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Dostojewski verstehen
unter Einbeziehung von
Eugen Drewermann: Dass auch der Allerniedrigste
mein Bruder sei. Dostojewski – Dichter der Menschlichkeit
Kritik |
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Eugen Drewermann
Dass auch der Allerniedrigste mein Bruder sei
Dostojewski – Dichter der Menschlichkeit
208 Seiten
Neuausgabe 2012
Originalausgabe 1998
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Ein Buch zu besprechen, das bereits rund 16 Jahre vorliegt, macht dann Sinn, wenn 2 Kriterien gegeben sind: 1. die Erkenntnisse in dem Text – unabhängig davon, ob er gelesen wird oder nicht – von bleibendem Interesse sind, 2. Wesentliches noch nicht dazu gesagt wurde.
Ein Buch, das möchte auch ich behaupten – vielfach wurde es behauptet –, dass es nicht schafft, auf der ersten Seite klarzustellen, anzudeuten, womit man es zu tun hat, ist, in aller Regel, auch im Weiteren misslungen. Bereits auf der ersten Seite, im Vorwort, kommt Drewermann in seinen Dostojewski-Analysen auf den „Punkt“. Um zu verstehen, was gemeint ist, lässt man den Verfasser am besten selbst sprechen:
„Man kann an seinem Werk auf viele Jahre hin so seelenruhig vorbeigehen wie an der Auslage einer Apotheke oder an dem Sprechstundenschild eines Arztes; doch irgendwann ist es so weit: Da braucht man ihn und findet ihn als einen längst bekannten, vertrauten Gefährten […] Man braucht den Hintergrund der gleichen Not, des gleichen Suchens und der gleichen Sehnsucht, um Dostojewskis Art, die Welt zu sehen, als ›notwendig‹ im wahrsten Sinn des Wortes zu begreifen. […] Allenfalls bei der Lektüre Sören Kierkegaards ereignet sich etwas Vergleichbares: Alles ästhetische Vergnügen zerbirst unter dem Druck einer unbedingten Wahrhaftigkeit; bei jeder Zeile muß der Leser sich fragen, wer er selbst denn ist angesichts der hier gezeichneten Gestalten und Gedanken; der Raum, sich auszuweichen, wird von Mal zu Mal enger; und am Schluß, wenn die Fluten sich verlaufen, dicht an der Gezeitenzone des Abgrunds, entdeckt sich in überdeutlicher Klarheit das Entweder-Oder von Heil und Unheil, Rettung und Untergang, Schuld und Gnade.“
Was lässt sich nun sagen über ein Buch, das auf jeder Seite signifikante Erkenntnisse enthält, somit eine große Dichte in sich darstellt. Doch all diese Erkenntnisse laufen in übergeordneten Punkten zusammen, lassen sich wohl ordnen, ich versuche es anhand nachfolgender Gliederung, vielleicht so:
- Die Texte von Dostojewski siedeln sich in einer Welt der Verstrickung an. Gnadenlos und auf verschiedenen Ebenen tödlich.
- Gegenpol = Seele, Liebe.
- Alle Texte Dostojewskis kommen bald an den Punkt eines „Entweder-Oder“: Entweder Abgrund oder: Weg der Seele, Weg der Liebe.
- Welche ist die Rolle von Christus im Werk Dostojewskis?
- Konsequenzen für den jeweils heutigen Literaturbegriff.
Zu 1
Dostojewskis Protagonisten befinden sich durchweg in beklemmenden und bedrückenden Verhältnissen; schließlich werden sie auf „irgendeine Weise“ schuldig, durch „irgendeine ungeheuerliche Tat“, womit die Apparate der Verurteilung in Kraft gesetzt werden, soziale und juristische. Es sind Gestalten der Entwurzelung, wie jener Rodion Raskolnikow in Schuld und Sühne (nach der Übersetzung von Swetlana Geier: Verbrechen und Strafe), und Drewermann tut einiges dafür, erweitert herauszustellen, dass und in welcher Weise jemand wie Raskolnikow ein real Verzweifelter war, in der Seele verwahrlost, allein, abhängig durch Armut, durch vieles. Jemand, der bereits zerstört war, bevor er zerstörte, und doch auch jemand mit einem Gewissen, einem Potenzial an Seele, das mit seiner Untat – dem Mord an der Pfandleiherin Aliona Iwanowna und ihrer Schwester – nochmals oder erstmals wirklich hervorkommt. So steht Raskolnikow am definitiven Scheideweg: weiter zu gehen im Abgrund einer Schuld, die nicht mehr gutzumachen ist, oder wenigstens jetzt sich auf seine besten Kräfte zu besinnen. So begegnet er Sonja, einer jungen Prostituierten; sie ist, wie Drewermann festhält, „gewissermaßen die Seelenfigur, der gute Engel des Mörders Raskolnikow selber“.
Damit ist – exemplarisch – ein oder das entscheidende Szenario im Werk Dostojewskis gesetzt, und die beiden entgegengesetzten Pole, die dieses „Szenario“ kennzeichnen, können als „Abgrund“ und „Aufbruch“ bezeichnet werden. Nun hängt alles daran, diese beiden Begriffe auch wirklich zu füllen, das heißt zu ermessen, welches Ausmaß gemeint ist.
Um welchen Abgrund es sich auch handelt, im Werk Dostojewskis und überhaupt, er ist, naturbedingt, wesentlich bestimmt von Schmerz. So ist es der Schmerz, der – zusammen mit allen andern Kräften – ggf. zur Besinnung führt, Schmerz, den niemand wollen kann, doch, einmal da, kann er eben, über „Besinnung“, zur sich unterscheidenden Begegnung führen. In den Worten Drewermanns:
„Wenn aber jeder leidet auf seine besondere Weise, so gibt es auch keine allgemein gültige, gesellschaftlich zu vermittelnde Antwort. Genauer gesagt: Es leidet ein jeder nicht nur als individuelle Person, sondern Dostojewski spürt heraus, daß er auf ganz und gar persönliche Weise, eben weil er die Person ist, die er ist, an sich selber leidet und im Spiegelbild seiner selbst zugleich an der ganzen Welt. Eben deswegen gibt es eine Antwort auf das menschliche Leid für Dostojewski nie im Abstrakten, sondern nur durch die Zuwendung einer anderen Person.“
Von großem Wert ist und bleibt dabei, den Ausgangsgedanken im Blick zu behalten: dass Menschen schuldig werden, an sich selbst wie an anderen, aus einer Verstrickung heraus, die häufig, sowohl kenntnisreich wie kenntnislos, übersehen wird.
Zu 2
„Liebe“ gehört – ihrer Theoretisierung nach – zu den Großbegriffen und auf allen Ebenen zu den großen Missverständnissen. Wer Dostojewski liest und ernst nimmt, kommt, in der Aufdeckung subtilster Missverständnisse, weiter. Denn „Liebe“, wird sich auf sie eingelassen, beinhaltet unhintergehbare Implikationen, die zu beachten sind, solche, auf die man bei der Lektüre Dostojewskis sukzessive und unausweichlich stößt.
Zu diesen unhintergehbaren Implikationen gehören wesentlich 3, die von Drewermann so nicht herausgestellt werden, doch vieles, worüber er schreibt, mündet sozusagen in die nachfolgende Sub- Gliederung, die mir nötig erscheint. Damit ist auch ein Schwachpunkt des Buches benannt. Drewermann kreiert zwar Ansätze einer Terminologie, die vielversprechend (so ist die Rede von einem „sechsstufigen Hinabstieg in den Abgrund“ sowie von einer „Stufenfolge […] wieder ans Licht“), doch in der Ausführung wird es so unübersichtlich, dass mir, offen gestanden, die Lust verging, dies ordnend aufzugreifen. Von daher dieser Ordnungsversuch (a-c):
a. Verstehen versus Urteil (Verurteilung)
Dostojewskis Protagonisten, das kann man sagen, werden verurteilt, zuweilen auch grundlos (an solchen Stellen des Werks erweist sich Dostojewski im Übrigen als Kafka-Einfluss). Dostojewskis Protagonisten bringen überdies eine bestimmte Disposition mit, stellen einen gewissen Menschentypus dar.
So ist das Selbstwertgefühl – man kann Raskolnikow oder andere nehmen – durchweg problematisch. Es handelt sich mitunter um ein „überhöhtes Selbstwertgefühl“, und Drewermann stellt, mit Hilfe der Psychoanalyse, treffend heraus: es ist gekennzeichnet „eben nicht durch ein zufriedenes Gefühl, in sich selbst genügend wertvoll zu sein, sondern durch den Anspruch, mehr wert sein zu müssen als alle anderen“. Dieses „mehr“ entspringt bekanntlich einem Mangel. Es handelt sich, wie in der Psychoanalyse bekannt, um „Hochmut aus Angst“.
Raskolnikows Mangel an Selbstwert hat viel zu tun mit der Konstellation, in der er heranwuchs, so mit einer stigmatisierten Mutter, die sich selbst, für die Familie, als Opfer darbringt, und solche Opfer auch von jedem Familienmitglied erwartet, ohne es entsprechend zu thematisieren oder gar zu diskutieren. Raskolnikow will diese Opfer nicht. Zu den Folgen gehören Hass, gegenüber der Mutter, und vor allem Selbsthass. Sehr plausibel zieht Drewermann die Schlussfolgerung:
„In der Zeit danach hat er sich selbst ruiniert, wie um die von außen zugefügte Schande durch die eigene Schändlichkeit womöglich noch zu überbieten. Sein Hang, sich für das erlittene Unrecht durch Selbstzerstörung zu rächen.“
So kann als ein Motiv für den Mord angenommen werden: „Nicht länger eine Laus zu sein, die man folgenlos zertritt.“ Drewermann sieht, dass jemand durch „Erniedrigungen dahin gedrängt wurde, sich selber das größtmögliche Leid zuzufügen“. Was letztlich den Umschlag zum Bösen bewirken kann und oft bewirkt: „in der Stunde seiner tiefsten Armut und Armseligkeit keinerlei Hilfe“ erhalten zu haben. Von daher fiel Raskolnikow, lange vor seiner Tat, bereits aus jeder Ordnung heraus; wenn er, offiziell, auch Student war.
Mit all dem wird er von Sonja nicht gerichtet, sondern sie antwortet mit unerschöpflichem Verstehen und zeigt auf, dass er fortan die Wahl hat. So beginnt ein entgegengesetzter Weg für Raskolnikow (so wie für alle andern Protagonisten im Werk Dostojewskis). „Wenn es so steht“, so Drewermann, „daß alle Menschenschuld bei mir selbst beginnt, gibt es nichts mehr zu richten, nichts mehr zu urteilen, nur noch zu verstehen.“
b. Vergebung versus Schuld
In jenem Traum Raskolnikows, kurz vor seiner Tat, stellt Drewermann die „Einheit von Mord und Selbstmord“ heraus. Die alte Pfandleiherin und ihre Schwester werden zu Stellvertretern; wer im Innern Raskolnikows ermordet wird, sind womöglich die Mutter, vielmehr ihre Situation und diejenigen, die dafür verantwortlich und sich „unerreichbar machten“, und wohl vor allem er selbst.
Als ihm Sonja aus der Bibel vorliest, entdeckt Raskolnikow selbst, dass es um die „Vergebung aller Schuld“ gehen muss. Darum, den „Alptraum eines ganzen Lebens“ durchzugehen und Zeugnis davon abzulegen; um ihn dann, so weit möglich, liegen lassen zu können.
c. Annahme versus Misstrauen
Im Fall, im Abstieg, am „tiefsten Punkt“, wie hartnäckig sich dieser auch hält oder sich stetig aktualisiert, kann es zum erzwungenen oder „freiwilligen“, das heißt möglichen „Loslassen“ der Problematik kommen: „Vielleicht wissen wirklich nur diejenigen, die ganz buchstäblich nichts mehr zu verlieren haben, wie bedingungslos wir Menschen darauf angewiesen sind, von Grund auf angenommen zu sein und das Gefühl haben zu dürfen, berechtigt auf der Welt zu sein; solche Menschen aber hoffen unausweichlich auf ein Stück vom Himmel, auf eine Form von Menschlichkeit, die beinah jeden Menschen überfordert.“
Es geht darum, dies glauben zu können, „berechtigt auf der Welt zu sein“, was manchem – seiner Erfahrung nach – nicht zu vermitteln ist. Eine solche Glaubenserfahrung – Glaube an einen (und damit ein Stück weit mehr an „den“) Menschen – beginnt auch bei Raskolnikow. Mehr als das: es ist die Erfahrung tieferen (ja absoluten) Vertrauens. Damit steigt ein Leben subjektiv im Wert: „Wie sehr wir den Tod fürchten, hängt offensichtlich sehr stark davon ab, wieviel wir uns in unserem Leben an Liebesfähigkeit zutrauen und an Liebesglück erleben, und so verstehen wir, daß der tiefere, unbewußte Untergrund für die Todesangst des noch jugendlichen Ippolit in einer abgründigen Angst vor der Frau, vor dem anderen Geschlecht, vor der Verschmelzung der Liebe besteht“.
So ist es schließlich die „bedingungslose Liebe“ – als Haltung auf allen Ebenen – und in einer konkreten Beziehung, die Misstrauen und Todes-Angst ihren Ort zuweisen. „Es sind zwei Antworten“, so schließt Drewermann, „die Dostojewski darauf gibt und die sich wechselseitig bedingen und ergänzen. Sie lauten: wage zu lieben, und: wage, dich lieben zu lassen.“
Das in etwa ist der Horizont, um den es im Werk Dostojewskis geht.
Zu 3
Dass Werke antithetisch konzipiert sind, ist für sich, in dem Sinne, noch keine Besonderheit; nicht selten liegt darin ein Mangel, nämlich fehlende Ausdifferenzierung. Doch die Art, wie in Dostojewskis Werk Antithetisches miteinander konfrontiert wird, ist in der Weise, wie es geschieht, eine große Besonderheit, denn es geschieht definitiv. Konfrontiert wird Abgründiges – das keine Tabus kennt bzw. alles, was es diesbezüglich gibt, einbezieht – mit Liebe, der keine Grenzen gesetzt werden. Liebe, in dieser Weise, die im gesellschaftlichen Alltag ebenso wenig zur Geltung kommt wie dasjenige am andern Pol, die Verbrechen. Wie brisant dies ist und wie tief das geht, kann das Nachfolgende, Wenige vielleicht schon zeigen:
Der Begriff der Selbstachtung ist bei Dostojewski zentral. Aller vermeintlicher Eigensinn der Protagonisten zielt im Grunde darauf, sich so zu verhalten, so zu denken und zu fühlen, dass sie das sein können, was sie auch sind. Wenn so gesehen wird, fällt ein Wort wie „Eigensinn“ und wofür es steht, was mitunter einschlägig negativ aufgeladen wird, weg. Zeitübergreifend aktuell ist dabei die Art, wie das Motiv des Geldes Einlass findet. Geld im Werk Dostojewskis, das ist durchaus Mittel, aus der Armut herauszutreten, um fortan in Ruhe gelassen zu werden. Es kommt zur maximalen Konfrontation von Geld und Selbstachtung, die von Drewermann so analysiert wird:
„Es ist nicht möglich, Menschen zu kaufen; versucht man es trotzdem, so bringt man sie um, moralisch, physisch oder beides zugleich. Es ist nicht möglich, die persönliche Selbstachtung darauf zu gründen, daß man einen anderen Menschen dazu zwingt, die eigene Person anzuerkennen; man treibt ihn damit nur dahin, sich selbst zu verachten und am Ende sich selbst zu zerstören.“
Fast überflüssig zu sagen, dass dies, nur bei einem Wechsel der Maskierungen, vielfach auch die heutige Situation beschreibt. Damit enthält das Werk Dostojewskis durchaus eine Aufforderung, jedwede Macht auf Kosten anderer sein zu lassen. Weil es psychologisch (im Sinne der Logik der Psyche) nicht möglich ist, Selbstachtung und Geld-Erwerb unredlich zu vermischen ohne eklatante Folgen für andere und sich selbst. Die unzählbaren „Überlistungen“, die von Menschen angestrengt werden („redlich zu betrügen“ und trotzdem authentisch zu sein), funktionieren nicht.
Ausgangspunkt ist der Mensch, der nackt und ehrlich vor sich selber steht. Für den es ausscheidet, einem andern etwas zu tun. Und nur so, ja mit „reinstem“ Herzen, sich zuwenden kann. Von daher konstatiert Drewermann: „Sich mit Dostojewski zu beschäftigen bedeutet, Trennmauern aufzusprengen und Schutzzonen wegzuräumen.“
Dostojewski, das kann gesagt werden, räumt mit falschen Verführern jedweder Art auf. Drewermann greift einen Typus auf, der auch in heutiger Zeit wieder „Hochkonjunktur“ hat, nämlich jene Ausprägung eines „Pragmatikers“, der vorgibt, im Besitz aller Lösungen zu sein, „geistige Welten“ stigmatisiert, im Grunde für Unsinn erklärt, und mehr oder weniger ohne historische Kenntnisse die „praktische Vernunft“ hochhält. Ein diesbezüglicher Prototyp in Schuld und Sühne ist ein gewisser Rasumichin. Was dieser Raskolnikow anbietet, kann nicht greifen, wie Drewermann herausstellt, „weil es in ihm etwas gibt, das Rasumichin auch nur entfernt zur Kenntnis zu nehmen niemals beliebt, ja, das wahrzunehmen er gar nicht imstande ist. // Das unglaubliche Wissen Dostojewskis herrscht an dieser Stelle schon, daß all die vernünftigen, daß all die so guten Vorschläge und Ratschläge, die wir so praktisch füreinander anzubieten haben, scheitern müssen, weil der Mensch, dem wir diese Ratschläge erteilen, gar nicht derjenige ist, für den wir ihn halten.“
Zu schlussfolgern ist, dass der von Dostojewski eingeführte Typus, in Gestalt von Raskolnikow, im Alltäglichen bis heute hin gar nicht hinreichend identifiziert, erkannt wird bzw. dass das, was von ihm ausgeht (nämlich u.a. Ethik und Gewissen: durchaus pragmatischer Natur, durchaus lebbar), – spätestens im Zweifelsfall – kategorisch ausgegrenzt wird.
Zu 4
Dass all dies von Dostojewski mit Christus verknüpft wird, ist zu respektieren. Doch könnte darin auch eine Entschärfung liegen. Zunächst soll aber in etwa kenntlich gemacht werden, was diese Verknüpfung mit Christus überhaupt enthält, auch das versteht sich nicht von selbst.
Sonja, seelische Komplementärfigur zu Raskolnikow, zieht – als Verlorene, heißt als jemand, dem im Grunde kein sozialer Ausweg gewährt wird – ihre Kraft aus dem Christusglauben. So glaubt sie an die Auferweckung des Lazarus, und ihr Umgang damit hat durchaus irdische, pragmatische Züge. So ist es nicht falsch zu sagen, dass sie Raskolnikow von den „lebenden Toten“ auferweckt. Und sie glaubt daran, dass Christus durch sie es vermochte.
Die Kraft von Christus, wie von Drewermann erinnert wird, besteht in der „voraussetzungslosen Liebe“.
Es wird, um auch dies anzusprechen, den Ruch des Befremdlichen jedoch nicht los, wenn Metaphysisches als „absolut wahr“ angesehen wird. Einerseits wird von Drewermann alles nachvollziehbar ausgeleuchtet, andererseits gibt es diese Stellen, in denen alternativlos Voraussetzungen angenommen werden, ohne diese noch kenntlich zu machen. So etwa, wenn es heißt:
„[…] Es gibt keine andere Folgerung: Entweder die ›Erlösung‹ zieht uns alle gemeinsam in ein und demselben Netz als ein und denselben Fischschwarm hinüber in diese andere, lebendige Welt, oder es wird einem Einzelnen nie vergönnt sein, sich zu befreien.“
Schon wie der Satz eingeleitet wird: „Es gibt keine andere […]“ – natürlich gibt es andere Folgerungen, wäre darauf zu sagen. Zum Beispiel diejenige – wenn man zustimmt, dass das Heil des Einzelnen des Kontextes bedarf (= des „Fischschwarms“) –, die soziologisch interpretiert.
An anderer Stelle lautet der Text Drewermanns: „[…] nur wer den absoluten Wert der Person eines einzelnen Menschen wirklich begreift, dem kann der Tod zu einer äußersten Herausforderung werden, nur der kann an der Vergänglichkeit des Lebens so sehr leiden, daß er der Unsterblichkeit bedarf, um überhaupt leben zu wollen.“
Bei der Rede von der Unsterblichkeit habe (nicht nur) ich generell den Eindruck mitunter eines „verdeckten Größenwahns“. Bzw.: solche Sätze perpetuieren m.E. eine falsche Spur. Denn: man kann an Vergänglichkeit maximal leiden, ohne sie zu konterkarieren. Innerhalb dieser ein Leben begehen, das sehr wohl „den absoluten Wert der Person eines einzelnen Menschen wirklich begreift“.
Tod als „äußerste Herausforderung“ würde ich auch lassen. Schon aus Respekt jenen gegenüber, die ihm wirklich nahe sind, für die er keine Herausforderung ist, sondern etwas anderes.
Indessen bleibt die Grundfrage, ob man dem „Entweder-Oder“ ab einem gewissen Grad nicht „auf den Leim geht“. Das dürfte z.B. dann der Fall sein, wenn jemand, etwa im religiösen Kontext, behauptet: Entweder es hat alles Sinn – oder keinen. Längst bekannt ist überdies, dass etwas den Sinn macht, der selbsttätig gegeben wird.
Zu 5
Die Lektüre Dostojewskis kann eine Grundunterscheidung in der Literatur wieder in Erinnerung rufen, die an Aktualität nicht verlieren kann: Auf der einen Seite steht die Autonome Kunst, ausgehend vom L´art pour l´art, das in der Literatur u.a. unter der Bezeichnung La poésie concrète und ihren Spielarten rangiert. Im weitesten Sinn gehört im Übrigen auch „Programmliteratur“ dazu, also jene, die die Buchläden füllt. Auf der anderen Seite steht eine Literatur, von der Not angetrieben, wie eingangs gesagt, einer Not, die niemand wollen kann, in dem Sinne nicht verordnet, nicht gelehrt werden kann. Doch ist sie einmal da, kann sie Früchte treiben. Im Sinne Batailles ist es der „historisch-biografisch irreversible Moment“, mit dem auch alle fruchtbaren Kräfte ausgelöst werden, eine Art Schicksal, das – nach Bataille – terrestrische Züge trägt, die der Sakralität allerdings nicht entbehren.
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Ralf Willms
Lyrik
Gedichte, Gewalt I, II
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