Irène Némirovsky starb 1942 in Auschwitz, der Koffer, der Suite française enthielt, wurde erst Ende der neunziger Jahre geöffnet. Das Buch war die Sensation des literarischen Herbstes 2004 in Frankreich. Einfühlsam übersetzt von Eva Moldenhauer, erschien es ein Jahr später bei uns, eroberte sofort Platz 1 der Bestenliste und liegt nun als Taschenbuch vor. Neben dem Roman enthält der Band ein Dossier über seine Entstehungsgeschichte und eine kurze Biographie der Autorin – ein zweites Buch, wie Paul Gray von der New York Times zu Recht bemerkt, das die Lektüre des ersten nachhaltig beeinflusst. Als Tochter eines reichen jüdischen Bankiers 1903 in Kiew geboren, kommt Irène Némirovsky früh nach Frankreich und veröffentlicht mit 26 Jahren den erfolgreichen Roman David Golder, dem sie rasch weitere Bücher folgen lässt. Sie heiratet einen weißrussischen Emigranten, Michel Epstein. Als die Deutschen Frankreich besetzen, flieht das Ehepaar mit seinen zwei Töchtern in die Provinz. Irène beginnt Suite française, einen auf fünf Teile angelegten Roman über Krieg und Okkupation. Die ersten beiden Teile kann sie fertig stellen, für die anderen drei gibt es nur Stichworte. Im Juli 1942 wird sie verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo sie wenige Wochen später an Typhus stirbt. Auch ihr Mann wird in Auschwitz ermordet. Die beiden Töchter erleben eine Odyssee durch die Verstecke, immer den Koffer hütend, der, wie sie glauben, die Tagebücher ihrer Mutter enthält. Erst als Denise, die ältere, nach Jahrzehnten endlich die Kraft findet, die Hinterlassenschaft zu lesen, erkennt sie, dass sie ein literarisches Manuskript vor sich hat. Sie sucht und findet einen Verleger. Suite française wird ein Welterfolg. Der erste Teil, Sturm im Juni, schildert die Flucht der Pariser vor der herannahenden deutschen Armee. Ein Panorama der Panik, illustriert an einer Handvoll Figuren. Einige treffen wir im zweiten Teil wieder. Dolce spielt in einem Marktflecken in Burgund, in dem sich ein deutsches Regiment einquartiert hat. Die Einwohner versuchen mit dieser Situation zurecht zu kommen, jeder auf seine Weise, während die Schönheit der Natur und der Zauber des Sommers den Alltag grundieren wie eh und je. Irène Némirovsky erzählt, was gerade geschehen ist und noch geschieht, der zeitliche Abstand zwischen Fakten und Darstellung ist minimal. Sie schreibt aus dem unmittelbaren Erleben heraus, aber nicht autobiographisch: Staatenlose und Juden kommen nicht vor. Nicht die Außenseiter stehen im Mittelpunkt, sondern typische Vertreter der französischen Gesellschaft: Bürger, Adelige, Beamte, Künstler, Bauern, Reiche, Arme. „Was diese Menschen miteinander verbindet, ist die Epoche, nur die Epoche. Reicht das aus? Ich meine: Ist die Verbindung spürbar genug?“, fragt die Autorin in ihren Arbeitsnotizen. Sie zweifelt. Sollte nicht „eine Art von allgemeiner Idee“ als roter Faden den Roman durchziehen? Aber welche? Gibt es überhaupt noch eine? Nein, „nötig sind Menschen, menschliche Reaktionen, das ist alles.“ Die Ausnahmesituation des Krieges, so unsere Erwartung, wird uns das verborgene Innenleben dieser Menschen enthüllen. Die traurige Wahrheit ist, dass sie handeln wie immer: Der Sammler rafft sein Porzellan, der Schriftsteller sein Manuskript, der Bankier seine Aktien. Niedertracht und Schäbigkeit feiern Triumphe, dazwischen leuchtet schüchtern die Güte. In einer Vielzahl einzelner Episoden können wir das in Sturm im Juni verfolgen. Die Reichen, die Bürgerlichen, die Frommen – alle widerlich. Sie scheinen geradewegs aus den frühen Romanen Julien Greens oder François Mauriacs zu stammen. Aus der Distanz von 60 Jahren wünscht man geradezu ihren Untergang. Und man wünscht die überdeutlichen Adjektive fort, die unser Urteil festzurren. Eigentlich sind wir als Leser nur in einer Episode frei: ein junger Priester flieht mit einer Gruppe von Waisen aus Paris. Er will ihr Bestes, spricht zu ihnen, versucht sie zu trösten. Sie gehorchen und schweigen. Schließlich erschlagen sie ihn. Warum, wird nicht erklärt, und gerade dadurch erreicht dieses Kapitel eine schauerliche Wahrheit. Irène Némirovsky wuchs im Reichtum auf, Lebenszuschnitt und Freundeskreis waren großbürgerlich. Der Roman zeugt von einer Kehrtwende: Großherzigkeit und Güte gesteht sie nur den Figuren zu, die frei sind von materiellen Interessen. In Dolce sind das eine junge Frau und, jawohl, ein Deutscher. Man spürt, dass der Autorin nichts wichtiger ist als die Klarheit des Blicks, sie will wiedergeben, was sie vor Augen hat, sich nicht beeinflussen lassen von patriotischen Vorurteilen. Verzweifelt schreibt sie gegen eine Legende an, die sie noch gar nicht kennen kann: die von der sauberen Trennung in Gut und Böse, in Widerstand und Kollaboration. Sie tut es mit Hilfe von Figuren, die ihrerseits vom Klischee bedroht sind – was sie ebenfalls nicht wissen kann. Den Musik liebenden deutschen Offizier von tadelloser Haltung kennen wir aus Polanskis Der Pianist und aus Vercors' Das Schweigen des Meeres, um nur zwei Beispiele zu nennen. Stets ist er blond, adlig, gebildet, eine melodramatische Aura umgibt ihn, und natürlich fühlt er sich hingezogen zu der schönen jungen Frau des Hauses, in dem er einquartiert ist... Das Schweigen des Meeres wurde nach dem Krieg zum Kultbuch, zum Spiegel schlechthin, in dem die Franzosen ihr Verhalten während der Besatzung mit Wohlgefallen betrachteten. Kein aufrechter Franzose hatte ja je mit dem Feind geredet! In Dolce hingegen wird ein Alltag geschildert, in dem Franzosen und Deutsche sehr wohl miteinander reden, trotz Todesdrohungen und Todesnachrichten. Es gibt Grausamkeit und Hilfsbereitschaft, Häme, Hass, auch Begehren natürlich, Eifersucht und Liebe ... Wie hätte Frankreich, wie hätte Deutschland auf diesen Roman reagiert, wäre er, vervollständigt auf fünf Teile, sofort nach dem Krieg erschienen? Hätte er eine Chance gehabt gegen das Pathos von Vercors und eine nüchterne Auseinandersetzung mit der Zeit der Okkupation, mit Résistance und Kollaboration eingeleitet? Wäre er als Skandalon betrachtet worden, gar als eine Art Ehrenrettung für die Deutschen? Oder hätte man ihn durch Schweigen und Nichtbeachtung sozusagen erstickt? So viele Fragen, keine Antworten. Der Resonanzraum von damals lässt sich nicht rekonstruieren. Der posthum verliehene Prix Renaudot, die furiose Auferstehung des Buches in diesen Tagen können nicht darüber hinwegtrösten, dass ihm die Zeitgenossenschaft mit seinen Lesern abgewürgt wurde. Die heutige Lektüre ist eine des Staunens über diese junge Frau, die in den wenigen Monaten, die ihr blieben, auf über 400 Druckseiten eine Geschichte zu erzählen begann, deren Ausgang niemand kannte. Angesichts dessen, was ihr, ihrer Familie und ihrem Buch angetan wurde, bleibt nur Trauer.
Gisela Trahms 12.07.2007
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