Olga Tokarczuk
Unrast
Immerwährendes Boarding
Kritik
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Olga Tokarczuk
Unrast
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky
Schöffling & Co. 2009
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„Mir scheint, dass für unsere Zeit Unrast ein solches Wort sein könnte“, schreibt Olga Tokarczuk über ihre Suche nach einer etikettierenden Bezeichnung für die heutige Gesellschaft, für den Zustand des äußerst mobilen Menschen. Für die Begründung ihrer Wahl benötigt sie allerdings ein 450 Seiten starkes Buch, nein, vielmehr ähnelt es einem ausuferndem Wikipedia- Beitrag, in dem sich mehrere Geschichten, skurrile Begebenheiten, kurze Beobachtungen auf Reisen, kulturwissenschaftliche Einstreusel bis hin zu aphoristischen Notizen wie Fundstücke verschiedener Autoren aneinanderreihen.
Nur um die ersten handlungstragenden Personen zu nennen: Da gibt es z.B. das Urlauberpaar Kunicki, das auf einer kroatischen Insel den Sommer verbringt. In einem Moment der Unachtsamkeit verliert es sich aus den Augen. Aber nicht, wie man denken möchte, im Gewimmel irgendeines Marktes sondern auf einer einsamen Landstraße. Die kleine Insel, auf der niemand verloren gehen kann, wie die Einheimischen dem verzweifelt suchenden Kunicki immer wieder versichern, wird schließlich Schauplatz einer groß angelegten Suchaktion. Um zu erfahren, was der Vermissten widerfahren ist, muss sich der Leser fast bis zum Schluss des Buches gedulden, wenn er ganz andere Geschichten und Beiträge gelesen hat und sich an Kunicki nur noch vage erinnert. Denn da gibt es noch zahlreiche weitere Personen. Den Seemann Eryk, der nach langen Jahren auf hoher See jetzt eine skandinavische Fähre von einer Seite des Fjordes zur anderen manövriert, bis er eines Tages den vorgegebenen Kurs verlässt. Doktor Blau, der das Geschlecht seiner wechselnden Sexualpartnerinnen fotografiert und diese Fotos dann katalogisiert. Oder Philip Verheyen, der durch eine Entzündung sein Bein verliert, es nach der Amputation in einem Glas aufbewahrt und mit ihm Zwiesprache hält. Wie sie auch heißen mögen, diese kleinen Helden, sie sind besessen von einem nebulösen Ziel.
Neben dem Reisen steht der Körper im Zentrum dieses Buches, vielmehr der Versuch des Menschen, seinen Körper haltbar zu machen. Von der Einlagerung abnormer Körperteile in Formalin, wie man sie auch heute noch in vielen anatomischen Museen mit leichtem Gruseln bestaunen kann, bis hin zu von Hagens plastinierten Exponaten geht es hier um das Phänomen des Konservierens und Stillstellens. Wenn der Mensch schon satellitengleich um den Erdball kreist, dann ist ihm nur der Körper die eigentliche Heimat, könnte man meinen. Vielleicht ist hier der Nexus zu suchen, der die disparaten Teile von Olga Tokarczuks Buch zusammenzurrt. Einerseits zelebriert der moderne Mensch eine endlose Reisefreudigkeit, Mobilität und Entwurzelung. Andererseits experimentiert er an der Haltbarmachung seines doch endlichen Körpers, der auf Alterung und Verfall programmiert ist.
So sehr diese Menschen auch auf einer Pilgerreise zu was auch immer zu sein scheinen, der letzte Schritt will ihnen nicht gelingen. Der ist in einem anderen Buch vorgezeichnet. In der nahen Zukunft des spanischen Schriftstellers Ray Loriga existiert eine Software, die den Angehörigen dazu dient, mit einem Verstorbenen zu kommunizieren. Seine gesamte Ausdrucksfähigkeit ist dort als Avatar eingespeist. Er ist nurmehr latent abwesend – wohl mit der latenten Anwesenheit von Freuden mittels Skype vergleichbar.
Olga Tokarczuk ist ein einbändiges Lexikon des Reisens und der Körper gelungen, ein schöner Reisebegleiter, der uns im guten literarischen Stil Auskunft über uns selbst geben möchte, wo auch immer wir uns gerade befinden mögen – in der Wartehalle, beim Flug oder bei der Landung.
Adrian Kasnitz 14.08.2009
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Adrian Kasnitz
Lyrik
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