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Henning Ahrens
Provinzlexikon

Was uns umgibt
Henning Ahrens lotet den Begriff „Provinz“ aus
Kritik
  Henning Ahrens
Provinzlexikon
Mit Illustrationen von Jana Cerno
Knaus Verlag, München 2009
304 S., geb. 19,95 €


„Die Bevölkerung Berlins besteht mindestens zur Hälfte aus flüchti­gen Landeiern.“ Diesen und andere Aspekte sollte man sich vor Augen halten, wenn man mal wieder in die Verlegenheit kommt über die Provinz zu lästern. Zu finden ist das Wichtigste über den nicht selten abfällig gebrauchten Begriff in Henning Ahrens' „Provinz­lexikon“, welches bereits im Mai 2009 erschien. Wie das Zitat erahnen lässt, widmet sich der Autor darin nicht allein den geo­grafischen Dimensionen der Provinz, sondern auch ihren geistigen. In 274 Stich­worten versucht er auszuloten, was einerseits das Landleben, anderer­seits den auch in der Großstadt zu findenden Provin­zialis­mus ausmacht.

Henning Ahrens wurde 1964 geboren und wuchs im länd­lichen Nieder­sachsen als Sohn eines Landwirts auf. Nach dem Studium in Göttingen, London und Kiel kehrte er in seine Heimat zurück und lebt heute als freier Schrift­steller und Übersetzer in Handorf bei Hannover. In Buchform erschienen von ihm bisher die Gedichtbände Lieblied was kommt (1998), Stoppelbrand (2000) und Kein Schlaf in Sicht (2008) sowie die Romane Lauf Jäger lauf (2002), Langsamer Walzer (2004) und Tiertage (2007). Aufgrund seiner Biografie und seinen bisherigen Veröffent­lichungen scheint Ahrens als Verfasser eines Provinz­lexikons mehr als geeignet. In seinen Büchern nimmt das Leben auf dem Land immer wieder eine wichtige Rolle ein. Dabei hat er es bisher vermieden, eine allzu durch­sichtige, auf der eigenen Jugend­erlebnissen basierende Geschichte über das Auf­wachsen in und den Ausbruch aus der Provinz abzuliefern.

Auch mit seinem aktuellen Buch geht der Autor abseits der ausgelatschten Wege. So finden sich darin nicht allein kurze, sachliche Erklä­rungen zu Dingen wie Flurbereinigung, Jauche oder Pferdekopf. Das Provinzlexikon besticht dadurch, dass mithilfe von Essay­miniaturen, fiktiven Briefen und Interviews oder Erinne­rungen versucht wird, ein möglichst leben­diges Bild davon zu geben, was die Provinz ausmacht. Heraus­gekommen ist dabei weniger ein Nach­schlagewerk als vielmehr ein kalei­doskopi­sches Lesebuch. Vor allem der Eintrag Dorf, der eine charak­teris­tische Zu­sammen­fassung des Gemeinde­lebens vermittelt, sticht hier besonders hervor. Wenn auf einer Bürger­versammlung Themen wie die Sanierung des Friedhofs zugunsten der Symmetrie, sowie die Wieder­belebung alter Brauch­tümer wie dem „Moffeln“ diskutiert werden, geben sich Klischee und leise Ironie die Klinke in die Hand.

Wer aufgrund dessen jedoch vermutet, Ahrens mache sich über seine ländlichen Mitbürger und deren Lebens­weise lustig, liegt falsch. Denn neben den augen­zwinkernden Beschrei­bungen von Baumarkt-Individualismus und Grillkamin-Anbetung finden sich zahlreiche Liebeserklärungen an die Provinz. Nicht selten entdeckt man hier den Lyriker, der den Gerüchen von Raps und Pappel huldigt und sich fragt, was die Bäuerin in ihr köstliches Essen „hineingeheimnisst“ hat. Noch liebe­voller geschrieben sind nur die Artikel, in denen der Autor eigene Erinnerungen einfließen lässt und von der Romantik des Feldwegs schwärmt oder von den Erlebnissen mit dem Tiefengrubber erzählt.

Doch zwischen­durch finden sich immer wieder kritische Bestands­aufnahmen, die vor allem mit dem ange­sprochenen geistigen Provin­zialismus zusammen­hängen. Dieser äußert sich, laut Ahrens, immer dann, wenn man krampf­haft versucht am Status Quo fest­zuhalten oder über­triebenen Selbst­schutz betreibt. Mal mehr und mal weniger ernst widmen sich Artikel wie Außenjalousie, NPD oder Gerücht diesen Phäno­menen. Wie Gerrit Bartels in der Rezension für den Tagesspiegel nicht zu Unrecht kriti­sierte, versteift sich der Autor hier allzu oft auf den National­sozialismus, was nicht immer angebracht scheint.

Das Provinzlexikon ist dennoch eine wahre Schatz­truhe für Landeier und Großstädter, besonders aber für all jene, die der Provinz entflohen und in Berlin oder einer anderen Metro­pole ansässig geworden sind. Für letztere wird es nämlich auch zu einem Erinnerungs­buch, welches den Land­flüchtigen mit seiner Heimat versöhnt. So ertappt man sich schon mal beim wehmütigen Grinsen, wenn man vom Schützenfest oder Partykeller liest. Die stellen­weise zu findende Verall­gemei­ne­rung regionaler Besonder­heiten auf die gesamte Provinz stört dabei wenig. Sie fördern vielmehr das Erinnern an die eigene Heimat, auch wenn die Ergeb­nisse manchmal bescheiden sind. So ist die Dominanz des Friesen­zauns vielleicht in Nieder­sachsen zu beobachten, in Thüringen erfreut sich der Jäger­zaun jedoch nach wie vor unge­teilter Beliebt­heit. Das soll nicht heißen, dass Henning Ahrens ein schlechter Beobachter ist, im Gegenteil. Denn gerade wenn man das Provinzlexikon im Zug liest und dabei ab und zu aus dem Fenster sieht, versteht man wovon hier die Rede ist.

Ein schönes Buch, dass den Leser daran erinnert, dass die Provinz nicht an der Stadtgrenze endet oder durch Abwan­derung hinter uns gelassen wird. „Das Gehirn der Pflanze befindet sich übrigens in den Wurzeln.“, heißt es in einem durchaus positiv konnotierten Satz des Lexikons.

Weniger begeisternd sind hingegen die Illu­strationen Jana Cernos, die den apfel­grünen Band, ohne das Lemma Apfel, abrunden sollen. Die minimalis­tischen Zeichnungen der Münchner Grafikerin ergänzen die Artikel mitunter pointiert, sind manchmal jedoch belang­los und dienen lediglich der Auflockerung des Textes.

Mario Osterland    30.03.2010   
Mario Osterland
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