poeten | loslesen | gegenlesen | kritik | tendenz | news | links | info | verlag | poet |
Aloysius BertrandGaspard de la NuitRitter und Unholde – Alyosius Bertrands „Gaspard de la Nuit“ Kritik
Natürlich ist Jan Kuhlbrodt absolut im Recht, wenn er Aloysius Bertrands Gaspard de la Nuit als unermessliche Entdeckung feiert (poetenladen.de 21.4.2012). Denn der Wert dieser Sammlung von Prosagedichten wurde über 150 Jahre massiv unterschätzt. 1842 und somit ein Jahr nach dem Tod des Autors erstmals erschienen, gilt Bertrands Werk heute als ein Schlüsseltext der Moderne in Frankreich. Ohne ihn wären Charles Baudelaires Les fleurs du Mal nicht denkbar gewesen und auch André Breton würdigt Bertrand im Manifest des Surrealismus von 1924 als „surréaliste dans le passé“, als Surrealist in der Vergangenheit. Als Leser des 21. Jahrhunderts muss man sich deshalb fragen, wie ein solcher Autor, ein solcher Text derartig in Vergessenheit geraten oder gar ignoriert werden konnte. Bertrands Gaspard de la Nuit lässt sich wohl am besten als Werk des Übergangs begreifen. Es bildet ein Scharnier zwischen Romantik und Moderne, Lyrik und Prosa, bildender Kunst und Literatur. Aus dem 19. Jahrhundert heraus geschrieben, bilden die 54 Gedichte eine Zeitreise in das 14. und 15. Jahrhundert. In sechs Kapiteln und einem Paralipomenon zeichnet, malt und sticht, ja phantasiert Bertrand vor allem Genrebilder „in der Manier Rembrandts und Callots“. Hier begegnet der Leser Falschmünzern, Alchimisten, Nachtgesindel und Maultiertreibern. Zum Großteil Figuren aus unteren Schichten, die nicht selten den Gemälden Adriaen van Ostendes oder Pieter van Lears entsprungen zu sein scheinen und nun in Bertrands Szenen neu angeordnet werden. Die beiden Strauchdiebe gähnten und fragten den Zigeuner, der sie wie Schweine mit Fußtritten aufscheuchte, nach der Tageszeit. Ja, es sind sympathische Gauner und Halunken, denen man im Gaspard de la Nuit begegnet und hier und da bedienen sie sich dem Jargon eines Fran&ccdil;ois Villon. Allerdings hat es Bertrand nicht eigentlich darauf abgesehen dem Leser amüsante Figuren in brenzligen Situationen vorzuführen. Wenn es ihm überhaupt um Subjekte geht, dann immer in ihrer Opposition zu den Objekten, am einfachsten zu verstehen in der unüberwindbar wirkenden Distanz von Individuum und Gesellschaft. Hier beginnt die Stärkung der Objektwelt, wie im Klappentext angekündigt und im brillanten Nachwort- Darüber hinaus wirken Bertrands Texte in Gestalt und Funktion wie Zwitterwesen, oder besser Zwitterobjekte. Als Prosagedichte, die versuchen die „Poesie in der prosaischen Welt zu retten“, wirken sie gleichzeitig als Lupen und Linsen, welche Details aus Kunstwerken vergangener Zeiten aufspüren, bündeln und in die Zukunft streuen. Hinsichtlich dieses Aspekts intermedialen Eklektizismus', bekommen Bertrands Werke eine fast postmoderne Note. Eine Beobachtung, die ich mit Jan Kuhlbrodt teile. Dass Bertrand also zu einem entscheidenden Ideengeber der Moderne in Frankreich und schließlich auch über die Grenzen der grande nation hinaus wurde, erscheint logisch. Die sich jedoch vor allem im Versteckten abspielende Rezeption hingegen nicht. Umso erfreulicher ist es da, dass der Gaspard de la Nuit nun in einer neuen, sorgsam erarbeiteten Ausgabe vorliegt, die aufgrund zahlreicher Erklärungen und des bereits erwähnten Essays des Herausgebers und Übersetzers an das Niveau einer kritischen Ausgabe heranreicht. Der Vollständigkeit wegen sollte gesagt werden, dass die im Verlag Reinecke & Voß erschienene Ausgabe nicht die erste, wohl aber die kompletteste auf Deutsch erhältliche Version ist. Bereits 1978 hatte Jürgen Buchmann eine Übersetzung im Insel Verlag veröffentlicht, die nun laut Verlag durch die „gültige, zweite Fassung“ ersetzt wurde. Nicht unterschlagen sollte man an dieser Stelle auch, gerade im Hinblick auf die Nähe der Prosagedichte zur bildenden Kunst, dass der Künstler Christian Schad im Jahre 1980 eine kleine Auswahl von 20 Texten des Gaspard de la Nuit übersetzte und illustrierte. Schads bibliophile Ausgabe, die in einer Auflage von 90 Exemplaren erschien, unterstreicht Bertrands Nachwirkung bis weit ins 20. Jahrhundert, wenn auch in einem sehr exklusiven Kreis. Die Wiederveröffentlichung durch Buchmann und Reinecke & Voß könnte nun dazu beitragen, dass sich dieser exklusive Kreis erweitert.
|
Mario Osterland
Prosagedichte
Gespräch
|
poetenladen | Blumenstraße 25 | 04155 Leipzig | Germany |
virtueller raum für dichtung |