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Florian Neuner
Ruhrtext

Ein Sympathisant der Brache
Kritik
Florian Neuner | Ruhrtext   Florian Neuner
Ruhrtext
Eine Revierlektüre
Klever Verlag 2010
480 Seiten, 29,90 Euro

Das Buch im Verlag  externer Link

Das gibt es nur bei uns in Gelsenkirchen” (Georg Kreisler)


Das Ruhrgebiet ist ein Gebiet und leider keine Stadt, sonst wäre es wo­möglich Europas größte. Es zerfällt in seine Verwaltungseinheiten und ist landschaftlich gegliedert in urbane Räume, postmontane Brachen, Auto­bahnen, Schienen, ländliche Strukturen, die abrupt aufeinanderprallen, deren Grenzen verwischen oder willkürlich anmuten und somit der Interpretation bedürfen. Ein großes zersiedeltes Gebiet möchte man sagen. Ein Zentrum lässt sich schwer finden. Wer das Ruhrgebiet kennenlernen möchte, mag sich an die Rosinen halten, die ihm Reiseführer bieten, wie sie gerade im Kulturhauptstadtsjahr pilzartig sprießen, empfehlen möchte ich aber das Brot um die Rosinen, wie es der Ruhrtext von Florian Neuner bietet.
  Neuner hat sich auf den Weg gemacht, die ineinander geschachtelten Städte, Stadtteile aufzusuchen, wobei in etwa Duisburg, Marl, Hamm und Hagen die äußersten Grenzen markieren, das Gebiet abstecken. Er ist S-Bahn gefahren, hat Siedlungen durchquert und ist oft in Gaststätten gelandet. Er ist einfach den „Verlockungen des Terrains” gefolgt, wie es Guy Debord ausdrücken würde. Neuners Blick ist an den Raumkonzepten der Situationisten geschult, auf die immer wieder rekurriert wird, aber der Ruhr­text ist keine theoretische Abhandlung, sondern hier geht es um Stimmun­gen und Stimmungswechsel. Sein Interesse gilt der Lektüre: das Revier lesen, die Städte anhand der Schrift in den Straßen, der Kneipennamen, der Plakate und Selbstbezeichnungen zu entziffern. Er begegnet der Stadt­möblierung, wie es so schön heißt, und dem Inventar der Bewohner, und bezweifelt, dass es hier eine Orientierung, eine Perspektive gibt.
  Die Zielorte sind dabei sekundär: „Aussteigen oder Sitzenbleiben. Ab­biegen oder geradeaus weiter. Links oder rechts. Man könnte auch würfeln, wie viele Stationen man fährt, mit der Straßenbahn, der S-Bahn. Man könnte noch ausgeklügeltere Versuchsanordnungen installieren, um den Zufall ent­scheiden zu lassen. Oder man läßt sich von Orts- und Straßennamen lei­ten” (S. 39). Die Verheißungen der Namen führen jedoch meist in die Irre. Aber was heißt schon irregehen, wenn das Ziel Erkundung heißt, sich dort­hin wagen, wohin es niemanden hinzieht. In einer Kneipe wird er gefragt, ob er mit dem Auto, mit dem Rad gekommen sei. Dass er zu Fuß unterwegs ist, gibt die Novelle für einen ganzen Abend.

Die Dérive betitelten Spaziergänge werden durch Exkurse ins Historische oder Kulturelle vertieft. Die Aufruhr-Kapitel beschäftigen sich mit Krisen, Kämpfen und politischen Auseinandersetzungen von der Märzrevolution 1920 bis zu den Werksschließungen der 1980er Jahre und der anschlie­ßenden Verwandlung des Ruhrgebiets in eine Museumslandschaft. Sie beschwören eine Kontinuität der Konflikte zwischen Arbeitenden und Mäch­tigen herauf, die durch die Eingangsphrase – dem Ausspruch Rainer Bar­zels: „Wenn es an der Ruhr brennt, reicht das Wasser des Rheins nicht, um das Feuer zu löschen” – unterstrichen wird. Die kulturellen Exkurse widmen sich Museen, Musiktagen und anderen Alleinstellungsmerkmalen.
  Ob das Ruhrgebiet nun hässlich oder schön ist, wird hier nicht be­antwortet. Die Hässlichkeit ist oftmals augenscheinlich – das wird jeder Besucher berichten. Die Schönheit ziert sich – dem werden sogar die Ein­heimischen zustimmen. Dem Umstand, dass Florian Neuner ein öster­reichischer Herr auf Durchreise ist, verdankt das Buch viel. Das Wir-Gefühl, der ach so gern bemühte Lokalstolz, der viele Publikationen zur eigenen Stadt, wo auch immer sie erscheinen mögen, prägt, fehlt hier. Auch wenn man zugeben muss, dass ein Autor, der sich solchen Strapazen aussetzt, schon ein Sympathisant sein muss. Und mehr noch: in den kleinen Kneipen, die er gerne aufsucht, z.B. dem Eilper Stübchen, hat man das Gefühl, als sei Neuner während seiner Streiftouren längst Westfale geworden.
Adrian Kasnitz    31.07.2010   
Adrian Kasnitz
Lyrik