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Jan WagnerDie Sandale des ProphetenGöttlich ausgewogen Kritik
Die bepickelte Legionärssandale auf dem Cover täuscht: martialisch ist die Geschichte keineswegs, die dem Buch den Titel gab. Zur Einstimmung auf einen Griechenland-Aufenthalt schrieb Jan Wagner, noch in Berlin, ein Haiku über eine verlorene, moosbewachsene Sandale – die dann tatsächlich im griechischen Olivenhain gefunden wurde. War das Gedicht also eine Prophezeiung? Wurde die Sandale entdeckt, weil ihre Existenz im Text bezeugt war? Müsste sie, unbetextet, ungefunden, als nicht gewesen gelten? Die Anekdote illustriert als schönes Rätsel, wie Poesie in die Wirklichkeit eingreift, obwohl sie doch, wie Wagner nonchalant feststellt, „auf herrliche Weise vollkommen nutzlos ist – so nutzlos wie ein Lachen“. „Beiläufige Prosa“ lautet der Untertitel, vieles deutet er an: dass Wagners Hauptgeschäft die Lyrik ist, Prosa ein Nebenher, allerdings ein gern geübtes (und besser bezahltes). Dass die hier versammelten Kritiken, Essays, Würdigungen und poetologischen Reflexionen durchaus Leichtfüßigkeit anstreben. Und dass sie nicht auf Konfrontation angelegt sind, sondern den Leser freundlich zum Mitwandern einladen. Wagner stapelt gern tief, prunkt nicht mit seiner Belesenheit, sondern verstreut Wissenssschätze und Zitate wie die Orientierung spendenden, unauffälligen Brotbröckchen des Märchens. Unter der hübsch maliziösen Überschrift „Vom Pudding“ kartieren im ersten Teil acht Aufsätze die junge deutsche Lyrik. Dabei geht es weniger um ein Autorenpanorama als um die Folgen der Freiheit. Verbindliche Regeln und Baupläne für das Gedicht existieren schon lange nicht mehr, jeder Versuch, inhaltliche oder formale Kriterien festzulegen, muss scheitern. Umso schwieriger ist es für den Autor, seinem Gedicht die eine, exakte, ihm gemäße Form zu geben. Angeblich geht zwar alles, aber manches eben auch in die Irre. Geprüft werden muss jeder Einzeltext neu: „Nur mit dem Ausruf ›Sesam, öffne dich!‹ findet Ali Baba Einlass in die Höhle der vierzig Räuber. Das ist wunderbar, täuscht jedoch nicht über die Tatsache hinweg, dass dieser magische Spruch schon bei der Nachbarhöhle nicht mehr anschlägt. Er gilt nur und ausschließlich an einem Ort und in einer Situation. Für die nächste Höhle wie für das nächste Gedicht muss eine andere Formel gefunden werden“. Überlieferte Formen wie das Sonett oder die Sestine finden in Wagner einen beredten Verteidiger, wenn sie für Neues genutzt werden. Ebenso der Reim, vorzugsweise als „slant rhyme“, unrein also, weil die reinen bis zur Banalität verbraucht sind. Entscheidend ist immer das Vorwärts, das Eigenwillige und Unerprobte. Die Morgenstimmung, sozusagen. Die poetologische Eule hingegen fliegt, wie die philosophische, in der Dämmerung, im Nachhinein, „dem Gedicht hinterhergeschrieben“, zu dessen „Wesen es doch gehört, immer unterwegs zu sein“. Dasselbe gilt für die Kritik. Vor aller Hirnexzellenz des Deutens, Preisens oder Verreißens muss es die spontane Begegnung der dritten Art geben, das unmittelbare Reagieren (dessen Urteil allerdings revidiert werden kann). Das Vergnügen am Gedicht ist nachhaltig sinnlich und dem der Zunge verwandt: „Der Beweis des Puddings liegt eben im Essen“, zitiert Wagner ein Brecht-Wort. Der zweite Teil würdigt Dichterkollegen, deutsche und solche aus dem englischsprachigen Raum. Matthew Sweeney und Simon Armitage hat Wagner übersetzt und in den hier erneut gedruckten Nachworten trefflich charakterisiert. Der schönste Text ist eine Studie über Gottfried Benn und William Carlos Williams, Ärzte und Zeitgenossen, unterschiedlich in Temperament und Haltung. Wagners Sympathie gilt dem Amerikaner, zu Benns elitärem Gestus hält er Distanz. Sicher auch zum Schwelgen der frühen Benn – Gedichte in den abstoßenden Details von Krankheit und Verfall. Den grellen Seiten der Existenz wird man in diesen Essays selten begegnen, so wenig wie Heftigkeit, Einseitigkeit oder Zorn. Der Stil ist geschliffen, der Ton gemäßigt. Wagner kennt die jeweils gegenteilige Meinung und versucht sie ohne Verzerrungen zu entkräften. Brillant demonstriert er das in dem knappen Aufsatz „Ein Gespräch“. Jeder Aussage über Nutzen, Wert und Eigenart der Poesie stellt er Einwände gegenüber, manche verbreitet, manche bedenkenswert, alle fair formuliert und so milde wie deutlich abgelehnt. Und weil dieses Hin und Her in durchgehender Textgestalt stattfindet (Wagner ist ein Gegner von Absätzen), ergibt sich der Eindruck eines schier göttlich ausgewogenen, quasidialogischen Monologs. Das ist ein Verfahren, das keine Angriffsflächen übrig lässt und die zarte Frage weckt, ob Leben blühen kann, wo man es so vollständig überblickt? Neben angeborenem Talent zur Konzilianz hat das vielleicht auch mit geschützten Räumen zu tun: Workshops und Stipendien, Residenzpflicht von Litauen bis Olevano Romano, dazu Kongresse, Festivals, Lesungen in ganz Europa und anderswo, ein stetes Umher und kurzes Rasten unter reibungsarmen Bedingungen. „Mit zwei Malern und einem weiteren Dichter verlebte ich eine Woche in Kyparissia in Messenien auf dem Peloponnes. Unser Projekt war es, uns den uralten Olivenbäumen, die in weitläufigen Hainen längs der Küste wachsen, … mit den jeweiligen Mitteln zu nähern“. Schön, denkt der Leser und seufzt gesittet. Danach aber sollte er unbedingt jene weit hinten im Buch versteckte Eloge auf die Kneipe „Hubble Gubble“ aufsuchen, dreieinhalb makellose Seiten für das „Berliner Kneipenbuch“ von Wagners Freunden Schulz und Kuhligk, die so beginnen: „Abends, wenn in Neukölln die Tiefergelegten chromblitzend ihre Kreise ziehen und der Ewigkeit eine Bremsspur abdingen, wenn die Rottweilerherzen milde werden und der Mond wie eine Bierschaumblume über den Dächern wächst …“ Ja, solche Prosa kann Jan Wagner auch. Die Kneipe, vermeldet das Netz, gibt es nicht mehr. Wir hoffen, dass der Dichter eine andere, ähnliche gefunden hat, „erfreulich ungekämmt“, zur steten Bodenhaftung.
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Gisela Trahms
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