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Anke FeuchtenbergerDie SpaziergängerinGraphic Essays Kritik
Der Flaneur galt und gilt immer noch als eine der Symbolfiguren der klassischen Moderne. Aufreizend langsam bewegte er sich durch die Passagen der modernen Großstädte, las in ihnen wie in einem offenen Buch und ließ alle anderen um sich herum wissen, dass er sich dafür alle Zeit der Welt lassen kann. Dass der Flaneur auf seinen Spaziergängen mitunter eine Schildkröte an der Leine führte, um seinen Einspruch gegen die Beschleunigung des modernen Lebens in exaltierter Geste auszudrücken, ist eine bekannte Anekdote. Ob sie sich tatsächlich belegen lässt, ist indes ungewiss. Sicher scheint hingegen das Überleben des Flaneurs bis in die Gegenwart hinein. Auch wenn es so schien, als sei die Postmoderne über ihn hinweggerauscht. Der Flaneur spaziert einfach weiter, zeigt sich hier und da, z.B. in den Texten von Peter Handke, Thomas Bernhard und Rolf Dieter Brinkmann. Im 21. Jahrhundert hat der Flaneur einen neuen Platz, das Flanieren eine neue Form gefunden; in den zahlreichen reflexiven Kurzprosatexten, die sich im Alltäglichen bewegen und es sich zur Aufgabe gemacht haben die poetischen Details des Lebens herauszuschälen und zu bewahren. Neben Autoren wie Johannes Jansen und Lisa Vera Schwabe reihen sich auch vermehrt Comickünstler in die Tradition des Flanierens ein. Anke Feuchtenberger etwa, die mit Die Spaziergängerin eine Sammlung gezeichneter Essays vorlegt. Die in dem Band enthaltenen Geschichten zeichnen sich zunächst durch eine Fülle von Formen und Stilen aus. Der Mix aus Comic-Strips, Stories, Postkarten und Collagen lässt Die Spaziergängerin auf den ersten Blick sehr heterogen wirken. Die Vielfalt der Arbeiten rührt jedoch aus der Vielfalt ihrer Entstehungssituationen. Dabei scheint es nur allzu verständlich, dass einige Erinnerungen an die Kindheit in der DDR etwas grauer und verschwommener erscheinen, als etwa der Besuch im russischen Staatszirkus. Doch egal unter welchen Umständen Feuchtenbergers Geschichten entstanden sind, welche Situationen und Gefühlslagen sie wiedergeben, es handelt sich im Wortsinne immer um Denkbilder, die sich Zeit nehmen für das, was meist nur vorbeirauscht oder in Vergessenheit gerät. So erzählt das Stück Linie 63 von einer Straßenbahnfahrt durch Berlin mit dem Ziel Hackescher Markt. Die Zeichnungen dazu wirken aufgeräumt und kühl. Die Linien sind streng betont, es gibt klare Konturen. Auf dem Weg erinnert sich die Erzählerin an ein stadtgeschichtliches Detail. „1737 erging ein Befehl von Friedrich Wilhelm I., dass alle Juden ohne eigenes Haus hierher, vor die Mauern der Stadt ziehen sollten.“ Am Hackeschen Markt angekommen, trifft sich die Erzählerin mit Freunden in einem Café. Ihren Namen sind Yirmi, Rutu, Mira, Batia und Itzik. Bereits eine Seite weiter tauchen diese Freunde wieder auf. In den Briefen an Freunde aus Tel Aviv wimmelt es nur so von beiläufigen Motiven. Allerdings sind diese Reiseeindrücke alles andere als skizzenhaft, sondern ebenfalls klar konturiert. Zu sehen sind eine verlassene Strandpromenade, ein alter Leuchtturm, moderne Architektur, Hunde im Park. Und es wimmelt hier geradezu von neugierigen Fragen. „Von wo kommt der Wüstensand, wenn der Wind von Westen weht?“ „Itzik, der Wasserturm, den du mir in der Dämmerung zeigtest: Wann wurde der errichtet?“ „Mira, du sagtest der Meir-Garten stelle die einzelnen Regionen Israels dar. Was ist mit dem Hundespielplatz?“ Egal an welcher Stelle man Die Spaziergängerin aufschlägt, man merkt sofort, dass es der Autorin um die Details geht. Lassen sich diese nicht erklären, so sollen sie zumindest aufgezeigt, aufbewahrt und erinnert werden. Das gilt auch, oder gerade, für die Geschichten, in denen Feuchtenberger das Innere mit dem Äußeren verbindet, in denen das Fantastische einen Platz im Realen zugesprochen bekommt. Die Details sind bekannt: ein Klopfen an der Tür oder ein abgerissener Knopf. Beides kann unter Umständen große Überraschungen im Alltag bereit haben. So wird das zunächst unspektakuläre Berliner Zimmer einer jungen Frau plötzlich rappelvoll. Es klopf nämlich an der Tür. Die junge Frau beugt sich aus dem Fenster um nachzusehen, wer da ist. Sie lehnt sich soweit hinaus, bis sie zur Wohnungstür wieder hereinkommt und den Raum plötzlich ausfüllt. Je surrealer die Geschichte, desto lässiger der Zeichenstil und der Text. Im Berliner Zimmer wird mit Berliner Schnauze gesprochen – das ist klar. Etwas hochdeutscher, aber keinesfalls normaler geht es in dem Fahrstuhl zu, in dem Frau Hunts abgerissener Knopf zu einem Schweinerüssel mutiert. Zu erklären, was das mit dem Alltag Frau Hunts zu tun hat, würde wohl zu weit führen. In der Geschichte Ausgerottete Augen, nach einem Gedicht von Thomas Kling, kann man das alles nachlesen. Anke Feuchtenbergers Die Spaziergängerin lässt sich wohl gut als ausgearbeitetes Notiz- und Skizzenbuch verstehen, das sich nicht davor scheut das Fragmentarische als Kunstform gelten zu lassen. Das schafft viel Platz für Zwischenräume, die der Leser selbst füllen kann. Der einzige Makel des Bandes besteht in einer gewissen Schwäche der Zeichnerin bei der Ausgestaltung von Gesichtern. Diese wirken nicht selten merkwürdig kühl und abwehrend, sodass in Stücken, die zur Identifikation mit dem Protagonisten einladen, ein Effekt verloren gehen kann. Dem überaus positiven Gesamteindruck des Buches tut das jedoch keinen Abbruch.
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Mario Osterland
Prosagedichte
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