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Die soziale Frage in der Literatur von Heute (Teil 3)
Enno Stahl im Mail-Dialog mit Dominik Irtenkauf
Teil 3 |
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Enno Stahl
Diskurspogo
Zu Literatur und Gesellschaft
Verbrecher Verlag (August 2013) |
2013 veröffentlicht Enno Stahl im Verbrecher Verlag sein Buch Diskurspogo. Über Literatur und Gesellschaft, in dem er in verschiedenen Kapiteln der Frage des Sozialen in zeitgenössischer Literatur nachgeht. Tiefgreifende Veränderungen des sozialen Rückhalts in der bundesdeutschen Gesellschaft wie die Zunahme der prekären Beschäftigungsverhältnisse, eine tiefe Abhängigkeit der Politik vom Lobbyismus und von Partikularinteressen, Privatisierung von Sozialsystemen und ungezügelter Konsumismus werden laut Stahls Analyse nur marginal in zeitgenössischer Literatur thematisch aufgegriffen.
In mehreren E-Mails wird versucht, an die Positionen des Buchs von Enno Stahl anzuknüpfen, den Horizont aber auch weiter zu spannen.
Dominik Irtenkauf
18.12.2013 | 14:45
Hallo, Herr Stahl,
ich gehe in einzelnen Absätzen den Fragen und Aspekten der letzten Nachricht nach.
1)
Zur Popliteratur: Ich denke, dass auch für eine Deskription der Warenwelt und Oberfläche ein künstlerisch hochkomplexer Verarbeitungsprozess vonstatten geht, doch das Endresultat bewusst die Tiefe meidet. Sie selbst bringen ja Beispiele dafür an, wie z.B. die Romane von Rainald Goetz. Die Gefahr, die Erwartungen einer marktorientierten Etikette zu erfüllen, zieht sich ja durch die Popkultur im allgemeinen, wobei als Apologie eben die Verinnerlichung einer entideologisierten Pophaltung vorgebracht wird: diese bewusste Vermeidung von einer Meta-Ebene wird als widerständig hingestellt. Sie exemplifizieren das am Beispiel von u.a. Benjamin von Stuckrad- Barre, der ja – soweit ich das wahrgenommen habe – längst nicht mehr durch neue Bücher auf sich aufmerksam macht, sondern vor allem als TV-Format. Wiewohl die TV-Sendung auf einem regelrechten Spartensender läuft. Eine selbst gewählte Naivität ist ja keine Naivität im eigentlichen Sinne, weil nur so getan wird, als ob man nicht wisse, was man tut. Das Gegenteil ist der Fall. Anders sieht es mit mangelndem schreiberischen Können oder sagen wir: Talent aus. Das Stigma, das der sog. Untergrundliteratur anhaftet, ist letztlich auch eine Entscheidung der verantwortlichen Redakteure, was aufgenommen wird und was nicht. Sie schreiben ja auch zu diesem Filter, der vorab auswählt, was als Literatur besprochen werden soll. Jedoch hat sich in dieser Richtung viel verändert in den letzten Jahren.
Der Trash erfuhr durch die Grindhouse-Features wie auch die Tarantino-Filme eine Rehabilitation, zumindest in der Popkultur und bei jungen Rezipienten. Der Kultfaktor des „bewussten Trashs“ erleichtert den Zugang zu solcherart Filme für ein größeres Publikum. Mich fasziniert am Trash-Begriff die partielle Verweigerung hochkomplexer Verarbeitung, das beabsichtigte Schleifen der Oberfläche. Dies spricht auch gegen eine Kanonbildung, weil andere ästhetische (und damit auch politische) Absichten bestehen. Ich denke, dass im Trash-Bereich (Ich meine besonders auch in der Schnittmenge zum Hard-Boiled-Krimi oder sogar in der Phantastik, was vom eigentlichen Thema „Literatur und Gesellschaft“ natürlich wegführt. Das Thema Zombies und Werwölfe erfreut sich ja nach wie vor großer Beliebtheit.) die Erwartungen eines Publikums oder des Kritikers nicht erfüllt werden möchten. Es kann sein, dass dies mit fehlendem und daher manchmal vertuschtem Können zusammenhängt oder aber mit einer Absage an Bedeutungsgenese. Für die „Pop“-Literatur eines von Stuckrad-Barre oder Krachts haben Sie das ja in Ihrem Buch analysiert. Wobei hier nicht mit Trash, sondern der Konsumkultur im späten Kapitalismus gearbeitet wird.
2)
Diesen Punkt möchte ich vom Hard-Boiled-Krimi weg hin zur metaliterarischen Analyse hinlenken: Dies scheint mir in gewisser Weise an Narrationsmuster des frühen 20. Jhds. anzuknüpfen, wobei sich die Frage stellt (die Sie sich im Diskurspogo ja auch stellen), inwiefern das heute noch adäquat sein kann in der Bewältigung der Reizüberflutung. Reizüberflutung selbst ist eingestandenermaßen schon zum Klischeebild geworden, mir fällt aber gerade kein besseres Wort ein. Ich stimme mit Ihnen überein, dass die Vielfalt der stilistischen und narrativen Möglichkeiten auch benutzt werden sollten, um die sozialen Probleme auf eine übergeordnete Sicht zu bringen.
Am Einzelbeispiel en détail wäre es sehr spannend mal zu sehen, inwiefern das von zeitgenössischen Autoren bewerkstelligt wird. Sie gehen in Ihrem Kapitel „Realismus und literarische Analyse“ auf verschiedene Romane ein. Da wäre es interessant, anzusetzen und zu sehen, wie an einem Roman unter den behandelten Werken bis in die Satzebene hinein ein analytischer Realismus umgesetzt wird. Produktionsästhetisch liefert das vor allem auch Handreichungen für Kritiker, die aktuelle Literatur in den verschiedensten Medien besprechen; rezeptionsästhetisch wäre es hingegen interessant, Leserreaktionen zu eruieren. Ich kann mir vorstellen, dass sich meine Leserkreise auch gegen Ihre Vorschläge eines analytischen Realismus wehren werden, da sie andere Interessenslagen verfolgen. Sie zitieren den zynischen Kommentar von Maxim Biller (S. 33), dass Arbeitslose doch nicht läsen, worum sollte man also für sie schreiben?
Genre-Literatur erfreut sich in den Buchhandelsketten einer großen Auslage, und entsprechender Nachfrage. Lesen in der Freizeit, die durchaus knapp bemessen sein kann, dient vor allem der Entspannung und Kurzweil. Hochkomplexe Literatur wandert dahingehend evtl. nur in die Seminarsräume einer Universität oder in den Deutsch- oder Fremdsprachenunterricht an den Schulen. Das ist jetzt alles ein wenig überspitzt formuliert – mein Argument ist aber dieses: es stellt sich die Frage, ob nicht im Gewand einer nicht zu dogmatischen Genre-Literatur – wie z.B. der (anspruchsvollen) Science-Fiction – ein analytischer Realismus möglich sei. Ich denke da z.B. an James Graham Ballards bildgewaltigen Romane, die damals aktuelle soziale Probleme in eine Zukunft extrapolieren, um vom Druck des Gegenwartbezugs befreit an sozialen Experimenten zu forschen.
3)
Zum Kanon: Das ist ein Thema, zu dem man endlos schreiben kann, weil immer wieder Tendenzen aufscheinen, die eine monolithische Kanonisierung scheinbar wenn nicht aussetzen, so doch verlagern. Zudem verfügt jede „Szene“ über einen eigenen Kanon, also Werke, die durch ihre inhaltliche und formale Verzahnung von Qualität bleibenden Eindruck hinterlassen haben. Das gilt ja auch für Musikszenen.
Literatur (in Büchern, muss man wohl inzwischen schon hinzufügen?) besitzt eine eigene Wertigkeit und eben die komplexe Struktur, auf die Sie zu Recht hinweisen, mit der Welt anders umzugehen, als spontane Blogeinträge im Netz. Ich bin mir auch nicht ganz sicher, welche Langzeitwirkung solche Blogs haben werden. Besuche ich meine Freunde, so haben sie häufig bis zu einem Dutzend Webseiten-Tabs geöffnet, und so frage ich mich, ob die konzentrierte Lektüre eines etwas umfassenderen Werkes noch in Angriff genommen wird. Diese Informationsbeschaffung muss sich ja nicht allein auf einen Modus beschränken, gewiss nicht, man kann sich im Netz entsprechend über die aktuelle Lage und neue Projekte informieren, daneben auch groß entworfene Wirklichkeitsdarstellungen in literarischer Sprache lesen und zu verstehen suchen.
Es hat sich allein gezeigt, dass alle Vorhersagen das Ende des Buchs betreffend bislang nicht eingetreten sind.
4)
Zum Journalismus in Buchform vs. voluminöse Romanprojekte: Vielleicht ist die langwierige Arbeit an Romanprojekten auch ein Beitrag zur Qualität der Literatur, nicht nur in dem Sinne, dass gut Ding Weil haben möchte, sondern vor allem auch um den Veröffentlichungswust etwas zu entzerren. Es ist in der Rockszene z.B. notwendig, jedes weitere Jahr eine neue Platte zu veröffentlichen, um anschließend zu Werbezwecken auf Tour zu gehen und den Namen der Band im Bewusstsein der Hörerschaft und Presse zu halten. Die Möglichkeit, bis zu zehn Jahre an einem wichtigen Projekt zu arbeiten, wie es in der Literatur häufiger als in den Musikszenen passiert, kann in der Rockszene z.B. nur in Kauf genommen werden, wenn die Band bereits für lange Arbeitszeiten bekannt ist oder über einen entsprechenden Status verfügt. Andererseits kann man sich natürlich der merkantilen Erwartungshaltung generell verweigern und die Musik so langsam oder schnell komponieren, wie man lustig ist.
Durch ihre Einlassungen zum Journalismus habe ich den „analytischen Realismus“, den Sie in Ihrem Buch entwerfen, besser verstanden – journalistische Texte oder auch Journalismus in Buchform können als Hintergrundmaterial einen weiteren Mosaikstein im Gesamtbild des Romans ergänzen. Sie weisen ja darauf hin, dass ein nicht geringer Teil der Gegenwartsautoren vor allem formale Spiele in ihren Werken betreiben, die soziale Realität jedoch außen vor lassen oder aber stärk ästhetisierend wiedergeben.
Die beiden Modi gegeneinander auszuspielen, wäre auch die falsche Methode. Literatur kann sich ein Stück weit von der aktuellen Sach- und Gefühlslage loslösen und eine kritische Sicht auf die Dinge einnehmen. Was das populäre Sachbuch angeht, denke ich schon, dass allein aus Nostalgiegründen manche Erwachsene die Bücher aus ihrer Jugend behalten werden, besonders wenn sie stark illustriert sind ... andererseits verlieren diese Sachbücher in gewissen Fachgebieten natürlich auch schnell an Aktualität. Dann können, wie Sie bereits schreiben, nur die philosophischen und größer fassenden medientheoretischen Bestseller Gültigkeit behalten.
Mir fällt gerade noch ein weiterer Aspekt mit gekonnten Klassikern eines analytischen Realismus ein, und zwar, inwiefern z.B. die Romane von B. Traven heutzutage noch Gültigkeit besitzen können, wenn die politischen, kulturellen und technologischen Umstände andere geworden sind? Man kann sich das auch in Bezug auf Thomas Manns Die Buddenbrocks fragen: wieviel ist von diesem geschilderten Großbürgertum nach 2 Weltkriegen und neoliberalen Umstellungen noch „übrig“ geblieben? Unbestritten ist der Wert der historischen Analyse zum besseren Verständnis des Gewordenseins der aktuellen Zustände.
Das führt mich zu einem neuen Gesichtspunkt auf das Thema: die Überwältigung durch die Krise.
An ihr kann sich entscheiden, ob Literatur noch in der Lage ist, auf solche Umwälzungen durch die sog. „Eurokrise“ adäquat zu reagieren. Auch wenn dies pathetisch klingen mag, bin ich mir nicht sicher, ob ich Ihren Optimismus teilen sollte. Es ist ja nicht nur das geschriebene und überarbeitete Manuskript, sondern auch der Apparat, der ein solches Werk an die Leserschaft bringen sollte.
Auf S. 91 beschreiben Sie das so: „Ein sozialer oder gar politischer Anspruch von Literatur ist in Deutschland weiterhin verpönt – auch wenn manche Feuilletonisten sich ab und an in die Brust werfen und markig nach Welthaltigkeit und politischer Relevanz der literarischen Elaborate rufen. Meist preisen exakt dieselben Personen gleich darauf in ihren Rezensionen und Porträts, was solcher Qualitäten ganz sicher nicht verdächtig ist. Zum überwiegenden Teil wird jedoch, wenn einmal eine Literatur mit dezidiert gesellschaftskritischem Impetus zur Diskussion steht, selbst von Autoren geradezu reflexhaft behauptet, dass hier zwangsläufig der ästhetische Anspruch leiden müsse, derartige Literatur für gewöhnlich in billige Agitation abgleite (als wenn zu viel gesellschaftlicher Wahrheitsgehalt der Literatur schaden könnte ...).“
Diese Aversion wird von einseitig politischer Literatur stammen oder vom parteipolitischen Engagement mancher bundesdeutscher Autoren, das auf literarische Kreise vielleicht zu Recht zu einengend wirkt? Eine undogmatische Darstellung von Widersprüchen in der sozialen Realität ist ja möglich, wie Sie auf den folgenden Seiten ausführen. Zuletzt wiederhole ich nochmals die Frage: wer findet in einer Krisenzeit die Muße, sozial-realistisch-analytisch-komplexe Literatur zu lesen?
Mit diesen Worten schließe ich vorerst.
Dominik Irtenkauf
18.12.2013 | 22:02
Hallo Herr Irtenkauf,
ich glaube nicht, dass allzu viele Elaborate, die unter dem Signum „Popliteratur“ rezipiert werden, wirklich Ergebnis hochkomplexer Verarbeitungsprozesse sind. Bei Goetz ist das so, aber sie erfüllen eben nicht die „marktorientierte Etikette“ und verzichten nicht auf Tiefe, operationalisieren nur bestimmte Aspekte der Oberfläche zu bestimmten Zwecken.
Gegen Trash bin ich eigentlich nicht, halte das allerdings eher für eine Form der 1980er, 1990er Jahre, die Diagnose der mangelnden Wirksamkeit trashmotivierter Kunst, wie in Diskurspogo schon gestellt, würde ich aber weitgehend aufrecht erhalten, auch auf andere Disziplinen als die Literatur bezogen.
Ja, ich glaube ganz sicher, dass unter dem Paradigma des analytischen Realismus Romane bis auf die Satzebene hinunter beschrieben werden könnten – das dürfte allerdings wohl nicht gerade systemisch vor sich gehen oder auch nur unter der Prä#-misse, den analytischen Realismus en détail (per Abhakliste) zu überprüfen, sondern allenfalls die Realistik bestimmter literarischer Beispiele einem „Faktencheck“ zu unterziehen – d.h. es würde sich darum handeln, ihren Wirklichkeitsbezug zu verifizieren. Mir ging es allerdings eher nicht darum, ein neues Dogma der Interpretation oder der Bewertung zu errichten. Der Begriff ist in diesem Sinne rein produktionsästhetisch gemeint, u.a. natürlich auch für meine eigenen Romane.
Nicht nur deswegen ist natürlich analytischer Realismus im Science-Fiction-Roman absolut möglich. Der Genrebezug ist hier ja weit weniger strukturell vorbelastend als im Krimi, Science Fiction ist inhaltlich gerade durch absolute Offenheit geprägt, nämlich das gesamte „Imperium des Möglichen“. In guten Science Fictions werden traditionell die schwarzen Flecken der je aktuellen Zivilisation verhandelt und ins Groteske oder Monströse fortgesponnen. Ich rede daher ja immer auch von Meta-Realismus, eben nicht dem 1:1-Abbild der Realität, sondern der künstlerisch gestalteten Verdichtung und/oder Interpretation des Bestehenden.
Zum Kanon habe ich zuletzt zwei schöne Zitate gefunden, die meine Einstellung dazu absolut auf den Punkt bringen: Hippolyte Taine beschreibt als kanonisierte Werke solche, die historisch unbestreitbar verifiziert wurden. Die Zeitgenossenschaft mag darüber kontrovers geurteilt haben, bis sich die historische Wahrheit über dieses Werk sich unaufhaltsam herauskristallisiert. Zumal diese in jedem Jahrhundert von Neuem auf die Waagschale gelegt, das Urteil einer Revision unterzogen wird: „Wenn das Werk, nachdem es auf diese Weise von Gerichtshof zu Gerichtshof gewandert ist, auf die gleiche Art betitelt daraus hervorgeht und die auf der Linie der Jahrhunderte gleichmäßig verteilten Richter sich in ein und demselben Urteile geeinigt haben, so ist es wahrscheinlich, dass der Spruch wahr ist“ (Taine, Philosophie der Kunst, 3. Auflage, Jena: Diederichs 1922, S. 420). Und Benjamin assistiert, indem er der historischen Dauer der großen Werke noch ihren Bedeutungswandel im Laufe der Geschichte hinzufügt, er sieht die „Funktion der Kunstform“ darin, „historische Sachverhalte, wie sie jedem bedeutendem Werk zugrunde liegen, zu philosophischen Wahrheitsgehalten zu machen“. Eben deshalb gilt: „Diese Umbildung der Sachgehalte zum Wahrheitsgehalt macht den Verfall der Wirkung in dem von Jahrzehnt zu Jahrzehnt das Ansprechende der früheren Reize sie mindert, zum Grund für eine Neugeburt, in welcher alle ephemere Schönheit vollends dahinfällt und das Werk als Ruine sich behauptet.“ (Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1978, S. 160).
Diese Kriterien gelten für den Kanon der Weltkunstgeschichte und ich sehe keine Grund, warum in zukünftigen Zeiten andere Regeln dafür gelten sollten, gerade wegen Fluktuation der Wahrnehmung.
Zu Traven: das ist eine interessante Frage, binnenästhetisch glaube ich durchaus, dass diese Romane noch Gültigkeit besitzen, weil es eben spannende Abenteuergeschichten sind, die funktionieren – exogen aber umso mehr, deshalb weil sie sich nicht auf den Plot beschränken, sondern über diesen Plot und den enthaltenen sozialkritischen Subtexten letztlich Grundkonflikte verhandeln, die unverändert virulent sind.
Zur Aversion gegen politische Literatur: Es geht Zitat in „Realismus und literarische Analyse“, auf das Sie sich beziehen nicht um „einseitig politische Literatur“, sondern um die Diskussion über die Möglichkeit einer politischen, besser: allgemein Literatur mit gesellschaftskritischen/-reflektierenden Anspruch – heutige deutsche Autoren verabschieden sich reflexhaft aus der sozialen Verantwortung für das, was sie schreiben, mit Blick auf die vorgebliche Freiheit des künstlerischen Ausdrucks, die durch kritische Fragestellungen / Positionen zu sehr eingeengt würde – sie pochen als nicht nur auf eine Dominanz des Ästhetischen über das Politische (auf die ich im Übrigen ebenso bestehe), sondern plädieren im Grunde für die Tilgung jeglicher kritischer (i.S. gesellschaftsrelevanter) Substrate, da sie vermeintlich die ästhetische Wirkung beeinträchtigen würden. Ich glaube aber, das hat gar nichts damit zu tun, ob es diese Substrate gibt oder nicht, von Nachteil sind sie bestimmt nicht. Und das beantwortet dann auch die rhetorische Frage danach, wer in Krisenzeiten solche Literatur lesen wird: Genau dieselben Leute, die anspruchsvolle Literatur heute sowieso lesen. Ich schreibe ja nicht über eine fiktive Literatur, sondern über eine, die in vielen Ländern zu existieren scheint, nur in Deutschland stark unterrepräsentiert ist. Vielleicht schreibe ich auch gar nicht so sehr über eine Literatur (etwas sehr Abstraktes), sondern über einen Wirklichkeitszugriff von Literatur bzw. ihrer Autoren.
Tatsächlich haben sich auch nur sehr wenige Leser meines Romans Winkler, Werber darüber beschwert, dass dieser schwierig zu lesen gewesen wäre und eigentlich niemand, dass er/sie so etwas in diesen Zeiten nicht lesen möchte. Ich denke, es gibt und wird immer Leute geben, die Literatur lesen, um ihre Zeit besser zu verstehen.
Kurz: Die Frage, wer heute noch die Muße findet, ausgerechnet solche Literatur zu lesen, stellt sich für mich gar nicht, allenfalls wenn man sie dahingehend umformulieren wollte: Wer liest heute noch Literatur mit künstlerischem Anspruch? Denn für sozialanalytische Romane, wie ich sie mir vorstelle, gilt exakt dasselbe wie für alle ernstzunehmenden literarisch-ästhetischen Ansätze insgesamt.
Beste Grüße
e.s. | www.ennostahl.de
Fortsetzung folgt
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Enno Stahl
Prosa
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