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Friederike Mayröcker Cahier
Zu Friederike Mayröckers Band Cahier
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Friederike Mayröcker
Cahier
192 Seiten
Suhrkamp 2014
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„weiszt du mein liebster Freund ich verschlafe himmelwärts meine Tage und Nächte und ich habe Angst dasz dies die Ankündigung des nahen Todes sei ich meine dasz er sich in meinen Träumen ankündigt […] im Grunde war es so dasz sie, die Mutter, immer meine Gedanken erriet ja, sie im vorhinein wuszte, noch ehe ich selber sie wuszte […]“
Diese Zeilen spannen, wenigstens biografisch, den zeitlichen Rahmen auf: das Ende, den Anfang. Notate zur verstorbenen Mutter nehmen im Verhältnis zu études
– dem ersten Band des als Trilogie angelegten Unternehmens – zu, wie überhaupt Herkunfts- Erinnerungen und Erinnerungen aus frühen Kontexten. Dies ist der eine Pol. Der andere Pol besteht im Fortschreiten von Reflexionen im Erkennen der Angst vor dem Tode und im Befinden des damit einhergehenden Zustands.
Früherinnerung, die sich einprägte, erscheint am andern Pol der Zeit in sonderbarem Licht (S. 18): „[…] am Pier von Triest : unvergessen am frühen Morgen als noch der Leuchtturm am jenseitigen Ufer im Osten unvergeszlich weiszt du, Triest, 2 Tage, das Meer umspülte die bloszen Füsze, allein, fast noch Nacht damals, unvergeszlich Triest (trist? nein! hohen Mutes, weiszt du, in welchem Leben war das“. Das jeweils zweimalige „unvergeszlich“ und (im Band cahier leitmotivisch werdende) „weiszt du“ beschwören geradezu den Adressaten, die Zeit, die ja bleibt, wo sie ist, fern. Noch zunehmendes Zu-sich-gekommen-Sein, die Lebensendphase, weiteres Fortschreiten des zeitlichen Abstands machen solche Erinnerungen, bei aller Verblasstheit, noch kostbarer; sie werden gerettet, diese Erinnerungen, vor ihrem Untergang, wenn auch die Diskrepanz bleiben muss – nicht unähnlich der Grenzlinie des Todes – zwischen Sprachgebung und Zugrundeliegendem.
Solche Erinnerung geht mit Erkenntnissen einher, die sich nach längerer Zeit erst ergeben dürften, so beginnt der „Haupttext“ auf Seite 20, unter einem handschriftlich eingezeichneten Notenschlüssel: „der der mehr liebt ist der Bedürftige : er steht mit ausgestreckter Hand und wartet auf eine Liebesgabe […] weiszt du, Geheimnisse preisgebend“. Auch das eine Tendenz des Buches, die aus allen vorherigen aufgenommen und nochmals einige Schritte weitergeführt wird: das Zugeben, das befreiend ist; sich hilflos und nackt in bestimmten Situationen offenzulegen. Es betrifft auch die Kreatürlichkeit des Menschen; wohl ausgehend von hohem Alter, verschwinden weitere Rücksichten; es wird gesagt, was vorkommen kann, so auf S. 93: „der Schliezmuskel möchte 1 wenig nachgegeben haben meint der Arzt so dasz die Exkremente immerzu“. Es ist das Sagen, reich in sich entwickelt, hin zu einem Tragenden-Umfassenden; etwas, das erreicht wurde. Anfänge betreffend, kann man sich an das Kind erinnern, das in der Familie und überhaupt alles sagen wollte; das nur dann wirklich gut bleiben kann, wenn es alles sagt. So das Schreiben Friederike Mayröckers, wenn auch aus vielen Motiven heraus: alles zu sagen.
Alles zu sagen, hat freilich viele Ebenen; eine dieser Ebenen ist der Weg zur immer neuen sprachlichen „Sensation“, so z.B. S. 95: „Gartenschminke in zierlicher Luft“; man weiß in etwa, was gemeint ist, „sonderbare Stimmungen“ kommen zur Andeutung; ein noch gewagterer Umgang mit der Stilfigur der Synästhesie bringt Intimität noch hellsichtiger, intensiver hervor, wie (S. 25): „sein nackter Fusz aus dem Gärtchen flüsternd“. Oder die Rede geht auf „Wallfahrt des Schlafes“. Doch was auf Erholung und innere Reise aus ist, kommt wenig später, zweideutig, als Todesmotiv daher: „Mir fallen die Augen zu …….“ Das Motiv der geschlossenen Augen. Dabei sind die Tage längst geweiht (S. 94): „du wirst es nicht glauben aber seit ich diese Medaille der Gottesmutter an einem Goldkettchen um den Hals, habe ich nur geweihte Tage, eben in allen Lauben meines Liebesgedächtnisses“. Ein damit einhergehendes, durchgängiges Motiv – bzw. auch das gilt für das Schreiben Friederike Mayröckers insgesamt – ist das Motiv des Alles-Bergens, Rettens, Durchbringens von allem Leben, so (S. 95): „einer winzigen grünen Kastanie (›werden wir sie durchbringen?‹)“. Es gehört zur Vision (des Schreibens), die entsprechend vielschichtig sein wird (S. 96): „Mir schwebt etwas vor“. Oder einfach und grundlegend, doch absolut verbindlich gesagt (S. 98): „ich versuchte, der Welt liebevoll zu begegnen“.
So ist das Schreiben Friederike Mayröckers absoluter Gegen-Entwurf zu Bestehendem; man braucht nicht auf Politik und gewisse Schauplätze der Erde zu verweisen, so wie dies nicht in der Dichtung vorzukommen braucht; hier führt jemand ein völlig anderes Leben und ist nicht bereit, in Niederungen einzutauchen, in denen Menschen etwas getan wird -
Hauptmotive werden in cahier, noch mehr als in études, fugenartig wiederholt, variiert; der Leser gerät, im Rhythmus der Sprache, in eine musikalische Struktur. Für meinen Geschmack wird der Aspekt der Wiederholung bzw. Variation zuweilen übertrieben; es zeugt wohl auch von der „Unmöglichkeit“ für die Schriftstellerin, auf stetiges Hinzufügen von Notierungen zu verzichten. Was ich überdies als abträglich empfinde, ist das Tränen-Motiv, vielmehr Nennung des Wortes; es geht seit vielen Bänden, in jedem Band erscheinen x-fach Formulierungen wie (S. 161): „rührt mich alles zu Tränen“. Was soll das? fragt es da zuweilen in mir, es wurde doch genug, alles getan, um zu berühren. Eine solche Wendung bewirkt eher das Gegenteil; als würde die Frage gestellt, wie ernst das Ganze zu nehmen sei? Wobei (mir) klar zu sein scheint: alles ist ganz unernst und ganz ernst. Und: Sicher, die „Diva“ Friederike Mayröcker hat noch Freude an der eigenen „Exzentrik“, am Spiel der Verwandlungen (S. 94): „habe über Nacht Lockenkopf bekommen, rufe wie 1 Uhu …….“ Die „externe Welt“ ist dabei das, was poetisch abgewonnen wird, ansonsten vor allem das, was sie auch ist: vielfach bedrohlich (S. 94): „die Welt ist voll von UNSANFT, 1 Lichtstrahl durchbohrt mich“. Die zarte Disposition erscheint in Konfrontation mit externer Gewalt, schon ein Lichtstrahl kann Perforation bewirken oder diese aufwühlen. Das geht einher mit weiteren Zustands-Elementen (S. 95): „ach bin 1 wenig halluzinatorisch geworden“. Dazu scheint wiederkehrend Bewusstsein von „Letztbewegungen“ durch (S. 95): „habe biszchen GESPRUDELT im Lehnstuhl im Sitzen gesprudelt war Erleuchtung Erleichterung, war alles nasz zu Füszen, und immenses Geständnis“. Wärme, und Mangel daran, bleiben ein Thema (S. 95): „weiszt du, das Kissen umarmend“. Innigste Selbst-Intimität (S. 95): „drückte sie [grüne Kastanie mit zarten Stacheln] ins Innere meiner Hand“. Dabei entgeht der Selbst-Reflexion im Grund nichts mehr (S. 96): „fühlte mich streng auf dem Bett sitzend“. Und schließlich (S. 168): „habe alles durchschaut“.
Die großen Themen spitzen sich weiter zu und man könnte meinen, sie stehen kurz davor, in noch etwas anderes überführt zu werden. Ein Anhaltspunkt dazu ist, dass das Textsubjekt geradezu in das eingeht, wovon gesprochen wird. Neben der erwähnten rhythmisch-musikalischen Struktur der Sprache, die zuweilen auch ausbleibt, wird manches aus der bildenden Kunst, insbesondere der Malerei aufgegriffen, so z.B. (S. 185): „des Kindes zartes Gewand sich auflöste in den Pastelltönen der jg. Mutter“. Das „Näherkommen der Welt“ in sich findet weitere (Stil-) Mittel, so bei Anklängen an die Frühromantik (S. 187): „duftend die Waldvögelchen landen : auf meinem Finger als wollten sie meine Seelenfreunde werden“. Alles das korrespondiert mit animistischen Ressourcen, einer beseelten Welt, Zentrum ist das Subjekt (S. 186): „als schwirrten uns die Vögelchen zu .......“. Oder (S. 171): „ach die Glockenblumen (in der beseelten Ecke nicht wahr)“. Unterschiede zwischen den Personen werden eingeebnet, das Textsubjekt verwandelt sich in ein Mädchen, ist dieses Mädchen bzw. gibt vor, es zu sein (S. 185): „Die jg. Mutter trug Sonnenbrille, der jg. Vater weiszen Seidenschal, der blaue See schimmerte durch den Wald, das Mädchen Laura innig [...] Herzflamme im Rücken, bin selbst dieses Mädchen Laura, klassische Rippe, gewesen, biszchen laufend am blauen See“. Auch von Sehnsucht nach der Ursprungsfamilie zeugt ein solcher Passus. Personifikation findet sich auch in der Metaphorik zur Natur. So kann (S. 93) „in den Armen der Natur“ zunächst als abgegriffener Topos erscheinen, doch gewinnt er in diesen Kontexten an neuer Bedeutung, deutet auf Absolutes.
Das Medium, in welches all dies überführt wird, ist schließlich das Werk (S. 166): „sehne mich nach dem zu entstehenden Werk“. Oder (S. 161): „selbst die eigenen Bücher […] dieses Eden“. Da wird weiter der eigene Kosmos errichtet, genaue und strengste Kriterien herrschen, in aller Leichtigkeit, vor (S. 167): „beiszt sich lieber die Zunge ab ehe sie ›gottseidank‹ sagt“. Poetologisches für den Band études wird nachgereicht, zugleich klingen an dieser Stelle Kontaminationen an mit dem einstigen Geliebten, der Terminus „Himmelfahrt“ lässt dabei an christlich-sakrale Kontexte denken (S. 98): „mir schwebt etwas vor, als ich an den Etüden arbeitete, schwebte mir die Himmelfahrt eines Ästchens vor, ich umarmte deine Seele“. Im buchstäblich weitesten Sinn poetologisch ist auch (S. 189): „die Träume nämlich stiften Poesie“. Jemand, der in dieser Weise in seiner Kunst, sagen wir: in allem aufgegangen ist, möchte jetzt offenbar, dass es so bleibt (S. 101): „möchte keine Veränderungen, möchte alles so belassen wie es ist“.
Und doch, bei all dem inneren Reichtum, gehört das Auskargen, das Ausgezehrt-Sein zu den gewichtigsten Begleiterscheinungen des Kunstschaffenden, so im Schreibprozess, die schlagende Begründung lautet: er findet im Innern des Einzelnen statt! So heißt es (S. 167) vielschichtig: „bist mein Inbild : mein Seligmacher […] Sehnsucht nach dir nach einem Wort von dir“. Der häusliche Raum, die nähere Umgebung wird zum Feld der Durchdringung, kontaminiert mit der Fruchtbarkeit der Dichterin. Von daher entstehen solche Momentaufnahmen (S. 100) und sind eben nicht trivial: „beim Erwachen den Fokus auf einen bestimmten Punkt des häuslichen Chaos heftend …….“. Die Tätigkeit am Sublimen, als Kunstschaffender, Schreibender allein, evoziert umso heftigere Trieb-Herauslassungen (S. 101): „Die Vorstellung hüpfender Ärsche bei Antonin Dvorak“. In seiner Kunst sein bedeutet: Freiheit und Gefängnis zugleich. Freiheit, weil spätestens seit Mallarmé alles möglich ist. Gefängnis deswegen, weil jemand wie Friederike Mayröcker in buchstäblich jedem Moment den Faden, die Fährte zum Leben im Schreiben, zu dem sie kam, nicht mehr abgibt (S. 100): „schlage wie 1 Vogel mit den Fittichen in Gefangenschaft nämlich Verworfenheit, ach mein abgezirkeltes Leben“.
So lässt sich schließlich alles biografisch lesen, zugleich kommt alles ohne Biografie aus; darin besteht die Verbindlichkeit, wenn man also so will, die Kunst! Jemand in dieser Daseinsform ist durchlässiger, so auch für Verzweiflung, zugleich davor geschützter, denn es besteht dazu ein Werk (S. 161): „die unauffindbaren Gegenstände“. Also das Motiv Des-bereits-verloren-Habens. So auch und gerade durch jene Liebe, die ging (S. 161): „am frühen Morgen im Juli als der geliebte Hase noch hüpfte in unserem Garten : nun unser Sternbild am Julihimmel …….“. Kurz darauf (S. 163) erscheint das zugehörige Todesbild: „die bleiche Schönheit des toten Hasen […] lag er in zerdrückter Wiese (als hätten sich Liebende da geliebt) […] hingegeben dem eigenen Tode, Hasengrab“. In der Nacht kommt, wie man weiß, alles oder manches potenziert heraus (S. 162): „die Nacht uns Wunden schlägt und quält uns mit gräszlichen Träumen heimsucht uns zittern macht“. Das Private, doch weit weniger „privat“, als menschheitsgeschichtlich lang angenommen wurde, wird ganz und – endlich – ohne Mehrdeutigkeit aufgenommen (S. 167): „wenn ich lange auf meinem linken Ohr liege ist es ein wenig taub“.
Vor gewissen Tabus wird – endlich – kein Halt mehr gemacht (S. 188): „Diese meine Krankheit ich meine diese meine DURCHSCHWITZ-KRANKHEIT“. Was einst so natürlich war, nur der Gelegenheit und des Entschlusses bedurfte, ist im Angesicht definitiven Zu-Ende-Gegangenseins doch das, was die Schriftstellerin beschwört, aufrecht erhält, Tränen-auslösend (S. 173) „du sagtest lasz uns 1 wenig spazierengehen und wir machten 1 paar Schritte im Obstgarten“. Berührend, Selbst-Verkleinerung im Alter bis ins Verschwinden, wohltuender Unernst in ganzem Ernst (S. 190): „biszchen Wolf im Gebüsch (Hugo) Verlaine in der Vase, hockte auf Sesselchen auf dessen Lehne mein Rucksack hing so dasz ich abstürzte, ich stürzte ab, auf Sesselchen hockend […]“. Spielarten, Kindheitsreminiszenz und Liebhaberinnensprache zugleich, der Abschied von der Freude (S. 189): „sehr inbrünstig Mützchen ade“. Joachim-Ernst Berendt war es, der einmal feststellte oder aufgriff – frei gesagt –, durch welches Nadelöhr ein Künstler auch geht, es hat immer auch mit seiner Kindheit zu tun, so soll auch am Ende die Schriftstellerin das Wort erhalten (S. 186): Glorie der Kindheit.
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Ralf Willms
Lyrik
Gedichte, Gewalt I, II
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