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Jan Wagner

Die Sandale des Propheten

Göttlich ausgewogen

Kritik
  Jan Wagner
Die Sandale des Propheten
Essays: Beiläufige Prosa
Berlin Verlag 2011
239 Seiten, Euro 19,90


Die bepickelte Legionärs­sandale auf dem Cover täuscht: martia­lisch ist die Ge­schichte keines­wegs, die dem Buch den Titel gab. Zur Einstim­mung auf einen Griechen­land-Aufent­halt schrieb Jan Wagner, noch in Berlin, ein Haiku über eine verlorene, moos­bewach­sene Sandale – die dann tat­säch­lich im griechi­schen Oliven­hain gefun­den wurde. War das Gedicht also eine Prophe­zeiung? Wurde die Sandale entdeckt, weil ihre Existenz im Text bezeugt war? Müsste sie, unbe­textet, ungefunden, als nicht gewesen gelten? Die Anekdote illustriert als schönes Rätsel, wie Poesie in die Wirklich­keit ein­greift, obwohl sie doch, wie Wagner nonchalant fest­stellt, „auf herrliche Weise vollkommen nutzlos ist – so nutzlos wie ein Lachen“.

„Beiläufige Prosa“ lautet der Untertitel, vieles deutet er an: dass Wagners Haupt­geschäft die Lyrik ist, Prosa ein Nebenher, aller­dings ein gern geübtes (und besser bezahltes). Dass die hier versam­melten Kritiken, Essays, Würdi­gungen und poeto­logischen Reflexionen durchaus Leicht­füßigkeit anstreben. Und dass sie nicht auf Konfron­tation ange­legt sind, sondern den Leser freundlich zum Mit­wandern einladen. Wagner stapelt gern tief, prunkt nicht mit seiner Belesen­heit, sondern verstreut Wissens­sschätze und Zitate wie die Orien­tierung spen­denden, unauf­fälligen Brot­bröckchen des Märchens.

Unter der hübsch maliziösen Überschrift „Vom Pudding“ kartieren im ersten Teil acht Aufsätze die junge deutsche Lyrik. Dabei geht es weniger um ein Autorenpanorama als um die Folgen der Freiheit. Verbind­liche Regeln und Baupläne für das Gedicht existieren schon lange nicht mehr, jeder Versuch, inhaltliche oder formale Kriterien festzulegen, muss scheitern. Umso schwie­riger ist es für den Autor, seinem Gedicht die eine, exakte, ihm gemäße Form zu geben. Angeb­lich geht zwar alles, aber manches eben auch in die Irre. Geprüft werden muss jeder Einzeltext neu:

„Nur mit dem Ausruf ›Sesam, öffne dich!‹ findet Ali Baba Einlass in die Höhle der vier­zig Räuber. Das ist wunderbar, täuscht jedoch nicht über die Tatsache hinweg, dass dieser magische Spruch schon bei der Nachbarhöhle nicht mehr anschlägt. Er gilt nur und ausschließlich an einem Ort und in einer Situation. Für die nächste Höhle wie für das nächste Gedicht muss eine andere Formel gefunden werden“.

Überlieferte Formen wie das Sonett oder die Sestine finden in Wagner einen beredten Vertei­diger, wenn sie für Neues genutzt werden. Ebenso der Reim, vorzugs­weise als „slant rhyme“, unrein also, weil die reinen bis zur Banalität verbraucht sind. Entschei­dend ist immer das Vorwärts, das Eigen­willige und Unerprobte. Die Morgen­stimmung, sozusagen.

Die poetologische Eule hingegen fliegt, wie die philosophische, in der Dämmerung, im Nachhinein, „dem Gedicht hinter­her­geschrie­ben“, zu dessen „Wesen es doch gehört, immer unterwegs zu sein“. Dasselbe gilt für die Kritik. Vor aller Hirn­exzel­lenz des Deutens, Preisens oder Ver­reißens muss es die spontane Begeg­nung der dritten Art geben, das unmittelbare Reagieren (dessen Urteil allerdings revi­diert werden kann). Das Vergnügen am Gedicht ist nach­haltig sinnlich und dem der Zunge verwandt: „Der Beweis des Puddings liegt eben im Essen“, zitiert Wagner ein Brecht-Wort.

Der zweite Teil würdigt Dichterkollegen, deutsche und solche aus dem englisch­sprachi­gen Raum. Matthew Sweeney und Simon Armitage hat Wagner übersetzt und in den hier erneut gedruckten Nach­worten trefflich charak­te­risiert. Der schönste Text ist eine Studie über Gottfried Benn und William Carlos Williams, Ärzte und Zeitgenossen, unter­schied­lich in Tempe­rament und Haltung. Wagners Sympathie gilt dem Amerikaner, zu Benns elitärem Gestus hält er Distanz.

Sicher auch zum Schwelgen der frühen Benn – Gedichte in den abstoßenden Details von Krankheit und Verfall. Den grellen Seiten der Existenz wird man in diesen Essays selten begegnen, so wenig wie Heftig­keit, Ein­seitigkeit oder Zorn. Der Stil ist geschliffen, der Ton gemäßigt. Wagner kennt die jeweils gegen­teilige Meinung und versucht sie ohne Verzer­rungen zu entkräften. Brillant demonstriert er das in dem knappen Aufsatz „Ein Gespräch“. Jeder Aus­sage über Nutzen, Wert und Eigenart der Poesie stellt er Ein­wände gegenüber, manche verbreitet, manche beden­kens­wert, alle fair formuliert und so milde wie deutlich abgelehnt. Und weil dieses Hin und Her in durchgehender Textgestalt statt­findet (Wagner ist ein Gegner von Absätzen), ergibt sich der Eindruck eines schier göttlich ausge­wogenen, quasi­dialo­gischen Monologs. Das ist ein Verfahren, das keine An­griffs­flächen übrig lässt und die zarte Frage weckt, ob Leben blühen kann, wo man es so vollständig überblickt?

Neben ange­borenem Talent zur Konzi­lianz hat das vielleicht auch mit geschützten Räumen zu tun: Workshops und Stipen­dien, Residenzpflicht von Litauen bis Olevano Romano, dazu Kon­gresse, Festivals, Lesungen in ganz Europa und anderswo, ein stetes Umher und kurzes Rasten unter rei­bungs­armen Bedin­gungen. „Mit zwei Malern und einem weiteren Dichter verlebte ich eine Woche in Kyparissia in Messe­nien auf dem Peloponnes. Unser Projekt war es, uns den uralten Oliven­bäumen, die in weit­läufigen Hainen längs der Küste wachsen, … mit den jewei­ligen Mitteln zu nähern“. Schön, denkt der Leser und seufzt gesittet.

Danach aber sollte er unbedingt jene weit hinten im Buch versteckte Eloge auf die Kneipe „Hubble Gubble“ aufsuchen, drei­einhalb makellose Seiten für das „Berliner Kneipenbuch“ von Wagners Freunden Schulz und Kuhligk, die so beginnen: „Abends, wenn in Neukölln die Tiefer­gelegten chromblitzend ihre Kreise ziehen und der Ewigkeit eine Brems­spur abdingen, wenn die Rott­weilerherzen milde werden und der Mond wie eine Bierschaum­blume über den Dächern wächst …“
Ja, solche Prosa kann Jan Wagner auch.
Die Kneipe, vermeldet das Netz, gibt es nicht mehr. Wir hoffen, dass der Dichter eine andere, ähnliche gefunden hat, „erfreulich unge­kämmt“, zur steten Bodenhaftung.

 

Gisela Trahms    28.11.2011   

 

 
Gisela Trahms
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