„Die Bevölkerung Berlins besteht mindestens zur Hälfte aus flüchtigen Landeiern.“ Diesen und andere Aspekte sollte man sich vor Augen halten, wenn man mal wieder in die Verlegenheit kommt über die Provinz zu lästern. Zu finden ist das Wichtigste über den nicht selten abfällig gebrauchten Begriff in Henning Ahrens' „Provinzlexikon“, welches bereits im Mai 2009 erschien. Wie das Zitat erahnen lässt, widmet sich der Autor darin nicht allein den geografischen Dimensionen der Provinz, sondern auch ihren geistigen. In 274 Stichworten versucht er auszuloten, was einerseits das Landleben, andererseits den auch in der Großstadt zu findenden Provinzialismus ausmacht. Henning Ahrens wurde 1964 geboren und wuchs im ländlichen Niedersachsen als Sohn eines Landwirts auf. Nach dem Studium in Göttingen, London und Kiel kehrte er in seine Heimat zurück und lebt heute als freier Schriftsteller und Übersetzer in Handorf bei Hannover. In Buchform erschienen von ihm bisher die Gedichtbände Lieblied was kommt (1998), Stoppelbrand (2000) und Kein Schlaf in Sicht (2008) sowie die Romane Lauf Jäger lauf (2002), Langsamer Walzer (2004) und Tiertage (2007). Aufgrund seiner Biografie und seinen bisherigen Veröffentlichungen scheint Ahrens als Verfasser eines Provinzlexikons mehr als geeignet. In seinen Büchern nimmt das Leben auf dem Land immer wieder eine wichtige Rolle ein. Dabei hat er es bisher vermieden, eine allzu durchsichtige, auf der eigenen Jugenderlebnissen basierende Geschichte über das Aufwachsen in und den Ausbruch aus der Provinz abzuliefern. Auch mit seinem aktuellen Buch geht der Autor abseits der ausgelatschten Wege. So finden sich darin nicht allein kurze, sachliche Erklärungen zu Dingen wie Flurbereinigung, Jauche oder Pferdekopf. Das Provinzlexikon besticht dadurch, dass mithilfe von Essayminiaturen, fiktiven Briefen und Interviews oder Erinnerungen versucht wird, ein möglichst lebendiges Bild davon zu geben, was die Provinz ausmacht. Herausgekommen ist dabei weniger ein Nachschlagewerk als vielmehr ein kaleidoskopisches Lesebuch. Vor allem der Eintrag Dorf, der eine charakteristische Zusammenfassung des Gemeindelebens vermittelt, sticht hier besonders hervor. Wenn auf einer Bürgerversammlung Themen wie die Sanierung des Friedhofs zugunsten der Symmetrie, sowie die Wiederbelebung alter Brauchtümer wie dem „Moffeln“ diskutiert werden, geben sich Klischee und leise Ironie die Klinke in die Hand. Wer aufgrund dessen jedoch vermutet, Ahrens mache sich über seine ländlichen Mitbürger und deren Lebensweise lustig, liegt falsch. Denn neben den augenzwinkernden Beschreibungen von Baumarkt-Individualismus und Grillkamin-Anbetung finden sich zahlreiche Liebeserklärungen an die Provinz. Nicht selten entdeckt man hier den Lyriker, der den Gerüchen von Raps und Pappel huldigt und sich fragt, was die Bäuerin in ihr köstliches Essen „hineingeheimnisst“ hat. Noch liebevoller geschrieben sind nur die Artikel, in denen der Autor eigene Erinnerungen einfließen lässt und von der Romantik des Feldwegs schwärmt oder von den Erlebnissen mit dem Tiefengrubber erzählt. Doch zwischendurch finden sich immer wieder kritische Bestandsaufnahmen, die vor allem mit dem angesprochenen geistigen Provinzialismus zusammenhängen. Dieser äußert sich, laut Ahrens, immer dann, wenn man krampfhaft versucht am Status Quo festzuhalten oder übertriebenen Selbstschutz betreibt. Mal mehr und mal weniger ernst widmen sich Artikel wie Außenjalousie, NPD oder Gerücht diesen Phänomenen. Wie Gerrit Bartels in der Rezension für den Tagesspiegel nicht zu Unrecht kritisierte, versteift sich der Autor hier allzu oft auf den Nationalsozialismus, was nicht immer angebracht scheint. Das Provinzlexikon ist dennoch eine wahre Schatztruhe für Landeier und Großstädter, besonders aber für all jene, die der Provinz entflohen und in Berlin oder einer anderen Metropole ansässig geworden sind. Für letztere wird es nämlich auch zu einem Erinnerungsbuch, welches den Landflüchtigen mit seiner Heimat versöhnt. So ertappt man sich schon mal beim wehmütigen Grinsen, wenn man vom Schützenfest oder Partykeller liest. Die stellenweise zu findende Verallgemeinerung regionaler Besonderheiten auf die gesamte Provinz stört dabei wenig. Sie fördern vielmehr das Erinnern an die eigene Heimat, auch wenn die Ergebnisse manchmal bescheiden sind. So ist die Dominanz des Friesenzauns vielleicht in Niedersachsen zu beobachten, in Thüringen erfreut sich der Jägerzaun jedoch nach wie vor ungeteilter Beliebtheit. Das soll nicht heißen, dass Henning Ahrens ein schlechter Beobachter ist, im Gegenteil. Denn gerade wenn man das Provinzlexikon im Zug liest und dabei ab und zu aus dem Fenster sieht, versteht man wovon hier die Rede ist. Ein schönes Buch, dass den Leser daran erinnert, dass die Provinz nicht an der Stadtgrenze endet oder durch Abwanderung hinter uns gelassen wird. „Das Gehirn der Pflanze befindet sich übrigens in den Wurzeln.“, heißt es in einem durchaus positiv konnotierten Satz des Lexikons. Weniger begeisternd sind hingegen die Illustrationen Jana Cernos, die den apfelgrünen Band, ohne das Lemma Apfel, abrunden sollen. Die minimalistischen Zeichnungen der Münchner Grafikerin ergänzen die Artikel mitunter pointiert, sind manchmal jedoch belanglos und dienen lediglich der Auflockerung des Textes.
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Mario Osterland
Prosagedichte
Gespräch
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