter deshalb im Keller meiner Kehle verschanzt, weil sie sich nicht mehr krümmen und buckeln wollten.“
&xnbsp; So kam in dieser Geschichte heraus, was auch vielerorts, in den unterschiedlichsten Kontexten herauskommt, sich verdeckt ereignet mit extrem hoher Dunkelziffer (S. 130): „Wenn man nicht mehr Nein sagen kann, will man auch nicht mehr Ja sagen.“
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Ralf Willms
Lyrik
Gedichte, Gewalt I, II
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