|
|
Die soziale Frage in der Literatur von Heute (Teil 4)
Dominik Irtenkauf beschließt die Folge mit einer kritischen Betrachtung
Teil 4 | Abschluss |
|
|
|
Enno Stahl
Diskurspogo
Zu Literatur und Gesellschaft
Verbrecher Verlag (August 2013) |
2013 veröffentlicht Enno Stahl im Verbrecher Verlag sein Buch Diskurspogo. Über Literatur und Gesellschaft, in dem er in verschiedenen Kapiteln der Frage des Sozialen in zeitgenössischer Literatur nachgeht. Tiefgreifende Veränderungen des sozialen Rückhalts in der bundesdeutschen Gesellschaft wie die Zunahme der prekären Beschäftigungsverhältnisse, eine tiefe Abhängigkeit der Politik vom Lobbyismus und von Partikularinteressen, Privatisierung von Sozialsystemen und ungezügelter Konsumismus werden laut Stahls Analyse nur marginal in zeitgenössischer Literatur thematisch aufgegriffen.
In mehreren E-Mails wird versucht, an die Positionen des Buchs von Enno Stahl anzuknüpfen, den Horizont aber auch weiter zu spannen.
Dominik Irtenkauf
Blaue Flecken oder
Der Streit darum, welche Rolle die Literatur von Heute spielt
Wo finden sich die Orte, die Topoi, an denen / mit denen eine kritische Bestandsaufnahme bedenklicher Entwicklungen im sozialen Miteinander realisiert werden kann? Eine Möglichkeit wären die Jugendbewegungen, denen vom Kulturbetrieb veränderndes Potential zugesprochen wird.
„Die Jugendbewegungen wurden vielgestaltiger, schlossen aneinander an oder schlossen sich aus: Pop, Punk, New Wave – Dress Codes wurden soziale Zuweisungen, die Oberfläche wucherte und bedeutete. In den Neunzigern fiel alles in eins: Mach, was dir Spaß macht, kreuze, treibe, nutze die Codes, es bedeutet nichts mehr oder sehr viel.
In Wirklichkeit ist aber nichts anders geworden: Soziale Ungleichheit, Minderprivilegierung, Ghettoisierung sind weiterhin an der Tagesordnung. Mit dem Aufkommen des Turbo- Kapitalismus in den Neunzigerjahren, mit dem Crash der New Economy, der Deliberalisierung, den sogenannten Reformen im beginnenden Jahrtausend werden immer weitere Kreise abgedrängt, Umverteilung von unten nach oben, wo ein glitzernder Prominenz- und Wertschöpfungsbereich mit vorgeblicher Chancengleichheit für alle wirbt. Jeder kann Superstar werden, jeder ein Sport-As, Politiker eh!
Auch das Gesicht der Stadt hat sich geändert: Während die mediale Oberfläche, geliftete Teints und Photoshop-Figuren, sich auf Kirchen und Hochhausfassaden breitmacht, Laufbänder, Laserlichtspiele und akustische Beflutungen um Konsum winseln, sehen sich immer mehr Menschen von diesem Bereich abgeschnitten oder verweigern sich ihm bewusst. Sie sind nicht schön, wollen es auch gar nicht sein, und die Segnungen der plastischen Chirurgie bleiben ihnen ebenso verschlossen wie Beauty Shop und Sonnenbank; ihr Traum von Glück und Sonnenbrand ist das Bier draußen vor der Kneipe.“ (Stahl 2013: 73)
Ich möchte von diesem Zitat ausgehen. Es findet sich im Kapitel Urbane Szenerien in der zeitgenössischen Lyrik. Die Schilderung könnte jedoch losgelöst von der literarkritischen Analyse als realistische Einschätzung des Zustands deutscher Städte gelesen werden. Kosmetische Änderungen an der Oberfläche verdecken die zunehmende Entgrenzung des ökonomisch-politischen Komplexes. In den Tiefen des Staates, wie zum Beispiel die Studie von Professor Hajo Funke und Micha Brumlik nachweist, wird nicht nur eine Aufwertung der Geheimdienste betrieben, sondern auch politisch an einer Konsumkultur gearbeitet, die sich keine Fragen nach dem Gemeinwohl stellt. Soziale Mißstände anzusprechen, wirkt in einer postideologischen Gegenwart zumindest uncool, wenn nicht literarisch kontraproduktiv. Ein ironischer Gestus verbietet eine (politische) Entrüstung, weil diese zu stark mit Moral in Verbindung gebracht wird. Dies mag am Scheitern der Gegenkulturen der 1960er Jahre liegen, auch die Abwanderung mancher kritischen Geister in den Linksterrorismus hat die Stellung gegenüber Machtmißbrauch der politischen Elite nicht gerade verbessert.
Die Konzentration wurde auf Lifestyle und Warenvielfalt in der Popliteratur umgelenkt. Die Ausdifferenzierung der Literatur in vielfältige Genres und ›Szenen‹ lagert die Themen, die für eine literarische Beschäftigung von Belang sind, auf eine breitere Basis um (abgesehen von Motiven, die sich in verschiedenen Genres wiederholen, da sie von elementarer Bedeutung für menschliches Zusammenleben und daher auch für Narration im allgemeinen sind). Jedoch führt gerade eine Indifferenz gegenüber sozialpolitischen Entwicklungen zu der von Enno Stahl untersuchten zeitgenössischen Literatur, die sich im ›Abfeiern‹ einer Konsumkultur gefällt oder die zwischenmenschliche Frage zum alleinigen Existenzgrund deklariert.
„Wie kommt das? Die allgemeine Ermüdung an gesellschaftskritischen Themen – besonders bei der heutigen Jugend – scheint noch immer eine idiosynkratische Reaktion auf die 68er zu sein, jener Generation, die ›politische Haltung‹ zum Dreh- und Angelpunkt des individuellen und kollektiven Agierens gemacht hat. In den 1980er-Jahren war es die naheliegendste Protestposition, sich zu richten ›gegen die, die dagegen waren‹, wie es der Fehlfarben-Sänger Peter Hein zur griffigen Formel fasste. Elemente der Abstoßung, wie die Begeisterung für Werbung, Mode und Hedonismus, gingen als Strategie der ›Scheinaffirmation‹ damals mit marxistischen Überzeugungen und Instrumentarien Hand in Hand. Die Hegemonie der 68er, die immer mehr Positionen des öffentlichen Raumes, Meinungsmacht und institutionelle Spitzenplätze, besetzten, brach das allerdings nicht, handelte es sich doch um einen symbolischen ›Meta-Protest‹, ›der keine eigenen positiven Werte oder Ideale ins Feld führen konnte‹.“ (Stahl 2013: 217) Eine Literatur müsste sich auf komplexe Weise den Mythen der Alt-68er stellen, so Stahl, den schönen Schein zu dekonstruieren, die Erfolgsgeschichten des Widerstands auseinandernehmen, um mögliche Rückschlüsse auf die gegenwärtige ökonomische Gesamtlage zu erhalten. Das fordert längere Recherche und die Bereitschaft, unter der Textur zu schürfen.
Im Gegensatz zum „symbolischen ›Meta-Protest‹“ entsteht ein literarischer Meta-Realismus, der die gesellschaftlichen Wandel verfolgt und je nach Thema eine ihm passend erscheinende Perspektive wählt. Dabei geht es nicht um einen falsch verstandenen Realismus, der sich einer möglichst nahen Nachbildung übt.
Zugespitzt heißt das: „Der Schriftsteller und seine Figuren agieren nicht im luftleeren Raum, sondern in einem sozialen Gefüge, über dessen Wesen man sich sich Klarheit verschaffen muss. Auf dieser Basis kann Literatur über eine bloße Abbildung hinaus zu einer Dokumentation waltender historisch-politischer Prozesse gelangen. Das erlaubt ihr beispielsweise, psychologische Dispositionen von Charakteren zu zeichnen, die konkret von Deregulierung und Globalisierung betroffen sind. Was bedeutet für den Einzelnen der Verlust des Arbeitsplatzes? Wie fühlt sich das an, was in den Nachrichten nur als Zahl in Erscheinung tritt? Was bedeutet sozialer Ausschluss? Und was steht dahinter? Welche politisch-ökonomischen Strategien? Wer agiert? Wer profitiert? Wie funktioniert überhaupt ein Großkonzern, die Politik in der Praxis? Wie die Medien? Aber auch: Was können Menschen tun? Wie ihre Würde erhalten, wie eine selbstbestimmte Existenz für sich gewinnen? Wie Fluchtlinien entwickeln, hinaus der Vorgeprägtheit ihrer sozialen Determination?“ (S. 38-39)
Diese Vielzahl an Fragen stellen zeitgenössische Autoren vor ein Neuverständnis literarischen Arbeitens. Sicher bleibt es ein Angebot, denn wenn auch manche Sätze in Stahls Buch manifestartigen Ton anschlagen, ist letztlich die sogenannte Popliteratur in ihrer Oberflächenstruktur eine Phase der deutschsprachigen Literaturgeschichte, die vergeht, in Einzelepisoden wieder aufflammt, aber sich möglicherweise nach Erschöpfung des Reservoirs anderer Inhalte besinnt. Nicht aus historischer Analyse, sondern aus zeitgenössischer Literaturkritik gewonnen – immer in Rückbezug auf das Vorangegangene lässt sich ein gewisser Innovationsgrad einschätzen. Davon abgesehen stellt sich, wie von Enno Stahl formuliert, die Frage nach der Funktionalität von Literatur. Welchen kulturellen Zweck erfüllen Texte der Gegenwart?
Die Funktionalität von Literatur wird in poetologischen Schriften gerne ausgespart, da der Kampf um die Autonomie des Kunstwerks lange gefochten wurde. Angesichts einer zugespitzten ökonomischen und vor allem ökologischen Lage wäre eine Neujustierung von Literatur angebracht. Dass Literatur eben nicht im luftleeren Raum entsteht und ohne Pamphlet werden zu müssen, kritisch das soziale Milieu und seine Mißstände in den Fokus rückt. Jedoch fallen in Enno Stahls Buch – salopp formuliert – Klischees auf, die sich selbst einer Überzeichnung zu verdanken scheinen. Möglich, dass solche Bilder den Unmut auf der anderen Seite noch intensivieren.
„Das labile Protzgebaren des Erfolgsjunkies manifestiert sich nach außen in BMW-Cabrios (Zweisitzer, für mehr Leute ist kein Platz in diesem Leben), Solariumsteint und Goldkettchen, nach innen in einer zunehmenden Verrohung, die auch die Restwelt nach Vergleich und Zugehörigkeit misst. Menschliche Werte zählen nicht, sondern nur, was sich quantifizieren lässt. Der Shareholder-Value eines zwischenmenschlichen Kontakts liegt in seiner Verwertbarkeit zur finanziellen und sexuellen Gewinnmaximierung.“ (S. 239) Steht es wirklich so schlimm um die Bürger? Kann anhand des Outfits auf die Mentalität der Menschen geschlossen werden? Kleider machen bekanntlich Leute. Der Kleidungsstil mag Aufschluss über die Mentalität geben, doch diese Wahrnehmung folgt gewissermaßen dem Diktat der ›Pop-Literatur‹. Über die Oberfläche Aussagen über das Dahinter zu gewinnen – wobei sich ein Großteil der Pop-Literatur mit der Beschreibung eben der Oberflächentextur begnügt. Der literarische Meta-Realismus jedoch, den Stahl in seinem Buch vorschlägt, nimmt diese Oberfläche als Ausgangspunkt für eine Darstellung der alltäglichen Verflechtungen von Menschen in wirtschaftlichen und politischen Strukturen. Autoren sind letztlich in einer Marktwirtschaft ebenso auf Arbeit und dadurch erworbenes Geld angewiesen. Sitzen sie möglicherweise im Spinnennetz, das sie eigentlich beschreiben sollen?
Die finanzielle Abhängigkeit eines Autors verunmöglicht eine gewisse Öffnung zu sozialkritischen Themen hin. Ein Problem liegt in dem Subventionssystem der bundesdeutschen Öffentlichkeit, die von Juroren entsprechend repräsentiert wird. Honoriert wird, wer den ästhetischen Kriterien dieser Jurys entspricht. Ihre Zusammensetzung ist zumeist bekannt, die unausgesprochenen Regeln der Geldgeber oder aber der Kollektivgeist einer solchen Jury-Entscheidung dafür umso weniger.
„Wollte ein Autor diese Rollenzuweisung transzendieren, sie auf eine eigene, selbst definierte Weise ausfüllen, implizierte das womöglich, dass er, um völlige Freiheit in der ästhetischen Darstellung zu erlangen, seinen Lebensunterhalt anderweitig verdient. Diese künstlerische Unabhängigkeit böte die Gelegenheit, auch in Deutschland ins Zentrum des sozialen Geschehens zu zielen.
Dafür wäre vonnöten, wieder in den Blick zu nehmen, dass es für die waltenden gesellschaftlichen Prozesse Gründe und Hintergründe gibt. Statt sich im Individuellen zu verlieren, müssten die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen in die epische Komposition einfließen, literarisch verdichtet in Figurenpersonal und Dramaturgie. Auf dieser Basis könnten die Konsequenzen, die sich für die Einzelnen ergeben, untersucht werden.“ (Stahl 2013: 67-68)
Bleibt dies nur ein frommer Wunsch? Oder muss die gesamtgesellschaftliche Lage noch kritischer werden? Die Welt gar brennen, bis ein gewisses Umdenken geschieht?
Dominik Irtenkauf 22.05.2014 |
|
|
|
Enno Stahl
Prosa
|
|