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Clemens J. Setz
Im Gespräch mit Mario Osterland
»Sterben zu müssen ist peinlich«
Literatur und Vergänglichkeit |
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»Lange Bücher sind eine Unverschämtheit«, sagte Judith Schalansky zu mir, als ich sie in Graz traf. Sie hat recht.
Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren. Er studierte Mathematik und Germanistik und lebt als Übersetzer und freier Schriftsteller in Graz. Für seinen Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes wurde er 2011 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet, sein Roman Indigo stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2012 und wurde mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2013 ausgezeichnet. In diesem Jahr erschien der Gedichtband Die Vogelstraußtrompete (Suhrkamp 2014).
Mario Osterland: Den Österreichern wird oft ein besonderer Hang zum Morbiden nachgesagt, was wohl vor allem mit dem Wiener Totenkult und der »schönen Leich« zusammenhängt. Glauben Sie auch, dass Ihre Landsleute dieses Faible haben und gibt es in Ihrer Heimatstadt Graz einen ähnlichen Kult ums Begräbnis?
Clemens J. Setz: Nein, ich glaube nicht, zumindest nicht mehr als an anderen stark katholisch dominierten Orten.
M. Osterland: Wie stark wurden Sie vom Katholizismus geprägt?
C. J. Setz: Es ist halt ein Teil der Kultur, in der man aufwächst. Ich stelle mir oft Religionen automatisch als todesverfallen vor (was sie ja auch häufig sind). Das ist sicher eine Folge dieser »Prägung«. Aber sonst hat Religion in meinem Leben nie eine besondere Rolle gespielt, abgesehen davon, dass sie einem in der Weltliteratur natürlich oft begegnet.
M. Osterland: Sie sammeln Meldungen von merkwürdigen Todesarten. Was fasziniert Sie daran?
C. J. Setz: Mich fasziniert vor allem das Verhalten der Menschen davor, die kondensierten Romane, die sich da abspielen. Irrtum, Leichtsinn, Pech, Wahnsinn, Unschuld, Vermessenheit, all das kommt da oft in hoch konzentrierter Form vor. Besonders merkwürdig sind bizarre Selbstmordarten, etwa wenn sich jemand eine Selbstpfählungsmaschine in einem Hotelzimmer baut und sich so aus der Welt schafft. Was war das für ein Mensch? Wie kam er darauf? Man studiert die Bilder, die von der grausamen Szene gemacht wurden, und versteht doch nichts. Man zoomt hinein, aber kommt dem Geheimnis nicht näher.
M. Osterland: Können Sie sich Bilder von solchen Suiziden problemlos anschauen? Haben Sie da so eine Art inneren Recherche-Modus?
C. J. Setz: Werner Herzog sagte, der Dichter sei einer, der seinen Blick nicht abwenden kann. Nach dieser Definition bin ich also wohl eher kein Dichter. Denn es gibt vieles, was ich nur mit Mühe betrachten kann. Solche Abbildungen sind wie Lochkarten, die in meinem Bewusstsein ein Programm abspielen lassen. Welches das sein wird, weiß man vorher nicht.
M. Osterland: Klopfen Sie solche Meldungen oder Fälle auf ihr literarisches Potential ab? Oder wandern sie erst einmal in den Festplattenspeicher?
C. J. Setz: Merken tut man sie sich natürlich. Aber abklopfen muss ich dabei nichts. Ich bin kein Vampir, der Literatur aus dem Leid anderer gewinnt. Wenn man als Autor erwähnt, dass man sich in der Vergangenheit mit irgendetwas, das mit Leid, Gewalt und Erniedrigung zu tun hat, beschäftigt hat, denken die Menschen automatisch, man nehme eben alles, auch so schrecklichen Dinge, als »Material« wahr. Vielleicht so wie ein Untersuchungsrichter oder ein Polizeiermittler, die ihre Emotionen eher ausschalten sollen. Das ist aber bei mir gerade nicht so, sondern eher genau umgekehrt. Ich denke außerdem, dass es gut ist, wenn man in entlegene Winkel schaut, wenn man Muster erkennt, wenn man Mysterien festhält und einrahmt, wenn man Unbegreifliches sammelt. Das alles sind uralte Rituale.
M. Osterland: Waren Sie dem Tod selbst schon einmal nahe oder glaubten es zu sein?
C. J. Setz: Ja, zwei Mal. Glücklicherweise durfte ich beide Male umkehren und wieder zurück in die Welt gehen.
M. Osterland: Wie haben diese Erlebnisse Ihre Sicht auf Leben und Tod verändert?
C. J. Setz: Ich denke gern an das, was Susan Sontag sagte, als sie im Sterben lag: »Ich hätte nicht gedacht, dass mir das mal passiert.« Das könnten wir natürlich alle sagen. Was es bei mir verändert hat, ist die Verstärkung und Bestätigung der Einsicht, dass man keinen Frieden damit schließen kann. Es bleibt eine zu unbegreifliche Einrichtung, das Ganze. Einerseits ist es gut und tröstlich, dass der Tod das Ende des Bewusstseins ist, dass nichts von ihm überlebt, außer für eine Weile in den Gehirnen anderer Menschen. Die Alternative wäre die wirkliche Hölle. Aber gleichzeitig ist es so unvorstellbar grausam, verschwinden zu müssen, wenn es einem körperlich einigermaßen gut geht. Sterben zu müssen ist peinlich. Und diesen Widerspruch »unter einen Hut« zu bringen, scheint mir nicht eine vergebliche oder sinnlose, sondern eine merkwürdig beleidigende Haltung. Ich habe tatsächlich immer eine große Scheu und Abneigung gegenüber Menschen, die in Bezug auf Leben und Tod abgeklärt sind und darin keine unauflöslichen Paradoxien, keinen himmelschreienden Skandal und keine Mysterien mehr erkennen können.
M. Osterland: Sterben zu müssen ist peinlich?
C. J. Setz: Ja, natürlich. In einer Situation, wo man meint, sterben zu müssen, fühlt sich das so an. Man schämt sich irgendwie vor den anderen, die das Glück haben, noch in seliger Ungewissheit, also Freiheit, zu existieren. Man sitzt da und erinnert die anderen daran, dass es das gibt: einen verfrühten, entwürdigenden Tod. Man spürt den rauen Gegenwind des uralten Ausgegrenztwerdens vom Rudel oder der Herde. Das schwache, todesnahe Tier wird von den anderen ausgeschlossen. Nicht alle Todes- oder Sterbearten bringen das so klar heraus.
M. Osterland: In einem Interview sagten Sie mal, dass Sie Leuten, mit denen Sie Zeit verbringen, einen Grund zum Bleiben bieten wollen. Wie ist das gemeint?
C. J. Setz: Oh, das mach ich inzwischen nicht mehr. War nur so eine Art Versuch oder eine Phase. Oder was weiß ich. Ich verbringe, außer mit meiner Freundin, kaum mehr Zeit mit Menschen. Die wenigen Freunde, die ich habe, wohnen alle weit weg, und ich habe nur noch online Kontakt mit ihnen.
M. Osterland: Fällt es Ihnen schwer, Abschied zu nehmen?
C. J. Setz: Hängt ganz davon ab. Unangenehm finde ich Abschiede ohne Verabschiedung. Aus irgendeinem Grund mag ich das Ritual, jemandem – selbst einem unangenehmen Menschen – noch mal die Hand zu geben oder zu winken und sich dann umzudrehen und zu gehen.
M. Osterland: Weil Sie Rituale mögen oder ziehen Sie gern einen Schlussstrich unter Begegnungen?
C. J. Setz: Nicht allgemein Rituale, aber ich mag speziell das Verabschiedungsritual. »Auf Wiedersehen. Kommen Sie gut nach Hause. Vielleicht laufen wir uns irgendwann wieder über den Weg.« Solche Sätze mag ich. Aber ich glaube, das hat nichts weiter zu bedeuten. Es ist einfach eine Präferenz, so wie manche Leute gern Tiramisu oder Geisterbahnen mögen.
M. Osterland: In der Erzählung Der Herzstück der Sammlung (enthalten in Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes, Suhrkamp 2011) entwerfen Sie eine Vorstellung vom Vermächtnis des Schriftstellers Clemens J. Setz. Daran anknüpfend: Was glauben Sie wird von Ihnen bleiben?
C. J. Setz: Was meinen Sie, gibt es Leute, die sich tatsächlich über diese Frage Gedanken machen? »Was wird von mir bleiben?« Ich würde gern mal mit so jemandem reden. Es gibt natürlich eitle Autoren, aber selbst unter diesen wird man vielleicht nur eine Handvoll finden, die sich ernsthaft dieser Frage annehmen.
M. Osterland: Die Frage nach der eigenen, auch künstlerischen Vergänglichkeit führte aber immerhin zu einer Kurzgeschichte.
C. J. Setz: Nein, Geschichten entstehen nie aus abstrakten Fragestellungen, sondern aus konkreten szenischen Einfällen. Hier wollte ich einfach erleben, wie es sich anfühlt, von so einer merkwürdigen End-Begleiterin besucht zu werden. Ich sah diese Figur vor mir und wollte sie in Aktion erleben. Über meine eigene künstlerische Vergänglichkeit hab ich dabei gar nicht viel nachgedacht.
M. Osterland: In der Geschichte gibt es die Sätze: »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. Aber wofür? Für noch mehr Vergängliches.« Wird der Tod in den Künsten zu sehr mit Bedeutung aufgeladen?
C. J. Setz: Ja, bestimmt. Es ist aber auch ein bleibender Skandal. »News that stays news« – diese Definition der Poesie von Ezra Pound trifft auch auf den Tod, auf die Vergänglichkeit zu. Da überrascht es nicht, dass Menschen, die Geschichten erzählen, immer wieder bei ihm landen. Allerdings ist das Nachdenken über den Tod oft auch in Wirklichkeit was ganz anderes. Alles hat immer so viele Verkleidungen übereinander an, dass man nie sicher sein kann, was man wirklich tut.
M. Osterland: Also gibt die Literatur nur eine Art Zerrbild vom Tod wieder?
C. J. Setz: Nein, das wollte ich damit nicht sagen. Ich weiß im Grunde gar nicht so viel darüber, was Literatur allgemein macht und was sie kann usw. Das ist bei Autoren häufig zu beobachten. Sie machen, spielen, probieren aus, sind von gewissen Dingen besessen. Aber selten spielen solche Überlegungen wie »Tut Literatur XY…?« eine Rolle. Deshalb bin ich überfragt.
M. Osterland: In ihrem Roman Indigo ist das zentrale Moment eine Krankheit. In der Literatur wird Krankheit meist mit Verfall und Tod gleichgesetzt. Zudem werden Krankheiten meist, laut Susan Sontag immer, metaphorisiert. Worin besteht Ihrer Meinung nach die Schwierigkeit eine Krankheit ins Zentrum einer Erzählung zu stellen?
C. J. Setz: Es ist keine tödliche Krankheit, sondern fällt mehr in den Bereich einer chronischen Behinderung. Also eine völlig andere Kategorie als jene Krankheiten, die von Susan Sontag in ihren beiden berühmten philosophischen Meditationen untersucht werden. Aber natürlich ist es auch möglich, eine chronische Behinderung zu metaphorisieren und ihr Gewalt anzutun. Ich weiß nicht, ob ich das mache. Ich hoffe nicht.
Das Schwierige bei Indigo war, dass es eine so grelle, plakative Grundidee hat. Sie quillt einem in ihrem banal-symbolischen Potenzial regelrecht entgegen. Aber genau solche comicartigen, mit grobem Pinselstrich gemalten Einfälle sind es, über die ich zu Augenblicken der Poesie, der subtilen Wahrheit und des Mysteriums komme. Viele Autoren kommen eher über die Betrachtung des Gewöhnlichen auf diese Dinge. Ich bin – in diesem Aspekt – ein naiver Autor, denn ich kann das Besondere nur im Besonderen finden.
M. Osterland: Was macht Literatur für Sie besonders?
C. J. Setz: Es ist halt das Feld, in dem ich mich lebendig fühle. Für viele Leute ist das absurd, die können mit Geschriebenem nicht so viel anfangen. Dafür hab ich eigentlich auch Verständnis.
M. Osterland: Eine Art Lebendigkeit, die Sie die Vergänglichkeit vergessen lässt?
C. J. Setz: Ich denke, einfach nur Lebendigkeit. Stellen Sie sich vor, Sie spielen mit jemandem, in den Sie heimlich verliebt sind, Federball. Würden Sie das als einen Zustand charakterisieren, der Sie ihre Vergänglichkeit vergessen lässt? Vielleicht. Aber es blickt doch irgendwie an der Hauptsache vorbei.
M. Osterland: Ich habe irgendwo gelesen, dass Sie immer an mehreren Sachen gleichzeitig schreiben. Was hat gerade Priorität?
C. J. Setz: Gerade ist ein sehr langer, fast 1000seitiger Roman fertig geworden. Das war viel Mühe, aber zugleich fragt man sich hinterher natürlich, wenn die Verzauberung, in der man drei Jahre zugebracht hat, sich plötzlich verflüchtigt, wozu man so etwas macht. »Lange Bücher sind eine Unverschämtheit«, sagte Judith Schalansky zu mir, als ich sie in Graz traf. Sie hat recht. Judith ist sowieso ein Vorbild, finde ich.
M. Osterland: Warum?
C. J. Setz: Judith ist ein Vorbild in ganz vielen Bereichen, persönlich und literarisch. Am besten kann ich das, was sie zu einem Vorbild macht, wohl durch eine Empfehlung beschreiben: schauen Sie sich mal ihre Bücher an, also: Blau steht dir nicht, Atlas der abgelegenen Inseln und Der Hals der Giraffe. Es sind alles recht kurze Werke, aber welche Poesie, welche Konzentration, welche Anmut der Recherche!
M. Osterland: Lieber Clemens Setz, vielen Dank für das Gespräch!
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