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Neue Literatur aus Argentinien
Samanta Schweblin – Lola Arias – Martín Kohan
Das Magische, die Liebe und die Junta
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Mit Argentinien war das populärste Literaturland Südamerikas auf der Frankfurter Buchmesse 2010 zu Gast. Ein Querschnitt durch die neuesten literarischen Entwicklungen des Landes hat unlängst gezeigt, wie groß die Vielfalt an Themen und Stilen argentinischer Autoren ist. Jenseits der Tradition des Magischen Realismus, der hierzulande immer noch die erste Assoziation mit lateinamerikanischer Literatur weckt, verschafften sich neue Autoren eine eigene Stimme. Das Bewusstsein für das literarische Erbe ging dabei jedoch keinesfalls verloren.
Unter den hier vorgestellten Neuerscheinungen sind die Erzählungen Samanta Schweblins (Jg. 1978) die einzigen Texte, welche sich eindeutig der angesprochenen Tradition des Magischen Realismus verpflichtet fühlen. Die Autorin ruht sich jedoch nicht auf den bekannten Erzählmustern Jorge Luis Borges', Gabriel García Márquez' oder Isabel Allendes aus. Meist entzünden sich ihre Plots an aktuellen Problemen der Mittdreißiger wie Kinderlosigkeit oder sozialer Entfremdung in der Großstadt; manchmal auch an überlieferten Legenden, die in der Gegenwart immer noch Gültigkeit besitzen. So zum Beispiel in der Erzählung Unter Erde. Hier erzählt ein geheimnisvoller Blinder vom mysteriösen Verschwinden der Kinder eines Dorfes „tief im Inneren des Landes“, bis er selbst scheinbar im Nichts verschwindet. Das Bild der alles verschluckenden Einsamkeit der Steppe benutzt Schweblin mehrmals, um die Leere im Inneren ihrer Protagonisten zu verdeutlichen. Das dünn besiedelte Patagonien scheint der ideale Schauplatz für mystische Begebenheiten, eine Zwischenwelt von Fantasie und Wirklichkeit zu sein.
Doch es ist nicht allein die Landschaft, welche den Geschichten in Die Wahrheit über die Zukunft ihren besonderen atmosphärischen Reiz verleiht. In Schweblins Geschichten mischt sich ein subtiler Horror in Alltagssituationen ein und erreicht hier seine maximale Durchschlagskraft. In Der Mund voller Vögel schockiert eine Tochter ihre in Scheidung lebenden Eltern damit, dass sie mit Vorliebe lebendige Vögel verschlingt. Hier und auch in anderen Erzählungen des Bandes verdeutlicht die Autorin wie zerbrechlich das bequem eingerichtete Leben plötzlich sein kann, ohne sich in allzu offensichtlicher Gesellschaftskritik zu verlieren. Vielmehr betrachtet sie die Realität durch einen fantastischen Filter, um somit den Leser für die Wahrheit hinter den Dingen zu sensibilisieren und seinen Blick zu schärfen.
Die kunstvolle Verflechtung von Realismus und Fantastik findet ihre Entsprechung in Schweblins poetischer, dennoch sehr klarer Sprache. So bleiben die Texte trotz ihrer inhaltlichen Komplexität stets gut lesbar und vor allem nachvollziehbar.
Auch Lola Arias (Jg. 1976) versteht es, in ihren Texten den Balanceakt zwischen poetischer Reflexion und geradlinigem Erzählen zu meistern. Allerdings finden sich darin keinerlei fantastische Begebenheiten von vom Erdboden verschluckten oder vogelfressenden Kindern. Arias' Interesse liegt voll und ganz bei den Momentaufnahmen der Gegenwart, in denen sich "fragile Beziehungen und sexuelle Identität, absurde Familienkonstellationen und soziale Brennpunkte" offenbaren, wie es treffend im Klappentext heißt. In Liebe ist ein Heckenschütze sind neben Erzählungen auch Gedichte und Theaterstücke versammelt. Eine dem Buch beiliegende CD mit 12 Songs rundet die Werkschau der Autorin, Regisseurin und Musikerin ab.
Im ersten Teil Die Postnuklearen überzeugt Arias als Erzählerin in klassischer Short Story-Manier. Wie die Überlebenden einer großen Katastrophe wirken hier die Protagonisten, die meist vergebens versuchen, sich ein besseres Leben zu verschaffen. Distanziert aber nicht teilnahmslos zeichnet die Autorin ein Bild ihrer Helden. So gelingt es dem Leser zwar Einblick in deren Lebenswelt zu bekommen, doch letztlich bleiben die Figuren immer Fremde. Die Gleichzeitigkeit von Distanz und Nähe, dem Alleinsein trotz Zusammenlebens ist ein wesentlicher Aspekt im gesamten Schaffen Arias'. Manchmal durchbricht nur ein einziger Satz die Oberfläche, lässt dann aber sehr tief blicken. „Julia beginnt am Ladentisch einen Roman zu lesen, dessen Heldin sich umzubringen versucht.“
Einen weiteren Teil nehmen die unter Mobiles Herz versammelten Texte ein. Die als Gedichte getarnten Notizen, Fragmente und Dialoge geben einen intimen Einblick in den Schaffensprozess der Autorin. Schnell erkennt man, dass Arias' Schreiben an vielen Stellen eine Variation ein und desselben Themas darstellt, ohne dabei zwingend redundant zu wirken. Es ist im Gegenteil höchst interessant zu erfahren, wie gleiche Bilder oder Formulierungen in unterschiedlichen Situationen wirken, wie sie andere Reaktionen der Umwelt hervorrufen. Nicht selten scheint sich dahinter die Frage der Protagonisten wie der Autorin gleichermaßen zu verbergen: Hätte ich es besser machen können?
So kreisen Lola Arias' Texte nicht gerade um spezielle argentinische oder lateinamerikanische Probleme, sondern scheinen vollkommen losgelöst von der literarischen Tradition des Landes zu funktionieren. Wie auch in der europäischen oder nordamerikanischen Literatur geht es immer wieder um Selbstzweifel, Versagensängste und Orientierungslosigkeit im Leben.
Deutlich stärker durch die Literatur mit seinem Heimatland verbunden ist hingegen Martín Kohan (Jg. 1967). In seinem neuen Roman Sittenlehre setzt er sich mit der Diktatur der Militärjunta während des Falklandkrieges 1982 auseinander. Doch auch ihm geht es vor allem um das Innenleben des bzw. der Einzelnen und so verfolgt der Leser eine Episode aus dem Leben María Teresas, die am Elitegymnasium Colegio Nacional in Buenos Aires als Aufseherin arbeitet. Der Drill, die Überwachung und die Einhaltung der Ordnung reichen vom Stillstehen beim täglichen Fahnenappell bis hin zur Kontrolle der Socken, die bei allen Schülern und Schülerinnen blau und aus Nylon sein müssen. Zuwiderhandlungen gegen diese eindeutigen Regeln werden stets als subversive Akte gegen das System gewertet. Doch nicht nur der militärische Drill, auch die Methoden zur Überwachung nehmen am Colegio Nacional bisweilen groteske Formen an. Als María Teresa den Verdacht schöpft, dass in der Knabentoilette geraucht wird, beschließt sie den Täter in flagranti zu überführen und somit ihren Vorgesetzten zu beeindrucken.
Das tagelange Verstecken in der Knabentoilette führt allerdings nicht zum gewünschten Erfolg. Stattdessen erhält die unbedarfte María Teresa plötzlich intimen Einblick in die ihr unbekannte Welt des männlichen Geschlechts. Wie schnell sich daraus ein intensiver Fetisch entwickelt, scheint die Aufseherin selbst nicht zu bemerken, glaubt sie doch einzig und allein zum Wohle der Ordnung des Gymnasiums, ja des ganzen Landes zu handeln. Wie präzise und meisterhaft Martín Kohan die Rolle des Einzelnen als kleines Rädchen im System vorführt und so erst zu dessen Erstarken verhilft, ist in den meisten Besprechungen von Sittenlehre zu lesen. Darüber hinaus baut der Autor ein psychologisches Spannungsverhältnis zwischen privatem und öffentlichem Leben in einer Diktatur auf, das notwendigerweise katastrophal zu enden scheinen muss. Denn sowohl für María Teresa, als auch für ganz Argentinien endet die Zeit des Falklandkrieges mit einer herben Ernüchterung.
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Samanta Schweblin
Die Wahrheit über die Zukunft
Erzählungen
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar
Suhrkamp, Berlin 2010
130 S. |
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Martín Kohan
Sittenlehre
Roman
Berlin: Suhrkamp Verlag 2010
247 Seiten | 19,90 Euro
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Mario Osterland
Prosagedichte
Gespräch
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