Die Plagiatsdebatte um Helene Hegemanns Roman „Axolotl Roadkill“ ist schon wieder Schnee von gestern. Erst als literarisches Wunderkind gefeiert, dann vom Blogger Deef Pirmasens entlarvt, wurde die 18jährige Autorin schließlich medial vernichtet. Abgeschrieben hat sie hauptsächlich von Airen, ebenfalls ein Blogger, welcher der literarischen Welt bis dato vollkommen unbekannt war. Doch auch im Zuge der öffentlichen Diskussionen erfuhr man nicht unbedingt mehr über das Schreiben des jungen Mannes, Jahrgang 1981. Diverse Zeitungen rissen sich zwar um ein Interview mit ihm, doch wollten diese meist nur seine Meinung zum „Fall Hegemann“ hören. Darüber hinaus galt das Interesse an ihm eher seinem Phantomstatus. Bis heute weiß die Öffentlichkeit nicht, wer sich hinter dem Pseudonym Airen verbirgt. Als Vorlage für Hegemanns Romandebut mussten nicht nur seine Blogs herhalten, sondern auch Airens eigenes Buch „Strobo“, welches bei Erscheinen weitgehend unbeachtet blieb. Auch nach der Aufdeckung des Plagiatsfalls änderte sich das nicht gerade. Besprechungen von „Strobo“ sucht man in den großen Feuilletons bis heute vergeblich. Dabei gibt es in dem schmalen Band eine Welt zu entdecken, die so manchen Horizont überschreiten dürfte. „Strobo“ ist kein Roman. Airens Debut versammelt Texte, welche er zwischen Februar 2006 und Juni 2007 auf diversen Webblogs veröffentlicht hat. Sie legen ein eindringliches Zeugnis von einem Leben ab, welches sich hauptsächlich in Berliner Technoclubs abspielte und das selten nüchtern. Was der Autor schildert, sind wahre Begebenheiten, die unter den starken Rauschzuständen beinahe jeder bekannten Droge nicht selten groteske Züge annehmen. Da kann es schon einmal vorkommen, dass sich an manchen Stellen „beinahe ungewollt Fiktion und Realität vermengen.“ Doch egal wie sich die Wahrnehmungen im Laufe der Nacht auch verändern mögen, die Euphorie bleibt bestehen. Auf den Rausch folgen jedoch sehr zuverlässig der Kater und die Leere. Und so bekommt man zwangsläufig einen tiefen Einblick in ein orientierungsloses Leben voller Selbstzweifel. Der Praktikantenjob in einer renommierten Unternehmensberatung kann daran auch nichts ändern. Im Gegenteil, Airen verabscheut die dynamische Businesswelt, in der er sich nie heimisch fühlen wird. Nicht nur seinen Arbeitskollegen, sondern auch den Menschen im Alltag gegenüber wahrt er stets eine ironische Distanz, die im Widerspruch zu seiner Sehnsucht nach Geborgenheit steht. Ergebnis dieses Spannungsverhältnisses sind die oft zynischen Texte, die sich abwechselnd gegen die Welt „da draußen“ und sich selbst richten. Um all dem zu entfliehen, gibt es für Airen nur ein Ziel – das Berghain. Der mittlerweile berühmteste Technoclub der Hauptstadt ist seine Oase. Hier macht er „Pausen vom Leben“, die er nur im Rausch erträgt „und mein Dasein in den letzten Jahren begreife ich als eine einzige Pause vom Leben.“ Mit Kokain im Blut gleicht sich der Pulsschlag den Basslinien an. Der Körper tanzt im Fluss, Techno wird zur spirituellen Erfahrung. „In diesen Momenten merkst du, dass du Techno mehr zu verdanken hast als deinen Eltern, dass es nur einen Gott gibt: Party!“ Doch der Schein trügt, denn schon bald erkennt Airen, dass ihm zum wahren Glücklichsein etwas fehlt. So wird in seinen Texten vor allem die Sehnsucht nach Freundschaft und Geborgenheit überdeutlich. Mehrfach sucht er Zuflucht bei flüchtigen Bekannten, doch ein Gefühl der Nähe stellt sich nie ein. Der Sex bleibt bedeutungs- und gefühllos, taugt am Ende aber immerhin zu einer guten Story. Als Leser von „Strobo“ wird man nicht nur zum Beobachter, man nimmt am Leben eines Menschen teil, den man am liebsten packen und wachrütteln möchte. Stattdessen muss man jedoch hilflos mit ansehen, wie Airen dieselben Fehler immer wieder macht und im Sumpf der Sehnsüchte versackt. Einerseits ist man bei der Lektüre dankbar für so viel authentische Teilhabe, andererseits nerven die sich ständig wiederholenden Schilderungen von Rausch und Selbstmitleid gegen Ende des Buches zunehmend. „Was bleibt ist der schale Nachgeschmack, dass das alles irgendwie keiner mehr lustig findet.“
„I Am Airen Man“ weist gegenüber „Strobo“ zwar eine größere Geschlossenheit, ein stimmigeres Zusammenspiel der Kapitel auf, wird der Gattungsbezeichnung jedoch nicht gerecht. Denn letztendlich funktioniert es wie sein Vorgänger als lockere Sammlung von Episoden aus Airens Leben und ist, wie vom Autor selbst zu erfahren ist, mehr Wirklichkeitsbericht, denn Fiktion. Erzählt wird vor allem aus der Zeit eines Mexikoaufenthaltes, währenddessen sich in Airens Leben einiges ändert. So erfährt der Leser zunächst vom anfänglich beruflichen Erfolg des Autors. „Einem so gebeutelten Ego wie dem meinen verschafft es also offenbar erhebliche Erleichterung, sichtbar der sogenannten Oberschicht anzugehören.“ Tatsächlich scheint es, als sei Airen vor seinem alten Berliner Leben geflüchtet, als beginne hier so etwas wie die Normalität. Doch er betont seinen Abscheu vor den geradlinigen, zielorientierten Kollegen. Aus dem Unwohlsein in ihrer Gegenwart entwickelt sich eine handfeste Angst vor der Spießigkeit. Und so dauert es nicht lange, bis sein selbst gewählter Schlachtruf Evita el Exceso (Vermeide den Exzess) zur blanken Ironie verkommt. Nach einigen Wochen der Orientierung in der neuen Umgebung macht Airen dort weiter, wo er in Berlin aufgehört hat. In Mexiko City ist das Koks billig und die Transen willig. Die Selbsterkenntnis der erfolgversprechenden Nüchternheit scheint ausgelöscht. Doch „I Am Airen Man“ ist mehr als nur das Erzählen vom ewigen Rausch. Viele der hier zu findenden Episoden schildern das mexikanische Leben jenseits durchfeierter Nächte. In kleinen Reiseberichten und Milieustudien bekommt der Leser eine lebhafte Innensicht der Millionenmetropole Mexiko City. Diese wird verstärkt, als Lily in Airens Leben tritt und ihn in ihre Familie integriert. Der ewige Widerspruch zwischen ironischer Distanz zu seinen Mitmenschen und der Sehnsucht nach Geborgenheit wird hier zu einem Kompromiss geführt. Er hält sich die Yuppies vom Leib und bleibt trotzdem nicht allein. „Für mich ist es die völlige Einbettung in eine einfache Arbeiterfamilie.“ Je größer die geographische und kulturelle Distanz zu Deutschland wird, desto einfacher scheinen Airen die Reflexionen über sein bisheriges Leben zu gelingen. In zahlreichen Episoden erinnert sich der Blogger an seine Jugendfreunde in der bayrischen Provinz und erkennt, dass es genau diese Art von Gemeinschaft ist, die ihm zwischenzeitlich fehlte. Die Liebe zu der jungen Mexikanerin Lily rettet Airen aus der sinnlosen Leere der Berliner Zeit. Wer nun allerdings die Läuterung des Drogensüchtigen wittert, liegt weit daneben. Genau wie „Strobo“ ist „I Am Airen Man“ voll von eindringlichen Schilderungen von Rauschzuständen. „Etwas füllt dich von innen aus, gibt jeder Geste Kraft und Bedeutung, kitzelt, flasht: mehr. […] Dann kommt ganz schnell die Leere. Superwache Koksgeilheit. Verzweiflung. Man braucht dann Alkohol, Gras oder Valium. Oder noch mehr Koks.“ Die Texte aus „Strobo“ und „I Am Airen Man“ schaffen es, gekonnt scharfe Beobachtungen mit einem lockeren Plauderton zu kombinieren. Nicht selten muss man beim Lesen an Arbeiten von William S. Burroughs oder Hunter S. Thompson denken, an dessen Traditionslinie Airen zweifellos anknüpft. Im Gegensatz zu den genannten erhebt der Blogger jedoch keinerlei journalistischen Anspruch. Dennoch hat vor allem „Strobo“ das Zeug dazu, zu einem bleibenden Dokument der Berliner Technokultur zu werden, das sich durch ein hohes Maß an Authentizität auszeichnet. Ob Airen sich jedoch über längere Zeit im literarischen Betrieb behaupten kann, bleibt abzuwarten. Skeptische Stimmen sprechen schon heute von einem Hype, der sich ebenso rasch verflüchtigen wird, wie die Schelten für Helene Hegemann. Für den Herbst 2010 hat der Ullstein Verlag eine Neuauflage von „Strobo“ angekündigt. Die Verkaufszahlen und Besprechungen werden dann vielleicht Aufschluss über den langfristigen Marktwert des durchaus talentierten Bloggers geben.
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Mario Osterland
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