|
|
Die soziale Frage in der Literatur von Heute
Enno Stahl im Mail-Dialog mit Dominik Irtenkauf
Teil 1 |
|
|
|
Enno Stahl
Diskurspogo
Zu Literatur und Gesellschaft
Verbrecher Verlag (August 2013) |
2013 veröffentlicht Enno Stahl im Verbrecher Verlag sein Buch Diskurspogo. Über Literatur und Gesellschaft, in dem er in verschiedenen Kapiteln der Frage des Sozialen in zeitgenössischer Literatur nachgeht. Tiefgreifende Veränderungen des sozialen Rückhalts in der bundesdeutschen Gesellschaft wie die Zunahme der prekären Beschäftigungsverhältnisse, eine tiefe Abhängigkeit der Politik vom Lobbyismus und von Partikularinteressen, Privatisierung von Sozialsystemen und ungezügelter Konsumismus werden laut Stahls Analyse nur marginal in zeitgenössischer Literatur thematisch aufgegriffen.
In mehreren E-Mails wird versucht, an die Positionen des Buchs von Enno Stahl anzuknüpfen, den Horizont aber auch weiter zu spannen.
Dominik Irtenkauf
15.11.2013 | 01:53
Lieber Enno Stahl,
wegen einer Tagung in Berlin Anfang Oktober konnte ich bislang nur sporadisch in Ihrem neuen Buch lesen, fand aber bereits interessante Aspekte, die ich mir für einen Artikel notiert habe.
Auch kam mir die Idee, über mehrere E-Mails die im Buch angesprochenen Aspekte eines Literatur-und- Gesellschaft-Verhältnisses anzureißen und in der entsprechenden Kürze oder aber Länge abzuhandeln, aber stets mit ergebnisoffenem Blick. Diese Prozedur verlangt nach Zeit & Energie, die Ihnen sicher nicht im Überfluss zur Verfügung stehen. Vielleicht ergibt sich aber über die Korrespondenz, sofern es die Zeit erlaubt, eine entsprechende Form des Gesprächs.
Mir gefällt der Entwurf des Buchs aus dem Punk heraus, wiewohl dieser Musikstil mehr als zum Beispiel Metal, dem ich in meiner Jugend verfallen war und dem ich inzwischen wieder viel schreiberische Aufmerksamkeit widme, unabhängig von der gehörten Musik angenommen werden kann, als politische Attitüde. Beim Extreme Metal, für den ich mich klanglich aber auch journalistisch besonders interessiere, ist das nicht so einfach. Erst gestern am Donnerstag erschien auf ZEIT.de ein Artikel eines in Berlin lebenden Norwegers, der eine Literaturzeitschrift publiziert, in dem das Spektrum norweg. Black Metals erneut auf die Kapitalverbrechen einiger weniger reduziert wird bzw. der Nazismus-Background einiger Musiker genannt wird, ohne auf den material sound hinzuweisen. Über den Umweg des Sounds wäre solcher Extreme Metal durchaus auch für sozial relevante Texte zu gewinnen. Die Vehemenz könnte entsprechend auf Mißstände hinweisen.
Diskurspogo bringt, wie mir scheint, bereits als abgelegt geglaubte Positionen eines sozial-analytischen Romans in den Diskurs, indem verhältnismäßig junge, d.h. gegenwärtige Literatur diskutiert wird. Stellt sich dabei nur die Frage, ob es eine q.e.d.-Argumentation sein könnte, weil Pop – so schillernd das Etikett auch ist ndash; gerade diese Oberflächlichkeit ohne Sozialbezug feiert. Also etwas bereits Bekanntes aufgezeigt wird. Ein soziologisches Interesse, das soziale Zustände in Fiktionalität kritisch präsentieren könnte, wird auch heute noch bei vielen Jungschriftstellern mit Beziehungsdramen und Frühstücksszenerien verwechselt.
Kurzum: Vielleicht ist die Zeit des Romans nun wirklich vorbei, mehr noch die Kurzprosa, auch die Lyrik, die von mehreren Jungverlegern wieder stark evoziert wird (So findet dieses Wochenende sowohl das Literaturfestival „Friedrichshain-2“ in Berlin wie auch das Poetische Wochenende mit der Literatur in Weißensee statt; mit jeweils starkem Fokus auf Lyrik.) – im Journalismus ist es möglich, auf soziale Missstände zeitnah hinzuweisen, und durchaus poetologische Verfahren beim Verfassen der Texte anzuwenden.
Wieso fiktionale Rahmenhandlungen?
Mit besten Grüßen,
Dominik Irtenkauf
* * *
15.11.2013 | 09:07
Hallo Herr Irtenkauf,
danke für Ihr Interesse an Diskurspogo und an einem Dialog, zu dem ich sage: warum nicht?
Ihre Einschätzung, dass ein „soziologisches Interesse, das soziale Zustände in Fiktionalität kritisch präsentieren könnte“ ... „bei vielen Jungschriftstellern mit Beziehungsdramen und Frühstücksszenerien verwechselt“ werde, ist sicher zutreffend. In Deutschland zumindest. Ich gebe ja in Diskurspogo eine ganze Reihe ausländischer Beispiele, die einen ganz starken Zugriff auf die unmittelbare soziale Realität mitsamt ihrer Härten ausüben. Der amerikanische Roman seit Anfang der Neunziger ist – wie mir scheint – fast durchweg an solchen realistischen Konzepten interessiert – und ihm kann man kaum absprechen, dass er eine gewisse Relevanz im System der Aufmerksamkeitsökonomie für sich reklamieren kann.
Dasselbe gilt anscheinend – was ich leider bislang selber noch nicht verifizieren konnte, gerade wegen meiner im Kontext des Buches notwendigen, aber teilweise lästigen Fixierung auf den deutschen Gegenwartsroman – für außereuropäische Erzählliteratur. (Mein Kollege Norbert Niemann, der recht ähnliche Vorstellungen über das wünschenswerte Aussehen und den Charakter aktueller Literatur zu haben scheint wie ich, hat mir da unlängst einige indische und afrikanische Autoren empfohlen ...)
Diese Wirkung ausländischer Romane in ihrer aktuellen Verbreitung UND ihrer Nachhaltigkeit wird Journalismus niemals erreichen. „Infinite Jest“ wird auch in zehn, in fünfzig, in hundert Jahren die mitunter perversen Ausprägungen unserer gesellschaftlichen Gegenwart, die – man muss schon sagen – sozialen Aporien, mit denen man sich abgefunden hat, nachgerade klinisch diagnostizieren, isolieren und sie zur Reflexion freigeben. Genau so wie der „Ulysses“ – oder auch Hans Henny Jahnn und Arno Schmidt, wenngleich weniger „populär“ als Joyce.
Oder müssen wir etwa vom Ende der Geschichte ausgehen? Das könnte sein: Dass wir fürderhin historisch, gesellschaftlich und kulturell stets nur in der unmittelbaren GEGENWART leben. Dass also nur das, was aktuell auf dem Buchmarkt erscheint, seine Wahrnehmung aka – und viel wichtiger – VERWERTUNG findet, manifest und DA ist, alles Andere eben nicht, und dass es darüber hinaus keine Beschäftigung mit dem Vergangenem gibt, keine Fundstücke (weil nicht gesucht wird), nicht einmal Kanonbildung. Bzw. dass die Kanonbildung in der Form, wie wir sie kennen, eben stagniert: Welche großen Autoren der jüngeren Vergangenheit gibt es denn noch, von denen zu erwarten ist, dass ihnen wie jenen der erweiterten Vergangenheit mit Dichterhäusern, Gedenkjahren, literarischen Gesellschaften gehuldigt werden wird – Thomas Bernhard, Peter Handke, vielleicht auch Wolfgang Koeppen (schon fraglich ...).
Argumente gibt es also für diese Prognose. Ich glaube trotzdem nicht daran, auch wenn das womöglich nur ein rein spekulativer, historischer Optimismus sein mag. Sicher werden sich die Rezeptionsformen ändern. Ebooks werden ggf. ein anderes (mehr konsumistisch orientiertes) Leserverhalten hervorrufen; gleichzeitig werden – in dem Sinne, dass es immer einen Rollback gibt, jede Bewegung ihre Gegenbewegung erlebt – andere Leser, am Denken interessierte Menschen, die nie aussterben, sich weiterhin durch Lektüre die Welt und ihre Hintergründe zu erschließen suchen.
Ist nicht gerade diese neue Trendyness der Lyrik, mit starker Netzwerkbildung, sehr vielen jungen Nachwuchslyrikern und wirklich gut besuchten Lyrikveranstaltungen ein Anzeichen dafür, dass hier eine marginalisierte Gattung sich zeitgemäße Kommunikationswege sucht? Trotz großer Rezeptionsbeschwernis angesichts der recht hermetisch und sprachreflexiv anmutenden, jungen Lyrik ist das umso erstaunälicher.
Ein wenig wundert mich, dass Sie gerade den Journalismus als mögliche Alternative zum literarischen Erzählen anführen, der mir doch erheblich mehr in der Krise zu stecken scheint: Ihm bricht momentan sein angestammtes Verbreitungsmedium weg und die Ersatzwege mit Online-Mag's sind noch nicht adäquat ausgebaut, als dass hier auch nur annähernde Profite erreicht werden können, die Journalismus in seiner bisherigen Form ermöglichen würden. Zugleich ist die Konkurrenz im Netz ubiquitär, die Leser unterscheiden immer weniger (und vermögen auch immer weniger zu unterscheiden) zwischen profunden journalistischen Angeboten und Privatblogs, dem beliebig-ausgeweiteten Gezwitscher und Geposte im Netz. (Das ist natürlich AUCH eine Sache, die wiederum für die literarische Rezeption gilt, mit der Autoren rechnen, zu der sie sich verhalten müssen).
In dem Sinne
e.s. | www.ennostahl.de
Fortsetzung folgt
|
|
|
Enno Stahl
Prosa
|
|