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Hedda Rossa
Spiegelblut

Mehr als eine Fantasy-Geschichte
  Kritik
  Hedda Rossa
Spiegelblut
Cathy und die Gesichter der Zahlen
364 Seiten
tredition 2011


Zugegeben: Hätte mir jemand gesagt, einen Roman aus dem Bereich „Fantasy“ oder „Thriller“ zu rezen­sieren, dazu von einer 15-jährigen Autorin, ich glaube nicht, dass sich mein Gesicht, was nichts Schlim­mes bedeuten muss, nur einen Milli­meter geregt hätte. Bei strenger Auswahl der Lektüre, kam ich „irgend­wie zu dem Buch“ (durch Titel, Klappentext, Facebook-Bekannt­schaft mit Verfasserin) und sah, dass es zwar als Fantasy-Geschichte gelesen werden kann, aber innerhalb dieser ganz anderes verhandelt wird.

Die Geschichte spielt in einer „Welt der Gesichts­losen“. Ihr hervor­stechen­des Merkmal ist: fehlende Iden­tität. Die Gesichts­losen sind grau-schwarz gekleidet, tragen Masken und keine Namen, werden anhand von Nummern bezeichnet. Man mag sich an Szene­rien wie bei George Orwell und Michael Ende erinnert fühlen. Die Prota­gonistin, die 15-jährige Cathy, ließe sich so charak­teri­sieren: sehr mit­gefühl­voll, empfindungs­reich (wahr­scheinlich Hoch­sen­sibili­tät), absolut ehrlich zu sich wie zu anderen, dazu mit beacht­licher Analyse­fähig­keit und Schärfe in den Sicht­weisen ausge­stattet, von daher unbe­stechlich; dunkle Seiten im Menschen keines­wegs leugnend, mit ausgeprägtem Hang und Hartnäckigkeit, sich darüber bewusst zu werden, ja auch diese Seiten zu erforschen. So wird sie von einigen „Gesichts­losen“, die noch zwischen den Welten stehen – nämlich einer einge­fahrenen und einer licht­volleren –, erwählt, eine weit­gehend destruk­tiv gewordene Welt „zu retten“. Damit liegt ein großer Stoff vor, der bei allem Wechsel der Bedin­gungen nicht aufhört, „gegen­wärtig“ zu sein, und etwa – um promi­nente Beispiele zu nennen – von Christa Wolf oder Fjodor Dosto­jewski bearbeitet wurde.

Nun bleibt zu bedenken, dass es der Text einer 15-jährigen ist im Wunsch, einen Fantasy-Roman zu schreiben, womit ihr eben weit mehr gelungen ist. So heißt es im Kontext einer Hetz- und Verfolgungs­jagd: „Meine Blicke verharrten auf dem feuchten Waldboden. Meine Beine bewegten sich von alleine, fast schon mechanisch durch die Nacht. Mein Atem, meine Gedanken, beides war kaum mehr zu kontrol­lieren. Schweiß rann mir über die Stirn. Bei jedem Atemzug schmerzten meine Lungen unerträglich. Es war, als ob man sie mit einem stumpfen Messer von innen langsam aufriss.“
  Nicht nur in dieser Szene, sondern durchweg hat man den Eindruck, die Ver­fas­serin weiß, wovon sie spricht. Das gilt auch für die komplexe Beziehung, die sich zwischen ihr und einem „Gesichtslosen“, 3228 genannt, entwickelt. Die beiden lernen sich an einem Ort kennen – so beginnt das Buch –, wo bereits alles zu Ende ging, nämlich auf einem Friedhof. Dabei bleibt offen, ob 3228 eine „reale Person“ oder ihr Spiegelbild ist. Mag sein, dass auch hier das ein und andere etwa von – wie mir einfiel – Dracula dgl. entliehen ist, doch wird auch solches gleich hinter sich gelassen. Eindrücklich ist die Szene, in der sich Cathy in „3228“ zu verlieben beginnt:
  „›Jetzt‹, sagte er, „und ließ sich einfach zum Spiegel hinab fallen. Er zog mich an seiner Hand mit hinunter. Dann fielen wir beide. Wir fielen durch den Spiegel hindurch. Dann wurde alles Schwarz. Ich konnte nur noch seine Hand spüren […] Der schwarze Nebel verzog sich allmählich. / Es war hell. Wir standen auf einer Wiese, einer weißen Wiese. Verblüfft schaute ich mir das Gras genauer an. Es war tatsäch­lich weiß.“
  Das Gras ist gewiss nicht zufällig „weiß“. Es kontrastiert mit der dunklen Welt der Gesichts­losen und steht für gewisse Reinheit, wohl die Sehnsucht nach lichtvolleren Begeg­nungen und Bezie­hungen. Doch diese erweisen sich als schwierig, auch mit 3228. Cathy ahnt dies bald, etwa, wenn es heißt:
  „Er schwieg. Seine Züge wirkten im dämmrigen Licht der kleinen Flamme unheimlich und düster. Seine Augen kamen in der Dunkelheit unglaublich gut zur Geltung und wurden von kleinen Schatten umspielt. Sie funkelten im Lichterschein, und die Blautöne wechselten in einem schnellen Rhythmus. Er beruhigte mich, doch die Art an ihm, wie er diese Burg anstarrte, sie bereitet mir Furcht.“

Es erweist sich nach und nach, dass 3228 ein „Geheimnis“ in sich trägt, und zwar ein schreckliches. Es ist das Trennende, der Riss, der durch Cathy und 3228 geht, und er hat viel zu tun mit der Welt, von der sie umgeben sind, so ist es auch der Riss, der durch diese Welt geht. Im Weiteren geht es um nicht weniger als um den Versuch, diesem Riss zu begegnen, um ihn möglichst zu schließen. Dabei übernimmt Cathy oft die Initiative, stellt Fragen, wie in folgendem Dialog:

Sein Blick wanderte wieder zu der Wand.
„Was ist so schlimm an dem alten Kerker?“ fragte ich.
„Die werden mich erkennen.“
Nun lag in seiner Stimme etwas Verzweiflung.
„Wer?“
„Ich kann einfach nicht.“
[…]
„Wovor hast du nur so eine Angst?“
„Ich …“, er stockte.
Konnte es wahr sein? 3228 hatte tatsächlich Angst. Am liebsten hätte ich ihn angegrinst, doch das erschien mir sehr taktlos und gemein. Schließlich hatte er wirklich große Furcht. Er seufzte.
„… davor, dass du mich verurteilst“, fuhr er stotternd fort.

Eine Szene dieser Art kann als exempla­risch gelten dafür, dass Hedda Rossa große Themen anvisiert. Dabei ist es, wie man weiß, unerheblich, ob sie das alles „beim Schrei­ben gedacht hat“. Es scheint oder ist wohl so, dass ihr Unter­bewuss­tsein mit „traumartiger Sicher­heit“ auf solche Themen zusteuert und Ent­scheidendes trifft. Eine kurze Korre­spondenz mit der Autorin bestätigte dies ganz. So kann der Fantasy-Rahmen als „Kulisse“ betrachtet werden, unter bzw. in dem sich ein unerhörter Sub-Text – der eigentliche Text – befindet.

Zum Kern des Romans gehört nun die große Begegnung mit der Vergangenheit. Diese zeigt sich – in der Art von Rückblenden – in 3 Kapiteln, die zwar nicht aufeinander folgen, aber chronologisch vorgehen, typografisch hervor­gehoben durch Kursiv­schrift. Im Kapitel „Das Mädchen“ wird das Kennenlernen zweier Menschen geschildert, die für­einander zur „großen Liebe“ avancieren. Das Mädchen erwartet sehnlichst jemand, der, wie sie, „keine schlechtere Hälfte besaß“. Sie gerät mit 3228 an jemand, der ihrem Wunsch einerseits entsprechen kann, andererseits aber bereits heillos in der „Welt der Gesichtslosen“ verstrickt ist. Er ist quasi ihr Schatten, ohne dass sie schon darum weiß. Das ist eine sehr intel­ligente oder hell­sichtige Konzeption, denn sie beinhaltet, dass jemand wie 3228 bereits über Erfahrungen verfügt, die in dieser Welt – wenn auch in unter­schiedl­icher Ausprägung – unaus­weich­lich sind. Das Mädchen aber steht noch an der Schwelle zu dieser Welt und will – zu Recht, warum sollte sie – von diesen Erfah­rungen nichts wissen.
  Mitreißend in diesem Kapitel ist auch, in welcher Weise das Begehren, das beide auf­einander richten, geschildert wird. Im zweiten Kapitel der Rückblenden, „Der Wächter“, begegnet man der Initiation von 3228 zum Wächter, und zwar zum „Schatten­wächter“. Sehr nachvoll­ziehbar und stimmig wird geschildert, wie aus einem guten Menschen ein schlechter wird. Und zwar durch Über­tragungs­effekte heilloser Verstrickung. Oder einfach gesagt: durch schlechtes Verhalten des ganzen Umfeldes. Im dritten Kapitel der Rück­blenden, „Das Grab“, wird 3228 gezwungen, seine erste große Liebe, „das Mädchen“, zu ermorden. Gezwungen? Das „Spiel mit den Sach­zwängen und Macht­aus­übungen“ wird so weit getrieben, dass er es tat­sächlich tut. So heißt es von einem der beeinflussenden Männer:
  „Er war wie gemacht für Aufträge, welche die Psyche angrei­fen und Wesen in den Wahn­sinn trieben.“ Dem gegenüber hat 3228 Skrupel und Gewissen, von ihm wird gesagt: „Er ließ nie­manden an sich heran, aus Angst seine Gefühle zu zeigen, die ihn eines Tages verfolgen würden. Was er jedoch nicht wusste, war, dass er genauso durch­schau­bar war, wie ein Herz aus Glas. Er dachte, er habe keine Schwächen, doch die eine, die hatte er.“
  Ein Bild des Grauens hinter­lässt, neben dem Leichnam des Mädchens, der Tod eines Wächters, der an die Schergen einer Diktatur erinnert (bzw. an jeden, der sich in dieser Weise aufführt), noch im Todes­moment ist alles jenseits von Einsicht, zeigt sich der nie mehr korrigierbare Ver­blendungs-Grad: „Der junge Wächter drehte sich um und schritt langsam auf den Leichnam zu. Mit einem Tritt gegen die Schul­ter drehte er den toten Wächter um und sah zufrieden den starren Blick im noch immer lachenden Gesicht des Toten.“

Mit solchen Durchschreitungen verän­dern sich Persön­lich­keiten. Erstaunlich, dass die 15-jährige Autorin im Sinne eines allwissenden Erzählers jederzeit souverän und stimmig „die Regie führt“. Natürlich ließe sich viel anmerken, manche Szenen gehen viel­leicht „zu lang“, könn­ten sprach­lich / inhalt­lich noch anders ausge­arbei­tet werden usw., usw. Doch ist eine Parabel u.a. auf die gegen­wärtige Welt gelungen. So wird durch den Kunstgriff der „Spiegelwelt“ gezeigt, in welcher Weise das Sichtbare aus dem Unsicht­baren entsteht. Das Unsichtbare zunächst, das sind die mitunter ver­irrten und grausamen Gefühle und Gedan­ken von Menschen, ihre hemmungs­losen Kol­labora­tionen. Der Begriff des „Wäch­ters“ verdient in solchen Kontexten nähere Auf­merk­samkeit. Ein Wächter, das kann etwas Gutes, Nötiges sein; doch welche „Entwicklung“ genommen wird, wenn eine Gesellschaft zunehmend „gesichtslos“ wird, ist historisch bekannt.
  Nehmen wir beispiel­haft die ehemalige DDR. Zunehmend ein Feld gewesen von Nach­bar­bespitze­lungen im Sinne von ein­schlä­gigen Wächter­funk­tionen. Dass solche Phänomene auch die Gegenwart bestimmen, wird leicht übersehen. Auch in der heutigen Bundes­republik Deutsch­land ist das Wächter­phänomen alles andere als ver­schwunden. Jemand wie 3228 – um die Ebene des Romans wieder auf­zunehmen – fügte sich zunächst nicht ein, er war, wie es heißt, „einer der ersten Rebellen unter den Ge­sichts­losen und daher auf der Auftragsliste unzähliger Stummer“. Gerade er wird besonders „in die Zange genommen“. „Er hatte es selbst gewagt, Magie zu erlernen, eine Tat und Anmaßung, die unent­schuld­bar für einen Gesichts­losen ist. Das ist der größte Bruch unserer Gesetze“. Darin steckt das Thema der Ausgren­zung; vielfach vor­genommen von einer durch Ver­kürzungen dominierten rationalen Welt (die bekanntlich weit weniger „rational“ ist, als von ihr selbst ange­nommen). Ausge­grenzt wird nicht selten Wertvolles. Bzw. das, was „wertvoll“ ist, diktiert der Marktwert. Und: Welche „Charaktere“ bringt das hervor? Wie weit ist man da entfernt, von einer „Welt der Gesichtsl­osen“? Durch begriffliche Oppositions­paare, durch Antithetik, lässt sich Weiteres im Roman aufschließen. So durch „Kälte / Wärme“. Immer wieder wird von Cathy Kälte registriert. Ein weiteres Oppositionspaar kann lauten: „Maske versus Nackt-Sein“. Nur wenn sich jemand inner­lich nackt zeigt, besteht die Möglichkeit zur Annahme.

Bei allem zu sehen ist auch, dass sich die Prota­gonistin vielfach noch unmittelbar in Tuchfühlung zur Kindheit befindet. Das zeigen z.B. ihre Ängste: „Die maskier­ten Wesen starr­ten uns an. Sie ließen ihre Blicke nicht von uns. Ängstlich krallte ich mich an 3228s Arm fest. Anschei­nend bekam er das gar nicht richtig mit.“ Dabei hat sie Sinn für leise und leiseste Wahr­nehmun­gen: „Inzwi­schen war es dunkler im Raum geworden, da bei dem Kampf einige Kerzen erloschen waren. Es war alles still. Ich hörte nichts, bis auf das leise Knistern des Ofens.“ Darüber hinaus hat man nicht selten den Eind­ruck von Geborgen­heit, Bergung, wie Jugend sie sich denkt. Zu­gleich bein­haltet der Roman die Suche nach einem Geliebten, mehr: nach einem Menschen, der sich lieben lässt. Schließlich hat das Buch eines, was die thema­tisierten „Gesichtslosen“ nicht (oder wie?) haben: Seele. Und der Titel, sicher, er ist höchst mehr­deutig. Es geht ja um die Suche nach menschlicher Spiegelung. Da, wo sie hätte sein sollen oder auch immer wieder aufkeimt, fand die Prota­gonistin vor allem eines: Blut.
Ralf Willms     16.12.2014     Layout-/Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht

 

 
Ralf Willms
Lyrik
Gedichte, Gewalt I, II