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Que Du Luu
Im Jahr des Affen
Zu Que Du Luus Jugendroman Im Jahr des Affen
Rezension |
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Que Du Luu
Im Jahr des Affe
Jugendroman
288 Seiten
ISBN 978-3551560193
Königskinder Verlag 2016
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Zu den Hauptleistungen des Buches „Im Jahr des Affen“ gehört, dass – bei allen graduellen und fundamentalen Unterschieden – sehr genau und weitgehend ein Gefühl dafür entwickelt werden kann, mittels Einsicht und Erkenntnis, womit das Leben eines „Flüchtlings“ – ein Un-Wort, wie Ulrich Siebgeber feststellte, wofür schon das Suffix „ling“ sorgt – befasst ist. Befasst sein muss, weil allein schon gewisse Determinanten, die kulturellen Unterschiede, dies aufnötigen. Hinzu kommen Spuren mit Langzeitfolgen, die eine solche Flucht hinterlässt. Im Weiteren kommt es dann an, wie jeder weiß, auf das Verhalten aller Beteiligten. Also auf dasjenige des Betroffenen und aller anderen, die ihm begegnen.
Ausgehend vom Phänomen „Flüchtling“, ist die Protagonistin in einer verhältnismäßig privilegierten Situation. Mini Tu ist eine vietnamesische Chinesin, die, als Kleinkind von ihrem Vater mitgenommen, den repressiven Verhältnissen des Landes entging und – nach gewisser Odyssee – in Herford landete („Boatpeople“ heißt der dazugehörige Euphemismus). Mini, nun sechzehn Jahre alt, erscheint, wie so gesagt wird, „integriert“, und ist es auch recht weitgehend; dass sie dennoch alle oder viele Merkmale eines „Flüchtlings“ auszutragen hat – obgleich sie sich an die Flucht nicht mehr erinnert –, und was das bedeutet – bis hin in subtilste Bereiche, sucht dieser Text anzustoßen. Der Übersicht wegen, mittels Gliederung.
1 Eigenschaften der Protagonistin
2 Korrelationen von Charaktereigenschaften und gewaltvollen Verstärkungen
3 Historie und Biografie
4 Schlussteil
1 Eigenschaften der Protagonistin
Charakter und Seelenlage eines Menschen fallen bekanntlich recht unterschiedlich aus. Zugleich ist es jedem möglich, Grundelemente nachzuvollziehen, darin besteht eine kleine Hoffnung. Schlagwörter, die Mini kennzeichnen, können – so unvollständig eine Aneinanderreihung auch ist – lauten: Scheu, Schüchternheit, Furcht, Selbst-Reflexion, Vorsicht, Mut, ausgeprägtes Bewusstsein für Gerechtigkeit, Tiefsinn, Pragmatismus, sinnliche Entfaltung. Der Grundsatz-Diskussion, was genetisch und was erlernt, kann an dieser Stelle die Tendenz entnommen werden, dass alles Mögliche bereits genetisch verankert, es aber dann neben dem, was interessebedingt oder aufgezwungenermaßen erlernt wird, signifikant darauf ankommt, was an Charaktereigenschaften negativ verstärkt wird oder entlastend wirkt. So sollen im Weiteren Korrelationen aufgezeigt werden zwischen sog. natürlichen Verhaltensweisen und Eigenschaften bzw. Verstärkungen, die mit der politischen Wirkungsgeschichte („Flüchtling“) hinzukamen und unvermeidlich zu so etwas wie einer spezifischen „Disposition“ führten.
2 Korrelationen von Charaktereigenschaften und gewaltvollen Verstärkungen
Charaktereigenschaft Scheu, Schüchternheit
Als Mini sich verliebt, kommt, wie bei so vielen, ihre ganze Scheu und Schüchternheit zum Vorschein. Dass sie andererseits auch gar nicht „schüchtern“ ist, gehört sozusagen zur Normalität, eben eine Mischung aus Schüchternheit und Gegenteiligem.
Als sie, nach beträchtlichen Hürden, mit ihrem Schwarm Bela zusammenliegt, wird sie nochmals von ihm gefragt, „Wie heißt du?“. Mini reagiert so: „Mit drei Worten hatte Bela die ganze Stimmung zwischen uns zerstört. Ich wollte nicht wissen, wie ich hieß und wer ich war.“
Nun stellt sich die Frage, wie diese Innensicht Minis zu interpretieren sei. Bis heute und weiterhin werden an solchen Stellen, die durchaus entscheidend, Fehlinterpretationen laut. Zu den bürgerlichen Varianten etwa gehört, dass das Alter halt schwierig, der- oder diejenige etwas eigenwillig sei und lauter solches Zeug, dem gemeinsam ist, dass es zu allgemein und Erklärungen, zutreffende Gründe, vermissen lässt. – Als Bela an anderer Stelle nachhakt, sagt sie schließlich, ebenfalls verknüpft mit Innensicht: „ ‚Mini Tu.' Ich mochte meinen Namen nicht. ‚Berliner Straße 123.' Ich schämte mich für meine Adresse.“
Bekämen Menschen dies zu Ohren, würden nicht wenige – man kennt es – wohl sagen: „Steh doch dazu.“ Womit Beitrag und Interesse gewöhnlich zu Ende wären. Wie das aber gehen kann, „zu sich zu stehen“, dazu ist oft nichts zu hören. Dazu gehörte, sich erst einmal für genaue Hintergründe zu interessieren. Die kommen im Buch z. B. so zum Vorschein:
„Ich holte mir eine Cola aus dem Kühlschrank und ging ins Wohnzimmer. Der alte Wandschrank fiel mir ins Auge. Er war eine Spende gewesen wie so vieles, als wir gerade in Deutschland angekommen waren. Ich schaute auf den abgewetzten Teppich, den zerkratzten Tisch. Solche Möbel sah man nur noch auf dem Sperrmüll. Bloß das Sofa hatten wir vor ein paar Jahren neu gekauft, weil aus dem alten die Sprungfedern rausgekommen waren.“
Was nun ihre Person und ihr Äußeres betrifft, so möchte Mini am liebsten eine ganz normale, attraktive Deutsche sein. Also ein Wesen wie viele andere in ihrem Umfeld. Mit ihrer geografischen Herkunft und Kultur, die sie im Alter von drei Jahren zurückließ, kann sie oft nicht viel anfangen und steht ihr in jeder Beziehung äußerst skeptisch gegenüber. Das hat zunächst damit zu tun, dass sie nicht in ihre Sozialisation passt. Ihr Vater passt sich so weit an, dass er ein Chinarestaurant führen kann. Darüber hinaus folgt er, verständlicherweise, seinen Gewohnheiten, die eben anderer Kultur entstammen. Der Fehler besteht nun darin, dass der Vater gar nicht zu bedenken scheint, jedenfalls signalisiert er nichts davon, dass seine Tochter von vorneherein einem kulturellen Konflikt, der bei Heranwachsenden (die lauter Ersterfahrungen machen ...) schwer wiegt, ausgesetzt ist. So verlaufen z. B. die Geburtstage von Mini wie folgt:
„Auf den Kindergeburtstagen der anderen gab es immer Kuchen und Kartoffelsalat. Als ich feierte, gab es Hühnersalat mit Fischsoße und gebratene Nudeln mit Garnelen. [...] Als meine Freundinnen aber kamen, glotzten sie nur blöd. Sie mochten weder die gebratenen Nudeln mit den teuren Garnelen (‚Iiih! Würmer!') noch den Hühnersalat mit der vietnamesischen Fischsoße Nuoc Nam (‚Iiiiiiiiih! Das stinkt!'). Ein Mädchen schrie: ‚Iiih!', und die anderen schrien es nach. Sie gefielen sich so sehr darin, ständig ‚Iiiiiih!' zu schreien, dass sie gar nicht mehr damit aufhörten. [...] Ich schämte mich so sehr, dass ich nur noch stumm dasaß und hoffte, dass alles bald vorbei war. / Als ich später meinem Vater vorwarf, meine Freundinnen hätten die Garnelen und die Fischsoße ekelig gefunden, meinte er, dann würde er das nächste Mal halt Hühnerfüße in Essigsoße machen.“
Die Schlussfolgerung des Vaters wirkt – in der Situation wie eine Pointe – nicht ohne Komik. Aber die Komik beruht eben möglicherweise darauf, dass er sie selbst nicht realisiert oder dies nicht zeigt. Im Weiteren werden hier natürlich bornierte deutsche und westeuropäische, um es darauf zu begrenzen, Verhaltensweisen vorgeführt, insbesondere die blasierte Erziehung junger Mädchen hin zum Wort „ekelig“, das allein schon ausreicht, alles Mögliche zu ‚stigmatisieren', es sich jedenfalls vom Leib zu halten, womit sie in einer ‚reinen', aber auch gewissen ‚Schein-Welt' bleiben. An solchen Stellen, wie zum Geburtstag ihrer Freundin vietnamesisch-chinesischer Herkunft, schlägt all das um in lückenlose Geschlossenheit und Abwehr.
So verfügt die Protagonistin kulturell weitgehend über eine doppelte Optik und bleibt in Kernbereichen ihrer Existenz im Grunde völlig allein, weder von der einen noch von der andern Seite verstanden.
Von daher – was seine Vorteile hat – bekommt das Verliebtsein in Bela ein potenziertes Gewicht. Die ganze kontrastierende Situation spielt mit hinein. Eben deswegen, weil ein Mensch ganz angenommen werden möchte. Und Mini spürt genau, was realistisch ist an ihren Hoffnungen und was sie verderben könnte. So heißt es:
„Ich wusste nicht, wann ich jemals so traurig gewesen war. Ich saß in diesem gelben Licht, das von der altmodischen Deckenlampe herunterstrahlte. Ich saß vor einem leisen Radio. Ich saß vor einem schwarzen Fernseher, in dem ich mich nur selbst spiegelte. Das Telefon läutete nicht. Niemand klingelte an der Tür.
Im Radio war gerade Stille. Der Sekundenzeiger der Wanduhr klackte immer weiter. Dann war der Tag zu Ende und es war Sonntag. Totensonntag, dachte ich. Es war nicht Totensonntag, aber ich dachte, Totensonntag ist das Wort, das passt.“
Das „in dem ich mich nur selbst spiegelte“ deutet wie beiläufig, bei aller Integration, auf grundlegendes Alleinsein. Und das erhöht Scheu, auch Schüchternheit.
Charaktereigenschaft Furcht, Selbst-Reflexion, Vorsicht, Mut, Gerechtigkeit
Manche Stelle des Buches deutet darauf, dass Mini eine Disposition der Furcht zu eigen ist. (Oder ist es einfach Furcht?) Es kann daran ersichtlich werden, dass sie z. B. Autogeräusche ungleich lauter hört als sie sind oder Abstände sich drastisch in der Wahrnehmung verringern. All das wird von der Protagonistin selbst minutiös festgestellt. Sie nutzt ihre Sensibilität, die ggf. in Schreckhaftigkeit und Furcht umschlägt, um die Situation und sich selbst – sehr ausgedehnt – zu beobachten. Über die Selbst-Beobachtung kommt sie zur Selbst-Reflexion. Es ist ein Prozess, in dem sie ihre eigene Sensibilität stetig weiter erschließt.
Der Ausbau solcher Fähigkeiten ist Menschen zu eigen, die zunächst einmal passiv in eine Situation gezwungen werden. Es dehnt sich bei Mini so weit aus, dass sie noch die Beobachtung der Beobachtung beobachtet und sich bewusst macht. Einfachen Sätzen kann dies entnommen werden wie z. B.: „Onkel Wu beobachtete meine Reaktion genau.“ Mini ahnt und weiß, dass diese Fähigkeit der Schlüssel ist, der ganzen Situation, wenn überhaupt, zu entkommen, aus ihr herauszufinden. So erforscht sie immer genauer, was um sie herum vorgeht. So konstatiert sie z. B.: „Alle fünf Sekunden sammelte sich das Wasser zu einem Tropfen, der schwer wurde, tief nach unten fiel und laut platzend aufschlug.“
Es wird also nicht einfach von einem Wassertropfen gesprochen, sondern der Vorgang wird differenziert, auf seine Entstehung hin geprüft („sammelte sich das Wasser zu einem Tropfen“); überdies schlägt er – immerhin nur ein Wassertropfen – „laut platzend auf“. Es dürfte sich, neben dem naturalistischen Vorgang an sich, um eine verschobene, metonymische Metapher handeln, die auf Gewalt deutet, eine Metapher, die auf schwer gewichtige Zusammenhänge, die an dieser Stelle nicht ausgesprochen werden, verweist.
Aber an anderer Stelle werden sie ausgesprochen oder angedeutet. So bleiben z. B. Rassismus-Anklänge, um es dezent auszudrücken, auch Chinesen nicht erspart. So wird die Protagonistin bei einem zunächst harmlosen Disput auf der Toilette einer Disco angefahren mit „Geh Reis pflücken!“. Oder: Als jemand im China-Restaurant Geld entwendet und gerade noch vom Koch des Restaurants gestellt wird, wird dieser vom Täter als „Schlitzauge“ und „Fettsack“ beschimpft. Hier „hatte man sogar die Auswahl“, stellt die Protagonistin lakonisch fest.
All das trägt dazu bei, dass sich die sechzehnjährige Mini „kraftlos“ fühlt. An Bela, mit dem es zu etwas Intimität kommt, schätzt sie die Ruhe. Was zugleich bedeutet, dass sie für sich selbst der Ruhe, in welcher Ausprägung auch, vielfach entbehrt. Die Verhältnisse nagen an ihr.
Mini bewegt sich oft sehr vorsichtig, und es gibt manchen Beleg dafür, dass sie sorgsam und liebevoll mit jemand oder etwas umgeht. Das geschieht nicht zuletzt aus der Entbehrung heraus. Und natürlich existieren auch bei ihr Gegenseiten.
Auffällig ist andererseits ihr Mut. Wenn es eine realistische Möglichkeit der Veränderung gibt, setzt sie sich ggf. energisch ein, erhebt ihre Stimme. Denn sie hat einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit.
Charaktereigenschaft Tiefsinn, Pragmatismus, „sinnliche Entfaltung“
Zu den richtungsweisenden Fähigkeiten von Mini gehört indessen, wie genau und richtig sie identifiziert, und zwar – nicht selbstverständlich – mit Sinn fürs Wesentliche. Sie zieht dem, was es zu erörtern gilt, nach, bedenkt von allen oder mehreren Seiten, was relevant erscheint, ein wohl angeborener Hang zum Tiefsinn. Der durch entsprechende Anlässe, wie die angedeuteten, verstärkt wird.
Eine Funktion von „Tiefsinn“ ist, für sich selbst Identität zu erzeugen. Eine andere Funktion ist, mit unliebsamen Erinnerungen, überhaupt mit Unliebsamem zurechtzukommen. Aus all dem, was der Protagonistin widerfuhr und was sie ist, hat man als Leser nicht selten Eindrücke echter Menschlichkeit.
Andererseits ist sie „ganz normal grausam“. So werden z. B. keine „Gewissensbisse“ spürbar, als sie mit dem Schwarm ihrer Freundin anbändelt. Dabei handelt es sich um Archetypen, die wohl alle Menschen „gleich“ reagieren lassen. So wirkt der Umschlag in die geschlechtliche Dimension absolut und lässt von selbst alles andere als „nachrangig“ zurück. So stellt sie nach der ersten näheren Begegnung mit Bela auf dem Nachhauseweg fest: „Immer wenn ein Auto vorbeirauschte, hoffte ich, dass es Bela war. Eigentlich wollte ich an Sarah denken. Aber es ging nicht. Ich wünschte mir, immer noch in Belas Armen zu liegen, während Don't cry lief.“
Chinesen, wie man erfährt, seien sehr pragmatisch. Das gilt auch für Mini, die Gedanken „immer auch“ auf ihren praktischen Wert sozusagen abklopft. Als z. B. eine Telefonverbindung abbricht, ruft sie, wie so viele, automatisiert „Hallo“ in den Hörer. Stellt aber daraufhin fest, „Hatte jemals eine Leitung wieder funktioniert, wenn man ‚Hallo, hallo?' in den Hörer rief?“.
Andererseits löst sich die Protagonistin vom Bloß-Pragmatischen. Denn die Ausbildung ihres Imaginationsraums schreitet stetig voran.
Dieser blüht vor allem dann, wenn es um sinnliche Wahrnehmungen aller Art geht. Der Zusammenfall von Sinnlichkeit und Erkenntnis steht gewissermaßen im Zentrum des Textes. Hier wird die Seelenlage der Protagonistin erfahrbar. Vor allem dadurch wird der Mensch hinter und in allem erkennbar. Und wer Vor-Urteile hatte – durch Sympathie, durch Mögen, durch Erkennen bei der Lektüre der vielen Wahrnehmungen schmelzen sie dahin. Oder so gesagt: Die Innensicht der Protagonistin wird reichhaltig entfaltet und überragt im Grunde alles andere im Text.
3 Historie und Biografie
Im China-Restaurant herrscht, wie an so vielen Stellen der Erde, allseitiges Schweigen über die Vergangenheit. Der Laden läuft zwar, wenn auch gerade am „Existenzminimum“, aber niemand ist glücklich. Es gibt da „nicht abgerechnete“ biografische Abschnitte, die „Arbeitsweigerung“ und Abhängigkeit zur Folge haben, eine fehlende Arbeitserlaubnis, das Hausen im fensterlosen Keller des Restaurants, und der Vater von Mini arbeitet im Grunde nur, ängstlich darauf bedacht, die Kunden nicht zu verlieren, ohne ein bisschen Glück für sich und seine Tochter zu erreichen. Von der abwesenden Mutter ist fast gar nicht die Rede, was auch etwas sagt. Das alles prägt die Situation zu einer unterschwellig finsteren, während es „zum Job“ der Beteiligten gehört, Freundlichkeit zu erzeugen. Erst als Onkel Wu, der ältere Bruder des Vaters, aus Australien eintrifft, werden allseitig Prozesse angestoßen, die insgesamt eine deutlich lichtvollere Situation und Atmosphäre ergeben – was aber erst einmal bedeutet, sich mit problematischen Anteilen biografischer Vergangenheit zu befassen.
Als also angefangen wird zu sprechen, teilt Bao, der kräftige Koch, der eine Kung Fu-Ausbildung in seinem Heimatland absolvierte, mit, dass er Angst gehabt habe, als er in Deutschland eintraf und spricht von einer „Geisterlandschaft“. „Alles war weiß, überall lag Schnee.“ „Wieso hatte man Angst vor Schnee?“ fragt sich Mini. Erst später kommt die Auflösung. Bao hatte Tage und Nächte auf dem Meer verbracht, in denen alle damit zu rechnen hatten, dass das Schiff untergehe. Das, was sich hinter dem Wort „Boat-People“ verbirgt: viel zu viele Menschen, zu schwache Boote. So erzählt Bao, „... selbst die Kinder quengelten nicht. Alle waren stumm und bewegten sich, als seien sie nur noch Schiffsgeister“. So hatte sich, bei Ankunft in Deutschland, aus der Todesangst heraus „Schnee“ mit „geisterhaftem Dasein“ verbunden; so war er, im Hinblick auf Deutschland, seinen ersten Eindrücken nach zu dem Wort „Geisterlandschaft“ gekommen.
Auch bei Mini könnte es signifikante Spuren aus dieser Zeit geben. So reagiert sie zuweilen mit Abwehr, wenn andere Menschen ihr körperlich nah kommen. Es kann natürliche Gründe haben, aber auch mit unangenehmer körperlicher Dichte jener Frühzeit zu tun haben. Auch die Wohnsituation in Deutschland könnte da eine Rolle gespielt haben. Das erste Jahr waren sie in einer Wohnung, „die wir uns mit vielen anderen Flüchtlingen teilen mussten. Erst ein Jahr später haben wir unsere Wohnung bekommen“.
Zuvor hatten alle Beteiligten, die dann im China-Restaurant zusammen arbeiten sollten, ein Jahr in Thailand in einem Flüchtlingslager gelebt.
Als Mini mitkommt, um Onkel Wu am Flughafen abzuholen, erinnert sie sich plötzlich. „Auf einmal stieg ein Bild in mir auf. Wie ich in einer kalten Halle stand mit einem kleinen Stoffhasen in der Hand.“
Bei der Protagonistin ist oft die Rede von Scham, „sich schämen“. Das deutet auf entsprechende „Gegenstände“, aber auch auf Entwicklung. Mini ist so sozialisiert und so intakt, dass sie „Scham“ empfinden kann, das ist auch zu sehen. Aus der Realisierung solcher Benachteiligung an sich selbst zieht sie entscheidende Anstöße für ihr Gerechtigkeitsempfinden, ihre Ethik.
Auch die Theatermetapher, von der ab und zu die Rede, mag hier zu einem Teil ihren Ursprung finden. Nicht zuletzt angesichts solcher harten inneren Realitäten, wie Scham empfinden zu müssen, kommt der Protagonistin vieles andere wie „Theater“ vor.
Bei der Vervollständigung ihrer Biografie hat Mini zu dem Schluss zu kommen, ich hatte „immer mehr das Gefühl, nicht mehr wie früher zu sein“. Und erkennt, dass auch solches Wissen seine Doppelseite hat.
Bei genauer Betrachtung gab es dazu keine sinnvolle Alternative. Onkel Wu war es, der es im Buch treffend zum Ausdruck brachte: „Ich rede nicht von allen alten Sachen, die auf dem Grund liegen. Die meisten soll man nicht mehr aufwühlen. Nur wenn die Sache giftig ist und mit der Zeit immer giftiger wird, muss man sie hervorholen.“
Mini hatte den Prozess der Aufdeckung selbst – etwa im Gegensatz zu ihrem Vater – kräftig vorangetrieben, indem sie die richtigen Fragen stellte und, bei unklaren Antworten, ihre Fragen zu präzisieren verstand.
4 Schlussteil
Bei allen herausgestellten Vorzügen hat das Buch doch etwas Serielles und ich hatte manches Mal den Eindruck, dass es nach einem Plan „runtergeschrieben“ wurde. Das ist natürlich ein probates Mittel, heißt aber auch, in dem Fall, keine Experimente im Stil, keine typografischen Abweichungen, keine Formenvielfalt innerhalb des Manuskripts (z. B. innerer Monolog). Auch ist das Buch in einem gewissen Gleichmaß geschrieben, was seine Vorzüge hat, die Erzählerstimme, die Dialoge erhalten so etwas Zuverlässiges. Andererseits finden sich z. B. wenig Aufgeregtheiten, keine Ausbrüche, die sich, wie gesagt, auch in der Form ausdrücken und ggf. noch mehr ‚Spannung' erzeugen könnten.
Das Buch wird als Jugendbuch ausgewiesen und enthält sicher diesen üblichen „Kunstgriff“: Eine zu sich gekommene Stimme reiferen Alters wird der jugendlichen Protagonistin unterlegt. Manches Mal lässt sich halt denken, so denkt und formuliert keine Jugendliche, sodass sich die Frage stellt, inwieweit die Protagonistin – neutral gesagt – eine Kunstfigur ist.
Das Buch lässt dem Leser überdies wenig Raum, selbst – in Gedanken und Gefühl – schöpferisch tätig zu werden. Dafür gibt es kaum Leerstellen oder Freiräume (z. B. durch mehr Abstraktion oder dadurch, Begebenheiten etwas offener zu lassen), alles wird genau beschrieben; diese Dichte an Konkretionen wurde wenigstens mir, als Leser, am Ende zu viel.
Die Hauptleistung des Buches – zusammengefasst gesagt – liegt m. E. in Folgendem: Identität realisiert sich dadurch, dass innere Feinwahrnehmung mittels Protagonistin ausgedehnt erschlossen und thematisch wird. Das ist, nicht nur im Hinblick auf „Flüchtlinge“, von exemplarischem Wert und sozusagen vorbildhaft. So hat der Leser es am Ende mit weitreichend erschlossenen Identitäten zu tun, die, obgleich auch Schattenseiten geschildert wurden, sympathisch und liebenswert sind. Von daher ist das Buch auch ein Erkennungs- und Kommunikations-Angebot. Und ich gebe gerne zu, dass ich nun mit völlig anderen Augen auf ein China-Restaurant sehe und auf Mitbürger vietnamesisch-chinesischer Provenienz.
Wie nach Lektüre jeden guten Buches, nimmt man die Figuren – mir ging es so – gerne in sein Herz auf.
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Ralf Willms
Lyrik
Gedichte, Gewalt I, II
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