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Marianne Bunes
Mutterwut

Ein psychologischer Roman
&xnbsp; Kritik
&xnbsp; Marianne Bunes
Mutterwut
Kriminalroman
180 Seiten
Ulrike Helmer Verlag 2015


Wer das Buch „Mutterwut“ von Marianne Bunes umfänglich und in seiner ganzen Tiefe versteht, so dachte ich bald, versteht, bei aller Spezifik des Vorliegenden, auch Grundlegendes zur „Geschichte der Mentalität“ in der Bundes­republik Deutsch­land, und zwar aus der Zeit von vor 1945 bis heute hin. Im Zentrum des Buches steht Maria H., von „Sprachver­lust“ getroffen, der­gestalt, dass sich ihr Sprach­vermögen fortan auf die Wörter be­schränkt: „Ja“, „danke“ und „gut“.
&xnbsp; Der Sprach­verlust hat zunächst wesent­lich mit ihrer Mutter zu tun, doch wer ist ihre Mutter?
&xnbsp; Die Kindheit verbrachte sie in der NS-Diktatur und wurde dort, wie so viele, mit einem im Grunde nicht ver­arbeit­baren Schmerz konfrontiert. Ent­scheidend im Weiteren sind die Schluss­folge­rungen, die daraus gezogen wurden. Die Mutter von Maria gehörte zu jenen, die sich dafür entschieden, das erfahrene „Dunkel“ aus ihrem Leben zu ver­ban­nen. Das ist ebenso ver­ständ­lich, wenn jemand ein solches Übermaß erlei­den musste, wie proble­matisch, wenn es zur Voraus­setzung hat, sich seine Erfah­run­gen und die Zeit, in der man lebte, nicht genau und kri­tisch ange­sehen sowie ent­sprechend aus­ge­wertet zu haben. So ist man bei der Thema­tik der sog. „Nach­kriegs­bewälti­gung“ bzw. beim sowohl indi­viduel­len wie kol­lektiven Phäno­men der „Nach­kriegs-Ver­drängung“. In der Familie von Maria nimmt sie folgende Gestalt an:
&xnbsp; Die Mutter, das kann zunächst gesagt werden, ordnet sich dezidiert dem Guten zu. Und hat sehr genaue Vor­stel­lungen davon. Es führt in den – vielfach exem­plari­schen – Schilde­rungen des Buches auch des­wegen zur Problematik, weil die Vor­stel­lungen so fest­gefügt sind, dass sich auf das neue Lebe­wesen, die Tochter, nicht einge­lassen wird. Die Vorstellungen sind aber nicht nur fest­gefügt, sondern auch aus­schlie­ßend. So lässt sich sagen: Alles, was nur in irgend­einer Art „dunkel“ ist, ist tabu, alles, was nicht froh und fröhlich ist, ist tabu, und alles, das nicht einem sehr bestimmten Ordnungs­begriff entspricht, ist tabu.
&xnbsp; Vor diesem Hinter­grund fiel Marias Reaktion aus (S. 99): „Ich war schon als Kind erleichtert, wenn sich der Himmel verdunkelte und die Regentropfen aufs Dach prallten, weil es mich der Pflicht enthob, fröhlich zu sein.“
&xnbsp; Die Mutter, die eine anerkannte Stellung im Dorf innehat, versteht es, an vielen Stellen Menschen für sich ein­zu­nehmen, die ihr dann gut gesonnen ent­ge­gen­treten. Aller­dings erzählte sie (S. 152) „nicht jedem das Gleiche, sondern jedem genau das, dem er zustim­men würde“. Das bedeutet: Es handelt sich bei den Kon­takt­nahmen und Bezie­hungen der Mutter vielfach nicht um wieder­keh­rend zu­ver­lässige, ver­bind­lich zu nehmende Äuße­rungen, son­dern, wie land­läu­fig gesagt wird: Sie „redet den Leuten nach dem Mund“, um Zustim­mung und Aner­kennung des Jeweiligen zu bekommen.
&xnbsp; Dies geschieht nicht selten auf Kosten der Tochter. Die Mutter stimmt mit an­dern in eine Klage ein, wie dunkel, trau­rig und eigen­sinnig ihre Tochter doch sei, die einfach „nichts an­nehme“ und so die ganze Familie betrübe. Es wird nicht nach den Gründen gefragt. Es wird sich nicht dafür inter­es­siert, warum denn das neue Lebe­wesen, die Tochter, so ist. An­stelle dessen schart die Mutter Ver­bündete um sich und geht regel­mäßig so weit, damit in schärfs­te Konkur­renz zu ihrer Tochter zu gehen, indem sie sich, mit Kalkül, z.B. Marias liebster Freundin Gundula gegen­über betont groß­räumig zeigt (fehlendes Geld wird geborgt oder gar ver­schenkt) – sodass der Kontakt in ein gewisses Ab­hängig­keits­ver­hält­nis gerät bzw. von vorne­herein in Dankbarkeit mündet.
&xnbsp; Marias Mutter ist auf allen Ebenen, wie sie meint, mit „dem“ Guten ver­bunden. Da ihre Tochter sich dem „nicht unter­ordnet“, ist sie, nach Schwarz­weiß­logik, das Gegen­teil. Maria verfügt indessen über die analy­tischen Fähig­keiten, dies einer genaueren Prüfung zu unter­ziehen:
&xnbsp; Da ist das Verhältnis zu Gott. Dazu befindet Maria (S. 157): „Ganz gleich, was du tun oder sagen oder nicht tun und nicht sagen wirst, es wird ihren Glauben an Gott und sich selbst noch fester machen. In den letzten zehn­einhalb Jahren war er zu einem Granit­block geworden.“ So wird selbst Gott gegen die Tochter ausgespielt. Z. B. durch alt- und neu­testa­ment­liche Äuße­rungen wie (S. 157): „Ihr werdet gehasst werden von jedermann um meines Namens willen. / Und es wird die Tochter wider die Mutter sein. / Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Haus­genossen sein. / Lass sich nicht über mich freuen, die mich ohne Grund hassen.“
&xnbsp; Ein oder der Kern kann erfasst werden in jenem „ohne Grund“, das die Mutter auf sich selbst bezieht. Sie sieht offen­sicht­lich keinen Grund, der mit ihr zu tun hätte, für die schlechte Befind­lich­keit ihrer Tochter. So erweist sich, dass etwas überaus Ent­schei­dendes vollständig fehlt, jedenfalls wird es nie wirksam: Selbst-Reflexion.
&xnbsp; Die Gläubigkeit der Mutter wird verknüpft mit „Hilfsaktionen“. Dies passt insofern ins Bild, als dass es auch da nie um Selbst-Reflexion geht, sondern um Menschen in einer geschwächten Position, deren Verhalten sich auf Dankbarkeit beschränkt und sich darauf zu beschränken hat. So bildet sie zusammen mit ihrem Mann eine Art „Helfer­team“. Der Mann, der kaum Worte macht, schlägt sich schweigend auf die Seite seiner Frau. Bekäme aber auch die größten Schwierig­keiten, wenn er es nicht täte. „So wurden sie (S. 117) ein Helferteam in Gottes Namen und brachten neben ihren Hilfe­leistungen immer das Wort.“
&xnbsp; So ergreift die Mutter immer gleich das Wort, kommt dabei auf „alles Mögliche“, aber nie, in dem Sinne, auf sich selbst zu sprechen. Und auch nie darauf, der Tochter einmal eine Frage in ernst gemeinter Absicht zu stellen. Heißt, einmal eine Antwort zu erwarten bzw. ganz aufzunehmen, die wirklich von ihr kommt. Anstelle dessen weiß sie „alles von vorne­herein“ und ist empört, oft wutentbrannt darüber, dass die Tochter „nicht mitspielt“, „undankbar“ sei.
&xnbsp; Dabei wähnt sie sich uneingeschränkt positiv. Doch Maria sieht (S. 115): „Sie beschönigte ihre Kindheit, aus sechs Jahren Kriegselend und drei Jahren Nachkriegselend machte sie eine heile Welt, in der immer Sommer war […] Wenn sie zugegeben hätte, dass es ihr gescha­det hatte, hätte sie zuge­geben, dass sie beschädigt war; eine Mutter mit Schaden war. Das durfte nicht sein, also wurde der Schaden auf mich abge­wälzt.“ Bzw. auf alle, die sich „anboten“.
&xnbsp; Auch die Schrecknisse der Zeit, in der die Mutter heranwuchs, werden nicht als solche wahrgenommen (S. 143): „Den Juden sei recht geschehen, wusste die Mutter, sie wurden bestraft, weil sie sich nicht bekehren wollten.“
&xnbsp; So wird „Bekehrung“ mit – von einem „christlichen Gott“ ausgehenden – „Gutsein“ gleichgesetzt; wer sich widersetzt, wird im Zweifels­fall der Ver­nich­tung preis­gegeben. So steht man vor dem Wider­spruch einer Person, die einer­seits vorgibt (und dafür auch vieles tut), absolut gut (und ohne Schuld) zu sein, und andererseits den Holocaust recht­fertigt.
&xnbsp; Würde man ihr dies sagen, wäre wieder „alles anders“, was nur zu weiterer Ver­wirrung beiträgt.
&xnbsp; Was bei solchen Wider­sprüchen für die Familie, insbeson­dere für die Tochter heraus­kommt, ist eine Form von Ab­solu­tismus, der dem­jenigen in einer Dik­tatur nicht un­ähnlich ist. Ersicht­lich wird dies an den Reak­tionen der Tochter:

Maria hat vor allem Angst. So fühlt und denkt sie z.B. Fol­gendes, als sie sich in der Eltern-Wohnung aufhält, als die Eltern nicht da sind (S. 133):
&xnbsp; „Es war seltsam, durch die Wohnung meiner Eltern zu gehen. Wie ein Spaziergang auf den Gleisen bei offener Schranke; man weiß, dass kein Zug kommen kann, aber man glaubt es nicht, die Gleise strahlen Gefahr aus.“
&xnbsp; Oder: Als Maria von einer kleinen Reise zurückkehrt, hat sie Folgendes wahr­zunehmen (S. 127): „Vom Bahnhof nach Hause wurde ich immer lang­samer, die Plastiktüte mit dem Schal schnitt mir in die Hand, ich hielt sie ein Stück von mir weg, damit sie bei meinen Schritten nicht raschel­te und niemand mich hörte. Mich wird wohl bis an mein Lebensende jedes Geräusch, das ich mache, in Schrecken versetzen.“

Dialoge mit der Mutter verlaufen so (S. 48):
&xnbsp; „Wann soll ich denn geschimpft haben, meint sie herablassend. Ich habe gar nicht über dich geredet. Da hast du dich wohl verhört.
&xnbsp; Ich habe aber genau meinen Namen gehört.
&xnbsp; Ach so!, wird sie noch herablassender. Das war doch alles nur humorvoll gemeint. Du nimmst immer alles viel zu ernst.
&xnbsp; Es hat aber wütend geklungen.
&xnbsp; Ach Quatsch! Jetzt klingt sie abfällig. Das hast du dir nur eingebildet, weil du krankhaft alles auf dich beziehst.“

Das Projizieren und Leugnen, so kann unter anderem geschlossen werden, hat damit zu tun, dass die Mutter es nicht erträgt, wenn etwas von ihrem idealisierten Selbst-Bild abweicht. Auch und gerade hier besteht ein signi­fikanter Zusammen­hang damit, dass sie dem Schmerz ausweicht, sich nie so, wie es wünschens­wert gewesen wäre, mit ihrem Schmerz aus­einander­gesetzt hat. So nimmt sie auch die Dissonanz-Situa­tion mit ihrer Tochter nicht in ihrem Kern wahr. Bzw. verweist diesen ins Reich ihrer Fantasie („Deine Fanta­sie war schon immer sehr lebhaft“) und sucht zu­gleich die Über­ein­stim­mung mit Verbün­deten zwecks Ab­rea­gierung und Fronten­bildung.
&xnbsp; Für Maria, dem bereits als Säugling ausgesetzt, kommt dabei heraus, dass sie sich weder ihrer Gegenwart noch ihrer Vergangen­heit sicher ist.
&xnbsp; Was damit eigentlich gemeint ist, kann ein Begriff wie „Gaslighting“ erhellen, der besagt gezieltes Verwirren, um das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung zu erschüt­tern, und wird im Zusammenhang mit narzissti­schen Müttern verwendet. Dazu heißt es (Internet-Forum Kira Cossa): „Es treibt einen förmlich in den Wahnsinn, wenn die eigene Wahr­nehmung ständig von der Mutter abgestritten und in Frage gestellt wird. Beson­ders schlimm ist es deswegen, weil es durch die eigene Mutter geschieht, durch die Person, die einem eigentlich Sicherheit geben sollte“.
&xnbsp; Kinder, die das erkennen, werden von ihren Eltern als „Problemkind“ abge­stempelt und geraten in die Rolle des Sündenbocks (s. Kira Cossa). Dies korrespon­diert mit einem düsteren Fazit, das im Buch „Mutter­wut“ von der Mutter im Hinblick auf ihre Tochter gezogen wird (S. 154): „Wir wissen ja, wie sie ist. Die große Betrübnis, die der Herr uns auferlegt hat. Mit dieser Bürde müssen wir leben.“
&xnbsp; Die Schmerz- und Erkenntnismeidung („Keine Erkenntnis ohne Schmerz!“) der Mutter ist dann auch Ursache für Fehlzuschreibungen. So wird Maria, wenn über ihre Kindheit gesprochen wird, entweder als „freches“ oder als „lustiges“ Kind wahrgenommen.
&xnbsp; Bei näherer Sicht sieht das so aus: Als freches Kind galt sie bei jeder Form von Unge­horsam. Und der fing bei der kleinsten Abweichung zur Mutter an. Das bedeutet: Das, was als „frech“ bezeichnet wurde, war, gelinde gesagt, recht harmlos und nicht eigentlich „frech“. Zum lustigen Kind wird ausgesagt (S. 141 f.): „Sie haben Schimpf­wörter zu mir gesagt, weil ich immer rannte und so viel Porzellan zer­schlug. Du Pollack! So habe ich an den Bibel­spruch immer ein Schimpfwort ange­hängt und damit die Mutter herzlich zum Lachen gebracht: Der Herr ist mein Hirt­pollack. Die Großmutter und der Vater lachten ein wenig leiser“.
&xnbsp; Das Lachen der Mutter sucht in dem Fall zu vertuschen, was von jedem gleich gefühlt werden müsste und von den Anwesen­den auch gefühlt wird, nämlich dass die Szene, auch vordergründig, bodenlos traurig ist.
&xnbsp; Alle Fehl­inter­preta­tionen haben die Funktion, die Tochter nicht wahr­zunehmen, wie sie ist. Mit all dem bildet sich ein geschlos­sener Kreislauf um sie. Nicht etwa einer der Wahrheit, sondern der einer Scheinwelt.
&xnbsp; Maria ist überaus verletzlich und hoch sensibel. Und bei allem: grundehrlich. So erstarrt sie zuweilen, als sie an ihrer Mutter vorbeigeht, und bekommt kein Wort heraus, und wenn, sehr leise, kaum hörbar. Die Mutter inter­pretiert (S. 47): „Maria ist wirklich eiskalt. Sie geht vorbei, ohne ein Wort zu einer Mutter zu sagen.“ Dabei weiß sie effekt­voll mit Sprache umzugehen, wie Maria nicht entgeht, denn es liegt eine Genera­lisierung in „einer Mutter“, die besagt, dass die Tochter sich ALLEN Müttern gegenüber so verhalten würde, was wiederum nur von ihrer Person ablenkt.
&xnbsp; So ist Maria immer auch mit Erschütterungen dieser Art befasst, liegt nachts über Stunden, nicht selten bis zum frühen Morgen hin wach, um all das erst einmal zu erkennen, oder geht fast täglich allein in den Wald, um wieder ihren „Normal­zustand“ zu erreichen. Das trat von vorne­herein an die Stelle, wo eigentlich Unterstützung der Eltern für die Entwicklung ihres Kindes stehen sollte. Briefe, die Maria ihrer Mutter in der Absicht einer Klärung schrieb, wurden von dieser in den Ofen geschmissen.
&xnbsp; Neben Verhaltensweisen wie Wut und „Verbündete zu suchen, zu finden“ ist da ein weiteres Grundverhalten der Mutter, sie erzeugt (S. 47) „das Bild der armen, einsamen Mutter“. Darauf einzu­gehen, was Maria immer wieder tat, bedeutet jedoch, dass Empathie zur Falle wird. Denn gibt man Empathie, rüstet sich die Mutter gleich wieder zu Preisgabe und Triumph, was nie so bezeichnet werden darf.
&xnbsp; So bildet sich die „Tochterwut“ heran (S. 31): „Die Wut breitete sich in meinem Körper aus und brachte ihn zum Kochen. Ich musste die Bettdecke abwerfen, weil mir immer hei­ßer wurde, und lag glühend vor Wut im Dunkeln. Wut, weil ich mich nicht wehren konnte, weil alles, was ich tun oder sagen konnte, meiner Mutter bestätigen würde, dass ich krank war, Wut, weil mir niemand glauben würde, wenn ich mich vertei­digte, sondern alle bestätigt sähen, was meine Mutter sagte, Wut, weil ich nichts tun konnte außer abwarten, bis ich wieder abkühlen und das Gehirn in seiner Barmherzigkeit die Worte mit Vergessen bedecken würde. Tagsüber raste mein Herz vor Angst, nachts raste es vor Wut.“
&xnbsp; Über solches Geschehen wurde Maria 41 Jahre alt, da sie sich nach einem Studium darauf einließ, sich Grund­stück und Haus mit Wohn­recht der Eltern über­schreiben zu lassen (was als eine Art Köder fun­giert hatte, um sie an sich zu binden).
&xnbsp; Und die unausweichliche Frage im Hinblick auf Maria lautet: Wie ist das möglich, wie hält jemand so etwas aus?
&xnbsp; Diese Fragen werden von ihr zum Teil selbst beant­wortet. Sie gipfeln in dem Selbst-Vorwurf, wenigstens 10 Jahre in ihrem Leben „verschenkt“ zu haben.
&xnbsp; Zu rechtfertigen, ohne Selbst­betei­ligung, ist dies nicht. Doch gibt es Gründe, mögen es schwache oder starke sein, warum es so lange gebraucht hat, um sich von dieser Situation zu lösen: feh­lendes Selbst-Ver­trauen, Un­selbst­ständig­keit und, nach dem Psycho­logen Seligman, „Erlernte Hilf­losig­keit“ gehören sicher dazu.

An dieser Stelle kann gesagt werden, dass es sich bei dem Text angeb­lich um einen Krimi handelt. Das kann, weil der Begriff sein Spek­trum hat, damit gerecht­fer­tigt werden, dass das Geschehen auf einen Mord, nämlich an der Mutter, hinaus­läuft. So setzt die Erzäh­lung in der foren­sischen Psychia­trie ein, in der sich Maria H. auf die Gerichts­verhand­lung zu besinnen hat. Wenn man schon eine Ein­ordnung vornehmen will, passt für das Vorliegende „psychologischer Roman“ / „psycho­lo­gische Erzäh­lung“ weit eher als „Krimi“. Denn: Der Text besteht aus einer großen Fülle von Stellen, in denen Empfin­dun­gen und innere Handlungen eine Sprache erhalten, die sicher vielen bis dahin unbewusst, wortlos blieben.
&xnbsp; Zugleich entbehrt das Buch nicht gerade der Spannung. Dabei ist es einfach anrührend, wie eigensinnig und, nicht nur aus ihrer Perspektive, richtig Maria H. in ihren Erwägungen fortschreitet und „ihre Welt“ ausfaltet. Ihre „Projekte“ heißen, so ließe es sich vielleicht sagen, „zu Gerechtigkeit zu kommen“ und „sich ins Leben zu befreien“.
&xnbsp; Das Projekt „Gerechtigkeit“ muss deswegen schwierig ausfallen, weil Maria ihr einziger Zeuge ist. Denn sie lebte mit ihren Eltern in einer geschlossenen Welt ohne Korrektiv. Aus der Perspektive der Mutter könnte, nach den Erwägungen Marias, folgendes Wunsch-Bild gegriffen haben (S. 161):
&xnbsp; „Eine Mutter mit einem Kind sitzt im Paradiesgarten, das Kind lächelt und entfacht auf dem Gesicht der Mutter ein Lächeln, der Himmel ver­dunkelt sich nicht, der Apfel der Sünde wird nicht gegessen, das Kind wird nicht größer, es windet sich nicht aus den Armen, es lernt nicht wegzulaufen und nicht Nein zu sagen, die Mutter hält es für immer und wärmt sich an ihrem gemein­samen Lächeln, und niemand ist da, der den Fehler im Bild bemerkt oder die beiden aus ihrer paradie­sischen Starre herausreißt.“

Maria fühlt sich auf der psychiatrischen Station zunächst wohler als im Nahbereich ihres Elternhauses, weil man es dort „nicht gut meint“, wogegen sie nachvollziehbar „allergisch“ wurde. Und dort, auf der psychiatrischen Station, etwas möglich ist, was im Umgang mit den Eltern nicht möglich war (S. 147): „einfach da sein“. Doch bald merkt sie, dass im ent­schei­denden Schnittpunkt, so verschie­den die Welten sind, kein Unterschied besteht: in beiden Welten wird man stets gezwungen. So erhält Maria, wie jede/r andere, bei jeder Art von Folg­samkeit ggf. einen „Smilie“ in ihrer Akte, z.B. wenn sie farbenfrohe Bilder malt oder täglich die „Tablette des Ver­ges­sens“ schluckt. Andernfalls formie­ren sich Schwestern und Oberarzt bedrohlich gegen den jeweils Einzelnen. Dass auch in der Psychia­trie Surro­gate vor­herrschen, Scheinwelten appliziert werden, weil „dem Patienten“ nicht die volle Zeit gegeben werden kann, erkennt Maria, dazu den entscheidenden Fehler im System, warum die „Therapien“ gar nicht wirksam sein können (S. 156):
&xnbsp; „Sie glauben, dass man eine Mutter mit Chemikalien vertreiben kann, bis das Abbild ihres Gesichts vor dem inneren Auge ver­schwimmt und nur noch Farben und Empfindungen vor einem herumwabern. Aber sobald die Wirkung nachlässt, kommt die Mutter zurück und ihre Sätze hacken unerbittlich auf mich ein wie der Schnabel des Spechts, der dem kranken Baum den Rest gibt.“
&xnbsp; Was Maria tatsächlich an den Rand eines „Tobsuchtsanfalls“ bringt, ist die Diagnose oder Aspekte von ihr. Aber nicht, weil sie so „uneinsichtig“ wäre, sondern die Diagnose so unge­recht ist. Denn wiederum läuft alles auf „Per­sona­lisierung“ hinaus, wiederum gehen die Ver­ursacher prinzipiell frei. Schließlich handelte es sich in der Familie um ein Kommunikationsproblem, das mit Kommunikation „zu behandeln“ gewesen wäre und auch weiterhin Ausgangspunkt bleibt.
&xnbsp; Da niemand Maria glaubt und Beweise fehlen, bleiben alle Personen um sie herum im Kern – Gerechtigkeit betreffend – leer für sie; so entsteht folgende Vision einer Beweislage (S. 155):
&xnbsp; „Ich wünschte mir, meine Mutter würde im Fegefeuer sitzen. Nicht um zu schmoren, es braucht nicht einmal heiß zu sein, sondern um sich Tonbandaufnahmen all der Sätze über mich anzuhören, die sie in all den Jahren in ihr Telefon geraunt hat. Mit gefesselten Füßen, damit sie nicht weglaufen kann, mit ge­fesselten Händen, damit sie sich nicht die Ohren zuhalten kann, und mit einem Knebel im Mund, damit sie sich nicht herausreden kann. Und müsste am Ende vor dem gerechten Richter eingestehen, dass sie Unheil ange­richtet hat mit ihrer Zunge.“

Mit Entgeisterung wird, im Elternhaus wie auf der psychiatri­schen Station, das Schreiben gesehen. Doch das Schreiben, das allmähliche Erkennen und es präzis zu formulieren, bewirkt den Fortschritt. In diesem Prozess erkennt Maria (S. 160), in dem Fall mit Nietzsche als Ausgangspunkt:
&xnbsp; „In unserem Haus herrschte die Um­wertung aller Werte. Ich war nicht krank, sondern erstmals gesund. Ich war nicht verrückt, sondern erstmals normal. Ich hatte nicht die Sprache verloren, sondern den Frieden gewonnen. Ich sollte gar nichts anderes sagen als die drei Wörter ja, gut und danke, ich hatte nie etwas anderes sagen sollen.“
&xnbsp; Sowohl Protagonistin Maria als auch der Schreibstil der Autorin haben mich zuweilen an Kafka erinnert. Das wundert nicht ganz, weil Kafka Erwähnung findet. So heißt es (S. 106 f.): „Niemand brauchte mir zu erklären, warum Kafka an einem Morgen als Ungeziefer erwacht war, ich wusste es seit meiner Geburt.“
&xnbsp; Marias Äußerung (S. 158) „Aber mein Text ist mein Messer [...], mit dem ich die Nabelschnur zu meiner Mutter durchschneide, die ich einundvierzig Jahre hinter mir hergeschleppt habe“ zitiert zunächst abgewandelt Hans Bender („Mein Gedicht ist mein Messer“), kann aber auch an den Kafka-Satz erinnern: „Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“.
&xnbsp; Oder (S. 163): „Mein Leben war eine Sackgasse, aus der es keinen Ausweg gab, selbst den Eingang gab es nicht mehr, ich konnte allenfalls an den Mauern kratzen.“ Dass der Eingang ver­schwunden ist, und die Prota­gonistin sich in einem Labyrinth, solange sie drinbleibt, ohne Ausgang (wiss.-psychologisch: in einem „Dilemma ohne Lösungen“) befindet, könnte direkt einem Text von Kafka entnommen sein. Schließlich ist es die geschundene Existenz von Anfang an, bei Maria im Hinblick auf ihre Mutter, bei Kafka in Bezug auf seinen Vater. Auch die Gerichts-Situation, die Bestandteil der Text-Struktur ist, gehört zum Kafka-Sujet.
&xnbsp; Das Schreiben nimmt somit seinen Ausgangs­punkt bei der Angst. Es ist eine Angst, die verstanden sein will und deswegen nicht verstanden werden kann, weil sie fühlbar werden müsste. Die Angst ist auch das Motiv, es genau zu nehmen; man nimmt etwas ganz genau, wenn man massiv am Leben gehindert wird. So beschreibt und analysiert Maria genau die Auswirkungen dessen, was sich ereignet, auf Psyche und Körper.
&xnbsp; Schreiben bei Maria H. ist eine Suchbewegung nach der nicht gegebenen Würde. Und zugleich suggeriert jede Zeit, in der jemand lebt, dass Suche nach Wahrheit angeblich proble­matisch, gar „Un­recht“ ist. So hat auch Maria festzustellen (S. 54): „Erstaunlich, dass man mit geschriebenen Worten das Herz so zum Rasen bringen kann, dass es bis in die Hand hinein pocht und den Kugel­schreiber Haken schlagen lässt.“ Doch in großer Geduld, mit großer Disziplin setzt sie Wort um Wort und erweist sich dabei als äußerst lösungsorientiert.
&xnbsp; Bestürzend die „Mentalitäts-Unterschiede“ zwischen Mutter und Tochter. Sie scheinen in allem oder vielem ein Gegenteil. So kennzeichnet das Erleben der Tochter, dass jeder Gegenstand, mit dem sie Umgang hat, zu ihrem Intimbereich zu gehören scheint, so z. B. als die Mutter ihre „ausge­fransten Unterhemden und Unterhosen“ auf einem Wäscheständer aufhängt (S. 70): „Es fühlte sich an, wie wenn sie in meinen verborgensten Körperteilen herum­fingerte, ich hätte am liebsten geschrien und sie ihr aus der Hand gerissen, aber wieder stand ich nur verängstigt da, noch verängs­tigter als an jedem anderen Tag, denn ich stand da ohne Worte.“
&xnbsp; Maria verfügt über eine zum Teil magische, animistische Weltsicht, also über eine Wahr­nehmung, die auch Anorganischem Leben einhaucht. So registriert und denkt Maria (S. 21): „Die Jacken an der Garderobe hingen reglos und stumm an den Haken und hätten nichts gesagt, selbst wenn ich sie gefragt hätte. Auf den untersten Treppen­stufen lag der Schal, den ich beim Hinaus­gehen umgelegt und dann wieder abgeworfen hatte, weil der März sein Versprechen hielt und es jeden Tag wärmer wurde.“ Den Jacken werden die Attribute „reglos“ und „stumm“ zugeschrieben und festgestellt wird, dass auch sie, wie die Mutter oder sonst jemand, nicht antworten. Während­dessen hält der personifizierte März „sein Ver­sprechen“, was aber mit einer Fehleinschätzung der Kleidung verbunden wird. So schleicht sich selbst in kleinste Handlungen leise Ver­zweiflung ein, grundiert von tiefer Einsamkeit oder dem Gefühl, allein gelassen zu werden, ja völlig allein zu sein. Was bei der Mutter als Wut daherkommt, trägt die Tochter als tiefe Trauer aus. Das heißt: Die Tochter trägt für ihre Mutter die Trauer aus.
&xnbsp; Im Wald erscheint ein morsches Holzstück wie ein „verwestes Tier mit grausam verbogenen Beinen, aus einer aufgerissenen Baumwurzel quoll gelber Eiter, am Stamm einer Birke hatte sich eine Krebsgeschwulst ausgestülpt“ (S. 105), es sind Todesbilder der Seele.
&xnbsp; Maria verfügt überdies über einen feinen Humor, der allerdings, im Gegensatz zu ihrer Mutter, nicht allzu vital daherkommt, sondern das Groteske, Düstere und Aberwitzige erfasst. So ist zu hören (S. 23): „Meine Mutter sieht mittlerweile aus wie Beet­hoven, der wilde Beethoven auf dem späten Porträt, der an eine Natur­katastrophe erinnert.“ Solche Bilder haben etwas Er­leichterndes.
&xnbsp; Bei allem versucht Maria, über einfache Handlungen ins Leben zu gelangen. Wie es gewesen wäre, wenn das Leben auf dem Grundstück gut verlaufen wäre, wird von ihr eindrücklich und mit bestem Rea­litätssinn festgehalten. Auch erkennt sie, dass und wie sie sich hätte wirksamer verhalten können, ja müssen. Es kam wohl alles so, stellt sie fest (S. 134), „weil ich mich nicht besser gewehrt habe als eine Glocken­blume im Wind“. Doch ohne Fürsprecher (ein Wort, das von Maria gebraucht wird und ebenfalls bei Kafka zentral ist), ohne Mann und Kinder, die ihr einmal zur Seite gestanden hätten (auch hier Analogien zu Kafkas Prota­gonisten), bekam sie es nicht hin. Und weiß ganz, was ihr von vorneherein gefehlt hat (S. 90): „Ich hätte mir eine Mutter vorgestellt, die nicht auf der Seite des Richter­gotts stünde und ihm helfen würde, das Schwert zu führen, sondern auf die andere Seite hinüberspränge und den geplagten Menschen in den Arm nähme und mit ihm weinen würde, weinen über die Welt und ihre Unverständlichkeit und Unge­rechtig­keit, einfach weinen, bis alle Tränen draußen sind und man wieder froh werden kann.“
&xnbsp; So kommt es zur Tat bei einem Menschen, der sonst „niemandem etwas tut“, als er in einer hoch aufgeladenen Situa­tion, in der die Mutter einfach nicht ablässt, angefasst wird. Es entlädt sich ein Stau, der ein ganzes Leben enthält und stets vor Lüge und Schönfärberei anzuhalten hatte.
&xnbsp; Das Angefasstwerden war das, was zu viel war. Maria wurde zwar ein Leben psychisch unangenehm angefasst, aber der körperliche Kontakt löst letztlich aus, dass sie für Momente in den Wahnsinn eines Mordes abgleitet.
&xnbsp; Dabei war für Maria das Ziel, wie an anderer Stelle von ihr ausgesagt wird, einem Menschen „auf Augenhöhe“ gegenüberzustehen und ihm, im gegenseitigen Respekt, zum Abschied die Hand geben zu können.

Das Buch „Mutterwut“ von Marianne Bunes handelt von einem Kommuni­kations­debakel, das sicher extrem ist, aber in Varianten und Ab­stufungen viele Familien betrifft von der Nach­kriegs­zeit bis heute und weiterhin. Es ist ein Buch, das zur Kommuni­kation anregen und heilsam sein kann, und insbesondere die tauben und seelenlosen Stellen des sog. Kleinbürger- und Bürger­tums (und seinen Trans­formationen), in seiner vollen Bedeutung, freilegt.
&xnbsp; Schließlich, so kann weiter­gedacht werden, gehören Kommuni­kations­losig­keit und „Sprachverlust“ (Sprachreduktion) zu den Impli­kationen ganzer Gesell­schaften. Und die heutige ist, bei noch for­ciertem (Ablen­kungs-) Gerede (wie es Heidegger nannte), eben nicht anders. Nehmen wir quer durch alle Anfor­derun­gen und Schichten die unter­legten Struk­turen fast aller Berufs­tätig­keiten. Bei aller Ko­mple­xität: Wird eigentlich mehr verlangt, als gegen­über dem jeweiligen Vor­gesetzten zu sagen: „ja“, „danke“ und „gut“?
&xnbsp; Und: Wie viel Mörderi­sches wird geboren, wenn von vorneherein feststeht, dass es nicht erwünscht ist, den jeweiligen Menschen an sich zu sehen. Sondern dies, in einem angeblich guten Klima, nur vorge­gaukelt wird. Allen, denen eine Ahnung von Echtheit blieb, dürften somit Worte wie diejenigen von Maria in Bezug auf ihre Mutter aus dem Herzen sprechen (S. 153):
&xnbsp; „Einundvierzig Jahre habe ich nach dem Tonfall gesucht, in dem ein Nein für sie akzeptabel gewesen wäre. Aber diesen Tonfall gab es nicht. Vielleicht haben sich die Wörter deshalb im Keller meiner Kehle verschanzt, weil sie sich nicht mehr krümmen und buckeln wollten.“
&xnbsp; So kam in dieser Geschichte heraus, was auch vielerorts, in den unter­schiedlichsten Kontexten heraus­kommt, sich verdeckt ereignet mit extrem hoher Dunkelziffer (S. 130): „Wenn man nicht mehr Nein sagen kann, will man auch nicht mehr Ja sagen.“
Ralf Willms &xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;09.05.2015&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp; Layout-/Druckansicht&xnbsp;&xnbsp;Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht

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Ralf Willms
Lyrik
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