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J.M. CoetzeeDie Kindheit JesuDer Nobelpreisträger liest in Frankfurt Lesung | Kritik
Manche Bücher sind Lebensbegleiter, ihren Autoren möchte man gern begegnen. Das ist nicht bloße Neugier. Für leidenschaftliche Leser bilden jene wenigen Autoren ein Mysterium, an dem sie once in a lifetime teilhaben möchten. Und wenn ein solcher Autor J.M. Coetzee heißt, in Australien lebt, nicht mehr jung ist, die Öffentlichkeit scheut, jedoch tatsächlich nach Frankfurt kommt, kann das für die Leserin nur bedeuten: Karte ergattern, hinfahren. „Ein Abend mit J.M. Coetzee“ heißt die Veranstaltung im Theatersaal des frisch renovierten Mousonturms und ist dem neuen Roman gewidmet, der 2013 erscheint. Jeder, der ein wenig vertraut ist mit den Eigenheiten des Autors, weiß, dass der Abend kurz sein wird. Coetzee plaudert nicht und beantwortet keine Fragen. Er wird vorlesen und signieren. Der Titel des Romans lautet „Die Kindheit Jesu“, und obwohl die Anglistik-Professorin Julika Griem, die das Manuskript schon gelesen hat, elegant, begeistert und begeisternd in das Werk einführt, bleibt die Skepsis, ob und wie ein Buch diesem Titel gerecht werden kann. Ist das nicht ein sehr großer Schuh, ungefähr der größte? Gottessohn und Kindheit, trieft das nicht vor Kitsch? Was hat Coetzee, den Meister der Nüchternheit bewogen, diesen Titel zu wählen? Die Leserin fürchtet sich ein wenig. Coetzee ist mittelgroß, mager, weißhaarig. Auf einem Foto von Isolde Ohlbaum steht er sehr aufrecht vor einer Wand, trägt Jeans und Hemd und schaut aus halb zugekniffenen Augen den Betrachter an, durchdringend wie Clint Eastwood. Keine Illusionen, sagt der Blick, weder über die Welt noch über mich. Ich sehe die Übel und weiß keinen Rat. An diesem Abend trägt er einen dunklen Anzug und bewegt sich gemessen. Ohne Hast ordnet er am Vortragspult die Blätter, begrüßt die Anwesenden und erklärt, dass er die Anfangskapitel des Buches lesen wird, einen ersten Abschnitt auf Deutsch, dann weitere auf Englisch. Das ist eine großherzige Geste. Großherzig ist auch das Kompliment an seine langjährige Übersetzerin Reinhild Böhnke: „I have always felt that Reinhild's German is better than my English.“ Und nun der Text. Coetzee liest gut, auch in der fremden Sprache. In seinem Elternhaus in Kapstadt wurde Englisch gesprochen, aber natürlich lernte er auch Afrikaans, dem Holländischen und damit dem Deutschen nahe. Von Jugend auf hat ihn deutsche Literatur fasziniert, besonders Lyrik. In „Youth“ beschreibt er, wie er Anfang der Sechziger Jahre als Programmierer in London lebte und Ingeborg Bachmann las. Später hat er Essays über deutschsprachige Autoren geschrieben. Er ist ein präziser Vermittler. Dennoch sind wohl alle Zuhörer erleichtert, als er in seine Muttersprache wechselt. Denn so, wie er das Englische liest, ist nicht nur jedes Wort verständlich, sondern Wohllaut und reine Freude. Coetzee entspannt sich, Mund und Augen lächeln, hier, im Text, ist er zu Hause. Von Satz zu Satz wird deutlicher, dass das eigentliche Kunststück der Ton ist, in diesem Fall eine prekäre Balance zwischen Wissen und Staunen, Ironie und Naivität. Die Geschichte beginnt unvermittelt, wie immer. Ein Mann und ein kleiner Junge, offenbar Flüchtlinge, kommen aus einem Auffanglager in eine abgeschirmte Stadt, wo sie sich eine Zukunft erhoffen. In der Stadt wird Spanisch gesprochen, was sie notdürftig im Lager gelernt haben, nun müssen sie sich mit den fremden Gewohnheiten und Gesetzen vertraut machen. Das setting ist surreal, es erinnert an Kafka. Der Romantitel unterfüttert zudem jeden Satz, jede Szene mit den Intertextualitäten der christlichen Tradition. Das scheint ein gewaltiges Gewicht, jenen Säcken gleich, die der Mann bei seinem ersten Job als Lagerarbeiter schleppen muss. Aber wie seine Figur, wird auch der Autor dank Tatkraft und unsentimentaler Zuversicht damit fertig. Die Situation bleibt ernst, ja lebensbedrohlich, aber ein Spiel mit Bedeutungen ist dennoch erlaubt. So wird etwa dem Mann ein Zimmer versprochen, allerdings fehlt der Schlüssel. Gibt es denn keinen Zentralschlüssel?, fragt er. Ja, wenn wir den hätten!, seufzt die junge Beamtin hinter dem Schalter, dann wären all unsere Probleme gelöst. Coetzee lächelt.
Diese Frage kann nur das Buch beantworten. Erst einmal ist jetzt die Lesung vorbei, Beifall rauscht auf, Coetzee dankt. Drei riesige Blumensträuße werden ihm angetragen, ein eher absurder Anblick. Coetzee greift einen Strauß und überreicht ihn einer schwangeren Frau in der ersten Reihe, vielleicht die Frau des S.Fischer- Dann sitzt Coetzee im Foyer an einem Tisch, um zu signieren. Die Schlange der Wartenden ist lang. Draußen regnet es, die Luft tut gut. Auf der Suche nach einem Drink begleiten uns die letzten Worte des Textes. „Must we be here?“, fragt das Kind. Der Mann antwortet: „It is quite a thing to be here.“ Yes, it is.
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Gisela Trahms
Interview
Bericht
Prosaminiaturen
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