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Neue argentinische Literatur C. Busqued, F. Casas, M. Kohan, C. M. Domínguez, S. Schweblin Ein Dossier mit fünf ausgewählten Beispielen
Aus Argentinien, dem diesjährigen Gastland der Frankfurter Buchmesse, kommen einige spannende Neuerscheinungen. Meist gibt die Messe für die Literatur des Schwerpunktlandes einen großen Schub, allerdings setzen sich nicht alle Autoren durch und nach wenigen Jahren, wenn nicht sogar Monaten, hat man den Eindruck, das ganze Bohei würde rasch verpuffen. Oder können Sie zwei Autoren aus Litauen oder Korea benennen, die in den Jahren 2002 und 2005 Gäste der Messe waren? Das ist für Argentinien nicht zu befürchten, denn die argentinische Literatur findet auch abseits des großen Spektakels ein interessiertes Publikum. Und wie vielfältig und aktuell die Literatur am Rio de la Plata ist, soll hier beispielhaft an fünf neuen Titeln vorgestellt werden.
Carlos Busqued: Unter dieser furchterregenden Sonne. Roman Cetarti, ein Mann mittleren Alters, sitzt im Wohnzimmer, raucht Gras und schaut sich Monsterkraken auf Discovery Channel an. Diese seine Hauptbeschäftigung wird der phlegmatische Typ im gesamten Roman nicht ändern, auch der, sprechen wir hier im neutralen Ton, Todesfall in der Familie wird ihn nicht beeindrucken, der ihn in das Nest Lapachito in der nördlichen argentinischen Provinz Chaco lockt. Dort macht er Bekanntschaft mit Duarte, dem Testamentsvollstrecker, der ihm irgendwie wohlgesonnen ist. Dass es dieses Lapachito tatsächlich geben soll, wie mir Google Maps weißmachen will, kann man bei der Lektüre kaum glauben, versinkt diese Stadt doch in einem Schlamm aus Gülle und Kot, der jedes Auto, das sich in diese giftige Kloake wagt, in eine Rostlaube verwandelt. Ob es am Dauerrausch liegt, dass die Welt, die Cetarti umgibt, eine Angst einflößende ist? Die er aber gar nicht als so sonderbar wahrnimmt, auch wenn es darin von äußerst gefährlichen Wildtieren, skrupellosen Entführern und Folterknechten, bissigen Kampfhunden, Bombardierungen, Mördern und unaufgeklärten Mordfällen nur so wimmelt. Man muss schon gute Nerven besitzen, um alle Szenen dieses Romans auszuhalten. Da es eine Art Krimi ist, soll nicht zuviel verraten werden, nur das Ende, denn es geht trotz allem irgendwie gut aus. Und wenn man ganz zäh ist, wird man in Carlos Busqueds (Jg. 1970) erstem Roman eine Parabel auf die wundersame Kraft von Cannabis im Kampf gegen das Übel in der Welt erblicken, Argentinien jedoch von der Liste der Urlaubsziele streichen.
Samanta Schweblin: Die Wahrheit über die Zukunft. Erzählungen In Samanta Schweblins (Jg. 1978) Erzählungsband geht es nicht weniger sonderbar zu. Man kann hier womöglich eine Spielart des magischen Realismus hineininterpretieren. Die Geschichten fallen leicht aus der Zeit. Die Gegenwart ist auf eine mögliche Zukunft hin zugespitzt, die nichts Gutes für uns im Gepäck hat. Aber da fehlt nur ein Tick zu unserer Realität. Einige Geschichten spielen scheinbar im Jetzt, driften aber nach und nach in etwas ab, das sich nicht mehr greifen lässt, das die Realität verlässt. Alltägliche Situationen, eine Pause an der Raststätte oder ein Streit in der Familie wachsen zu etwas Ungeheuerlichem aus. Dann gibt es Geschichten, die an der Grenze zum Horror-Genre angesiedelt sind und schließlich einige, die man getrost Science Fiction nennen kann, z.B. in der Geschichte „Konserven“, in der ein junges Paar sich darauf einlässt, an einer Art Experiment teilzunehmen, um die sichtbare Schwangerschaft allmählich wieder rückgängig zu machen. Der Fötus wird schließlich ausgespuckt und in einem Weckglas für einen besseren Augenblick aufbewahrt. Dass das Warten auf diesen besseren Augenblick ein vergebliches ist, ahnt man, denn eigentlich stimmte alles, um ein Kind auf die Welt zu bringen. Vielleicht liegt hier auch einfach nur ein gutes Buch mit vielen Dystopien vor. Eine Anleitung zum Glücklichsein ist es jedenfalls nicht.
Carlos María Domínguez: Die blinde Küste. Roman Die Raststätte als literarischer Ort ist auch in diesem Roman - wie schon bei Schweblin und Busqued – präsent. In diesem Fall ist es jedoch nicht der unheimliche Ort, sondern hier werden die Fäden der Geschichte zusammengesponnen. Zwei ungleiche Menschen treffen aufeinander: Camboya, eine junge Tramperin, und der 50-jährige Arturo, Zufallsbekannte, die nicht ahnen, dass ihre Geschichten verflochten sind. Der Roman „Die blinde Küste“ von Carlos María Dominguez (Jg. 1955) ist an der argentinisch-uruguayischen Grenze angesiedelt und greift das Thema des Exils auf. Beide Länder hatten ihre Diktaturen und dienten andererseits den jeweils Verfolgten als Zufluchtstätte und in diesem Milieu spielt der Hauptstrang der Erzählung. Als junger Mann hatte Arturo in Buenos Aires als Buchsetzer gelebt und war über seine Liebe zu Cecilia in die kommunistische Szene geraten, die immer gezielter verfolgt wurde. Eben jene Cecilia ist Camboyas Tante, die seit ihrem Verschwinden in ihrer Familie als eine Heldin verehrt wird. Zweifellos ist dieser Roman spannend, aber hier sind so viele Fäden gelegt, dass man sich wünscht, da würde mehr Stoff sein, an dem man sich festkrallen könnte als dieser Fadenschein. Dass Heldentum nur eine Seite der Medaille ist, müssen diejenigen, die vorher wie blind daran geglaubt haben, erst schmerzlich erfahren.
Martín Kohan: Zweimal Juni. Roman Der dichteste Roman dieser Auswahl ist „Zweimal Juni“ von Martín Kohan (Jg. 1967). Gerahmt von den Fußball-Weltmeisterschaften 1978 und 1982 und aus der Perspektive eines naiven Rekruten erzählt, schildert Kohan den Höhepunkt und Niedergang der argentinischen Diktatur. Doktor Mesiano, der Vorgesetzte des Rekruten, zu dem er eine sonderbare Zuneigung hegt, ist ein ranghoher Militärarzt, der entscheiden muss, ab wann ein Kind gefoltert werden darf. Da diese Frage, die in der Dienststube eintrifft, als Mesiano beim Vorrundenspiel Italien-Argentinien im Stadion sitzt, nicht unbeantwortet bleiben darf, begibt sich der Rekrut auf die Suche nach seinem Vorgesetzten in der leergefegten Stadt. Begriffsstutzig wie er ist, wird er Zeuge von Verbrechen, in die der Doktor verwickelt ist, ohne sich aber davon distanzieren zu können. Auch als eine verschleppte und misshandelte Frau ihm auf dem Gang eines Folter-Gefängnisses ihren Namen und ihr Schicksal zuflüstert, reagiert er mit Widerwillen. Statt ihr zu helfen, beschimpft er sie. Kohan skizziert hier ein düsteres Bild der Gesellschaft, die sich auch nach dem Machtwechsel nicht zu ändern scheint. Die alten Machthaber müssen nur geschickter vorgehen, um ihr Leben weiterzuleben, höchstens unter anderem Namen. Die Opfer der Gewalt haben Leben, Würde und Namen verloren.
Fabián Casas: Lob der Trägheit. Zwei Erzählungen Das einzige dieser fünf ausgewählten Bücher, das auch Lesern mit schwachen Nerven empfohlen werden kann, ist der Band von Fabián Casas (Jg. 1968). Er beinhaltet zwei längere Erzählungen, die in einem ähnlichen Milieu angesiedelt sind. Hier wird das Lebensgefühl einer neuen Generation beschrieben, der jungen Leute, die in den 90er Jahren kaum aufgebrochen waren und schon desillusioniert wurden. Aber es ist immerhin ein Lebensgefühl, das man als Westeuropäer nachempfinden kann, denn so ganz unähnlich laufen auch hier die Biographien junger Männer nicht ab. Die Militärdiktatur ist kein Thema, wie in den drei anderen Romanen, wo Folter und Haft sehr eindringlich geschildert werden. Zuweilen scheint hier der finanzielle Staatsbankrott durch, der Argentinien und seine Bewohner lähmt. Andrés, der junge Held aus „Das Lob der Trägheit“, bricht dennoch aus der Schneckenhauswelt seines Elternhauses aus, schließt Bekanntschaft mit einer Gruppe junger Leute, die sich sowohl in der Kunst als auch in Alkohol und Drogen ausprobieren. Aber doch ist da das existenzielle Alleinsein als Hintergrund für alle seine Schritte. Die Mutter ist gestorben, der Vater und der Bruder gehen ihre eigenen Wege, auch wenn sie in einer Art Männer-WG zusammenleben. Und vielleicht sind es gar nicht die sozialen Umstände, die Andrés daran hindern, wirklich aufzubrechen, sondern die Erinnerungen an seine Mutter und die große Zeit seines Vaters, die seine Melancholie heraufbeschwören.
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