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Clemens Meyer

Im Gespräch mit Mario Osterland
»Ich habe kein Interesse daran,
mich irgendwelchen Aufregungen hinzugeben«
  Gespräch        Literatur und Alltag

Illustration: Miriam Zedelius
 

»Wenn man das Handwerkliche nicht kann, bringt einem das Biographische nichts.«
Clemens Meyer in poet nr. 13



Gespräch in poet nr. 13   externer Link

poet-Leseparty 19.10.2012  externer Link

Clemens Meyer wurde 1977 in Halle (Saale) geboren und wuchs in Leipzig auf, wo er auch heute lebt. Von 1998 bis 2003 absol­vierte er ein Studium am Deut­schen Lite­ratur­institut Leip­zig. Sein erster lite­rarischer Erfolg war der Gewinn des MDR-Literatur­preises. 2006 erschien sein Debüt, der Roman Als wir träumten (S. Fischer). Es folgten die Bücher Die Nacht, die Lichter. Stories (S. Fischer 2008) sowie Gewalten. Ein Tagebuch (S. Fischer 2010). Unter anderem wurde Clemens Meyer mit dem Clemens-Brentano-Preis und dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.


Mario Osterland: Lieber Clemens Meyer, wie sieht dein Alltag aus?
Clemens Meyer: Ich hab überhaupt keinen Alltag. Heute habe ich bis Mittag geschla­fen, weil ich erst um sechs im Bett war. Davor hab ich gearbeitet, geschrieben, Musik gehört. Ich war einkaufen. (kurze Pause) Ich habe wirk­lich keinen Alltag. Ich lese viel, gammle rum, mache Lesungen. Dann kommen wiederum die Phasen, in denen ich viel schreiben will und muss. Bevor ich das aber kann, muss ich mich viel ausruhen. Ich bin schon ein ziem­lich fauler Mensch
M. Osterland: Fühlst du dich mit diesem „Nicht-Alltag" wohl?
C. Meyer: Ja. Wunderbar. Ich möchte es nicht anders haben.
M. Osterland: Wie sehr hat sich dein Leben seit der Veröffentlichung deines ersten Buches, also seit 2006, geändert?
C. Meyer: Natürlich sehr. Ich hatte davor ja studiert, dann kurz von Hartz IV gelebt und ständig am Roman gearbeitet. Außerdem lebte mein Hund noch, um den hab ich mich gekümmert. Gereist bin ich fast nie. Seit 2006 reise ich rum, habe Öffent­lich­keits­kram zu tun. Ich wohne aber nach wie vor alleine und fühle mich damit sehr wohl. Meine Wohnung ist und bleibt mein Domizil zum Arbeiten. Hier habe ich meine Ruhe und das ist unbe­zahlbar.
M. Osterland: Was geht dir durch den Kopf, wenn du eine Interviewanfrage zum Thema „Literatur und Alltag“ bzw. „Literatur und Auto­bio­graphie“ bekommst?
C. Meyer: Sollte das das Thema sein? Ich kann mich gar nicht mehr erinnern. Man ist halt Schrift­steller und denkt sich was aus. Literatur ist Fiktion. Stil und Fiktion und Struktur und Plot. Und Bio­graphie null. Na ja, auch, aber nichts, was man so direkt nutzen kann. Wenn man das Hand­werk­liche nicht kann, bringt einem das Bio­graphische überhaupt nichts. Was bringt dir das, wenn du riesen Geschichten auf Lager hast, aber nicht die Mittel hast, sie umzu­setzen. Es geht ja nicht ums Aufschreiben, sondern ums Kon­struieren. Literatur ist immer Konstruktion. Auch für mich und schon seit meinem ersten Buch Als wir träumten.
M. Osterland: Trotzdem sprechen Kritiker, wenn sie über deine Texte sprechen, immer auch über die Person Clemens Meyer und deine Bio­graphie.
C. Meyer: Das ist nun mal so. Vielleicht ist Literatur eben die Kunst, in der das alles am engsten zusammenhängt. Zumindest in der Wahrnehmung von außen. Ich tendiere mittler­weile dazu zu sagen, dass die Infor­mationen zu viel werden. Also, was ein Autor alles gemacht und ge­arbeitet hat. Zum Beispiel meine Zeit als Bauhelfer. Das ist doch gar nicht so außergewöhnlich. Ich hab das gemacht. Es war ein wichtiger Teil meines Lebens, das muss ich nicht verschweigen. Klar gibt es dann Leute, die sich da drauf stürzen. Das hat es aber schon immer gegeben. Bei Wolfgang Hilbig zum Beispiel, den haben manche Intel­lek­tuellen zum schrei­benden Natur­burschen stilisiert.
M. Osterland: Für unser Gespräch hatte ich dich gebeten, einen deiner Leipziger Lieblingsorte auszusuchen. Jetzt sitzen wir hier auf der Pferderennbahn im Scheibenholz.
C. Meyer: Ja, es gibt hier ein neues Wettbüro. Laut Betreiber das mo­dernste Wettbüro Deutschlands! Aber davon abgesehen finde ich den Ort wunderschön. Ich gehe hier öfter spazieren und sehe mir die Pferde in den Stallungen an. Es ist schön hier, gerade auch, wenn kein Rennen stattfindet. Die Ruhe macht den Ort schon zu einer Idylle. Und Pferde­rennen begeistern mich ja sowieso.
M. Osterland: Ich muss gestehen, dass ich am 1. Mai zum ersten Mal beim Pferderennen war.
C. Meyer: Ach, ehrlich? Na ja, aber da war mir der Trubel hier doch etwas zu viel.
M. Osterland: Über den riesigen Andrang war ich auch verwundert. Und obwohl Pferde­rennen immer mal wieder in deinen Texten vorkommen, ist so ein Renntag in Volks­festgröße nicht gerade ein „Meyer-Setting", oder?
C. Meyer: Was heißt schon „Meyer-Setting"? Ich hab mir eine von den teuren Karten besorgt und mit meiner Freundin hier oben auf der Tribüne gesessen. Bei Bier, Sekt und Häppchen. Aber nur, weil ich mich am 1. Mai nicht in der Menschen­menge aufhalten wollte. Das ist mir einfach zu voll. Die Leute kommen ja auch nicht wegen des Rennsports. Das richtige „Meyer-Setting“ findet man hier deshalb im Herbst, zum letzten Renntag. Da stehe ich dann auch mit 400 Leuten im Regen direkt an der Bahn.
M. Osterland: Du hast gesagt, dass du die Rennen am 1. Mai von der Tribüne aus verfolgt hast. Da muss ich an die Beschreibung eines Kritikers denken, der einmal schrieb: „Meyer wirkt im deutschen Literaturbetrieb immer etwas wie ein Hooligan, der sich in die VIP-Loge verirrt hat."
C. Meyer: Hab ich auch gelesen, ja. Das ist natürlich totaler Schwachsinn. Vor allem kenne ich den, der das geschrieben hat, und er kennt mich. Deshalb verstehe ich erst recht nicht, warum diese Bilder immer wieder bedient werden. Das ist mir unbegreiflich.
M. Osterland: Wie sehr nervt dich das mittlerweile?
C. Meyer: Das nervt schon. 2006 hatte ich noch raspelkurze Haare, aber auch damals habe ich schon mal ein Sakko angezogen, wenn ich irgendwo einen Auftritt hatte. Na ja, und dass ich Fußballfan bin, macht mich noch lange nicht zum Hooligan. Ganz im Gegenteil. Bei manchen Kritikern ist die Sicht auf das alles jedoch ziemlich beschränkt. Es gibt aber auch Kritiker, die da nicht ständig drauf rumlatschen, und zwar auch schon seit dem ersten Buch. Auf deren Urteile lege ich dann auch Wert, weil sie in gewisser Weise durch­schauen, wie meine Texte konstruiert sind; das es mehr ist als der Bericht eines Lebens mit ein paar Assis um die Ecke.
M. Osterland: Fühlst du dich in den gemalten Portraits von Herbert Volkmann (wild gestikulierend) und Paule Hammer (sitzend mit Bier­flasche) besser getroffen, als wenn Kritiker über dich schreiben?
C. Meyer: Volkmann hat mich ja von einem Foto abgemalt, das schon 2002 entstand. Ein Schnapp­schuss, den er erst richtig zum Leben erweckt hat! Ja, das ist gut geworden. Für das Bild von Paule hab ich drei Stunden im Atelier gesessen. Da kann man wohl auch mal ein Bier trinken! Außerdem sind für Maler die Hände und das, was sie halten oder machen, wichtig. Im Übrigen, finde ich, ist die Bierflasche mit das Beste an diesem Bild. Aber das kennt ja eh kein Mensch.
M. Osterland: Fühlst du dich eigentlich immer noch als ein Exot oder Fremdkörper im Literaturbetrieb?
C. Meyer: So halb und halb. Ich denke mit drei Büchern ist man dann schon irgendwie in diesem Betrieb angekommen. Aller­dings merke ich auch, dass ich eine gewisse Distanz zu dem Ganzen brauche. Ich habe das erst kürzlich wieder gemerkt, als ich in der Jury beim MDR-Lite­ratur­preis saß. Bei solchen Veran­staltungen unterhalte ich mich am liebsten mit Menschen, die nicht unmittel­bar dazu gehören. Mit dem Kultur­bürger­meister zum Beispiel, den ich auch hier auf der Rennbahn kennengelernt habe.
M. Osterland: Gewalten war dein drittes Buch, das im Untertitel Ein Tagebuch heißt. Da erwartet man vielleicht automatisch non-fiction. War das die Antwort an alle, die deine Erzählungen und deinen Roman mit deiner Biographie aufgewogen haben?
C. Meyer: Ja, möglicherweise spielt das mit rein. Es hat aber vor allem den Grund gehabt, dass mir von einer Stiftung ein Stipendium angeboten wurde. Da gab es 2000€ im Monat und ich sagte: „Selbstverständlich! Aber wo ist der Haken?“ Der Haken war, dass ich innerhalb eines Jahres ein Buch schreiben sollte. Das ganze hieß TAGEWERK-Stipendium. Ich sagte zu, unter der Bedingung das Ganze „auf meine Art“ machen zu dürfen. Der Unter­titel war auch meine Ent­scheidung, weil es diesmal wirklich eine Mischung aus Erlebtem und Fiktionalem war. Anders als bei den Erzäh­lungen konnte ich hier alle Influenzen zu Wort kommen ­lassen, Zeitungs­artikel montieren oder Songtexte. Da hat mir die nichtfiktionale Form doch viele Freiheiten gegeben.
M. Osterland: Hast du die Gattung Tagebuch damit für dich neu definiert? Gerade was die Trennung von Fiktion und Wirklichkeit angeht?
C. Meyer: Das würde ich auf jeden Fall sagen. Das Ganze war schon der Versuch einer Neudefinition. Ich wollte etwas machen, das über die bekannte Form des Tagebuchs hinausgeht und trotzdem noch etwas damit zu tun hat. Es ist am Ende Fiktion in der Non-Fiktion. Zum Beispiel das Treffen mit einem Kindermörder. Das hat natürlich so nie stattgefunden. Aber es gibt diese Dinge und ich habe versucht das auf meine Art zu verarbeiten.
M. Osterland: Kennst du den Film Rossini?
C. Meyer: (überlegt kurz) Von Helmut Dietl oder so.
M. Osterland: Genau. Dort gibt es einen kauzigen Typen, der meint: „Ich will nichts erleben! Ich bin Schriftsteller."
C. Meyer: (lacht) Ja, das kann ich verstehen. (kurze Pause) Andererseits ist es natürlich auch Quatsch. Man kann natürlich Kieselsteine rumwälzen und aus dem Nichts irgendwas machen. Also allein aus Ideen und verrückten Sachen, aber in dem Augenblick, wo du sagst „Ich will nichts erleben“, erlebst du ja auch schon was. Das ist also Unsinn.
  Ich will ja auch nichts erleben. Aber man erlebt Dinge, weil sie passieren, nicht weil man es sich vornimmt. Auch ich habe kein Interesse daran mich irgendwelchen Aufregungen hinzugeben. Man schöpft halt aus bestimmten Sachen, aber ich will eigentlich meine Ruhe haben. Über Hilbig sagt man ja auch: Die Wirklichkeit habe ihn eigentlich nur belästigt. Manchmal ist das bei mir auch so. Natürlich gehe ich auch auf die Rennbahn und komme viel rum. Dann setzte ich mich zu Hause aber nicht hin und schreibe darüber.
  Die Sachen, über die ich schreibe, trage ich ewig als Ideen mit mir herum. Die werden dann natürlich gespeist von allen möglichen Influenzen. So nenne ich das immer. Ich lese viel Zeitung, treffe Menschen, höre und sehe mir Sachen an. Nichts erleben geht ja gar nicht. Wobei man allein aus Bewusstseinszuständen schon auch was machen kann, wenn man die Sprache dazu hat. Die müsste dann wahrschlich besonders wuchtig und aufgeladen sein.
M. Osterland: "Bewusstseinszustände“ ist ein Stichwort. Die Titel­geschichte von Gewalten ist ein unglaubliches Delirium. Lösen solche Zustände, die einen an den Rand des Deliriums bringen, bei dir eine kreative Kraft aus?
C. Meyer: Nein, eigentlich nicht. Von Abstürzen kann man nur profitieren, wenn man was daraus macht wie ein verfremdetes Tagebuch. Daher hatte das Eingang in Gewalten gefunden. Ansonsten hätte ich sowas nicht genutzt. Abstürze machen nur das Gehirn kaputt. Aber das Gehirn ist etwas, das ich unbedingt brauche, also muss ich etwas aufpassen, dass ich mich nicht selbst der Substanz beraube.
  Alkohol kann zwar ein Stimulansmittel sein, aber nur wenn ich ein paar Whiskey trinke, um meine Anspannung, meine Nerven niederzuhalten, mit denen ich zu kämpfen habe, wenn ich im Schreib­prozess bin. Wenn ich da so sitze, strengt mich das total an, deswegen trinke ich auch mal was oder rauche ein paar Ziga­retten, um mich runter­zubringen.
M. Osterland: Es gibt ja Schriftsteller, deren Biographie oft mit ihrem Schreiben über den Aspekt von Rauschzuständen verknüpft wird. Heming­way war ja bekanntlich ein starker Trinker.
C. Meyer: Ja, das stimmt. Hemingway hat viel getrunken, aber auch viel vertragen!
M. Osterland: Wie sehr interessierst du dich denn eigentlich für die Biographien von anderen Schriftstellern?
C. Meyer: Na ja, mit Hemingway habe ich mich zum Beispiel schon obsessiv beschäftigt. Anfang 20 war er für mich eine Schlüsselfigur. Da habe ich mir die unterschiedlichsten Biographien besorgt, die ich auf Deutsch bekommen konnte. Da merkt man natürlich schon, dass einige Biographen ziemlich quer schießen, vor allem wenn sie versuchen bestimmte Mythen zu demaskieren.
  Ich habe jetzt erst eine Bio­graphie von Wolfgang Hilbig gelesen. Das interes­siert mich also schon. Ganz einfach um zu erfahren, wie die alle gelebt haben. Wenn ich einen Schrift­steller bewundere, interes­siert mich schon, was das für ein Typ war. Dann lese ich auch die Biographien. Aber eigentlich nur von Leuten, die schon lange tot sind.
M. Osterland: Hast du manchmal Angst, dass dir die eigene Biographie ein wenig entgleitet? Gerade was deine Außendarstellung angeht?
C. Meyer: Eigentlich hab ich nicht wirklich Angst, weil ich die meiste Zeit im Jahr für mich allein bin. Es regt mich aber auf, wenn Leute behaupten zu wissen, was ich denke und mache. Es gab da mal einen Typen, der mich wohl in der Leipziger Bahn­hofs­buch­hand­lung gesehen hat. Dort bin ich Stammkunde und zwar schon seit der Zeit, bevor ich bekannt wurde. Die legen mir meine Zeitungen zurück und so. Jedenfalls schrieb der dann darüber, was ich kaufte und dass ich viel zu laut gewesen wäre und die öffentliche Aufmerk­samkeit genossen hätte. So ein Scheiß! Ich bin da nun einmal Stammkunde und werde von den Mitarbeitern begrüßt. Aber es liegt mir nichts ferner als in der Öffentlichkeit behelligt zu werden. Bei solchen Anmaßungen gibt es dann schon mal einen Kommentar.
Ansonsten halte ich mich ja arg zurück. Ich gehe ja nicht ins Fernsehen, es sei denn, es interessiert mich wirklich. Aber was ich alles absage. Eigentlich alles. Na egal, man muss schon ein bisschen aufpassen. Das weiß ich auch.
M. Osterland: Dennoch ist die Versuchung aber auch groß mit be­stimmten Außenwahrnehmungen zu spielen und zu koket­tieren.
C. Meyer: Ja, die Gefahr ist natürlich immer da. Und das kann man auch ruhig mal machen, warum nicht? Die Meinung über einen ist da; der kann man wider­sprechen, sie ignorieren oder damit spielen. Allerdings weiß ich nicht wie das Letztere aussehen soll. Ich bin da, glaube ich, zu naiv. Ich mache ja alles aus Über­zeugung, oder weil es mir Spaß macht. Als ich 2008 den Preis der Leipziger Buchmesse bekommen habe, habe ich mich riesig gefreut! Der Jubel mit der Bierflasche. Aber überall konnte man lesen: inszeniert! Na ja, sollen die das halt schrei­ben. Am Ende ist nur wichtig, was ich aufs Papier gebracht habe und ob ich dahinter stehen kann. Das kann ich.
M. Osterland: Woran arbeitest du zurzeit?
C. Meyer: Ich arbeite gerade mit dem Regisseur Thomas Stuber, der aus meiner Geschichte Von Hunden und Pferden einen Kurz­film gemacht hat, an einem neuen Projekt. Mal sehen, was daraus wird. Außerdem schreibe ich schon seit ein paar Jahren an einem neuen Roman. Das ist immer wieder ein großer Kraft­akt. Aber jetzt bin ich langsam soweit, das Ganze fertig zu schreiben.
M. Osterland: Lieber Clemens, vielen Dank für das Gespräch.


 

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Mario Osterland    17.10.2012   

 

 
Mario Osterland
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