|
Chaim Noll
Lesung in Münster
Chaim Noll las aus seinem Roman Die Synagoge.
Der deutsch-israelische Autor Chaim Noll macht einen Tag vor seinem Rückflug nach Israel Station in Münster im Franz- Hitze-Haus. Es ist ein verregneter Abend, herbstlich, und es finden nur wenige Interessenten den Weg zum katholischen Kulturhaus. Das Franz-Hitze-Haus macht sich immer wieder um den interreligiösen Dialog verdient, so dass Nolls Lesung aus seinem aktuellen Roman Die Synagoge nicht von ungefähr an diesem Ort stattfindet.
|
|
Chaim Noll
Die Synagoge
Roman
Verbrecher Verlag 2014
|
Chaim Noll selbst spricht auch vom genius loci der Wüste, die den Haupthandlungsort dieses Romans ausmacht.
Vor der eigentlichen Lesung referiert er über das israelische Wirtschaftswachstum und erläutert, dass besonders zwischen einer nicht geringen Zahl von Bewohnern aus dem Westjordanland und Israel eine ökonomische Symbiose existiert, die mit den Bildern in den westlichen Nachrichtensendungen so gar nicht übereinzustimmen scheinen. Wohingegen in Palästina durch die Zuwendungen aus dem Ausland und große Gelder aus Saudi-Arabien mit der Bitte, die Hamas vor Ort kleinzuhalten, zu einer Clan-Wirtschaft geführt hätten, die wenig Hoffnung auf eine Besserung der Lage verspricht.
Der Ausschnitt aus Nolls Roman schildert die Busfahrt eines ultraorthodoxen US-Amerikaners, der in eine Wüstenstadt fährt, die nur von Wissenschaftlern und Verwaltungsangestellten bewohnt ist. Er sucht spirituelle Erleuchtung, möchte ein Stück weit zu seinen Wurzeln zurückkehren. Doch er verursacht nach Ankunft etwas völlig Unbeabsichtigtes und Unerwartetes. So weit liest der Autor am heutigen Abend allerdings nicht.
Die vorgetragenen Passagen malen ein lebendiges Bild von den Businsassen. Der Roman spielt zur Zeit der 2. Intifada, als eine Terror-Welle Israel für mehrere Jahre erschütterte und der Tourismus fast zum Erliegen kam. Laut Noll haben sich viele junge Israelis, die eigentlich in dieser Branche arbeiten wollten, umorientiert und Start-Ups in der Hi-Tech-Branche gegründet. Heutzutage ist Israel in der Lage, nicht nur sich selbst mit Wasser zu versorgen, sondern auch zum Beispiel nach Jordanien Wasser zu exportieren. Die Zuwanderung der jüdischen Diaspora nach Israel, aber auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit arabischen Ländern, die offiziell verdeckt bleibt, hat einen Wirtschaftsschwung nach Israel gebracht.
Nolls Roman jedoch verkürzt diese Komplexität nicht – er sagt, er habe diese Komplexität in einfacher Sprache schildern wollen, wie in den biblischen Erzählungen über David oder Esther ganze Zeitalter durch Menschen symbolisiert worden seien. In Die Synagoge tauchen Einzelschicksale auf, die sich erst über mehrere Seiten, ja ganze Kapitel hin entwickeln. Bei der Lesung in Münster wird nur ein kleines Schlaglicht darauf geworfen. Ergänzend liest Noll aus seinem Erzählband Kolja, für den inzwischen auch eine Übersetzerin in Tel Aviv gefunden wurde, die den Band ins Hebräische übersetzen soll. Es sind kurze Einblicke in das Leben von Einwanderern in Israel: ein russischer Soldat, dessen Mutter Christin ist und in Rußland blieb, dann der Vater, der Jude ist, fällt im Libanon während eines Spezialeinsatzes. Der Körper soll nach Krasnodar in Rußland überstellt werden. Noll zitiert Berichte über diesen Vorfall aus hebräisch- und russischsprachigen Zeitschriften. Die Pointe ist gut gesetzt und überrascht durch ihre Folgerichtigkeit. In einem Krankenhaus liegt ein beduinischer Junge mit großen Schmerzen und beobachtet, wenn er diese nicht spürt, aufmerksam die aus Rußland eingewanderten Juden, deren Großvater in seiner Jugend Kampfpilot in der sowjetischen Armee gewesen ist. Zwei Welten, die im Krankenzimmer (unfreiwillig) aufeinander treffen, und schließlich in einer Sprache, die jeder versteht, miteinander in näheren Kontakt kommen.
Chaim Noll deckt verschiedene Aspekte seiner Wahlheimat Israel ab. Durch seine Sozialisation in Deutschland und die bewusste Entscheidung, seine Romane in deutscher Sprache zu verfassen, zeigt er einen anderen Blick auf Israel, bleibt dabei jedoch stets realistisch, was die äußeren und inneren Probleme angeht. Anders ist ein Leben mit Ruhephasen wohl nicht möglich, denn wie soll ein Schriftsteller seine Wahrnehmung des Landes verfassen können, wenn er stets neue Raketeneinschläge oder einen Anschlag beim nächsten Lebensmittelkauf befürchten muss. Nicht mal eine Woche nach der Lesung im Franz-Hitze-Haus fordert der geistliche Führer Irans, Ajatollah Chameini, die Eliminierung Israels und die Bewaffnung des Westjordanlands. Politik spielt an diesem Dienstag keine geringe Rolle. Doch Nolls Können drückt sich vielmehr in gekonnt geschilderten menschlichen Szenen aus. Davon konnte sich die kleine Runde auf der Lesung in Münster überzeugen.
|
|
|
Dominik Irtenkauf
Dialog
Gespräch
|
|