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Björn Kuhligk

Gespräch mit Gisela Trahms für den poetenladen
»In dieser vom Herzen zerbrüllten Gegend«
  Gespräch
Björn Kuhligk | Von der Oberfläche der Erde
Björn Kuhligk
Von der Oberfläche der Erde
Gedichte
Berlin Verlag, Berlin 2009
Welche Rolle spielen Orte für das Schrei­ben – seien es gegen­wär­tige, ver­gan­gene oder ste­tig wech­selnde? Manch­mal kom­men die Orte sogar zum Autor, manch­mal sucht er sie auf. Sechs Au­toren­gespräche in poet 10 geben Aus­kunft. An dieser Stel­le das Gespräch mit Björn Kuhligk. Erschienen in poet nr. 10 | poetenladen 2011
Björn Kuhligk, geboren 1975 in Berlin, arbeitet als Buchhändler. Er debütier­te 1995 mit dem Lyrikband »Dann ziehe ich los, Engel suchen«. Gemeinsam mit Tom Schulz verlegte er von 1997-1999 die edition minotaurus. Kuhligk ist Mitherausgeber von repräsentativen Lyriksammelbänden, die die Szene der jungen Lyrik im deutschen Sprachraum vorstellen. 2006-2009 leitete er die Lyrikwerk­statt open poems der Literaturwerkstatt Berlin. Er war u.a. Gewinner des 5. open mike (1997) und erhielt das Arbeitsstipendium des Berliner Kultursenats (2008). Zuletzt erschien von ihm »Von der Oberfläche der Erde« (Berlin Verlag 2009) und »Bodenpersonal« (J. Frank 2010).


Gisela Trahms: Wie wichtig Orte für Sie sind, zeigen viele Titel Ihrer Gedichte. Sie heißen Amrumer Wetterdaten; Lankwitz ist eine Stehlampe; Heringsdorf. Ostsee; Hausach. Die Eisenbahnstraße; Im Klützer Winkel; Eskisehir, aus dem sechsten Stock usw.

Björn Kuhligk: Ich möchte die Gedichte schlichtweg verorten. Viel­leicht als eine Topo­graphie, die ich nach Jahren, Jahr­zehnten wieder lese und was dann tage­buch­ähnlichen Charakter annimmt.

G. Trahms: Sie sind in Berlin geboren und aufge­wachsen?

B. Kuhligk: Ja, in einem Außenbezirk von Westberlin, dort, wo heute fast das Umland beginnt, das war überhaupt nicht großstädtisch. In die City, wie man damals sagte, und damit war der Kudamm gemeint, bin ich erst später gekommen. Und »Berlin« ist als Bezeichnung eigentlich auch viel zu ungenau, aber das gilt für alle größeren Städte. Berlin besteht ja nicht nur aus sehr verschiedenen Stadtteilen wie Charlottenburg ­­oder Friedrichshain usw., sondern aus Kiezen innerhalb eines Stadtteils, die einen ganz eigenen Charakter haben. Kreuzberg zum Beispiel war früher aufgeteilt in zwei Postleitzahlbezirke, 36 und 61. Diese Teilung existiert merkwürdigerweise auch im Sozialen. 36 ist eher pro­letarisch mit einem sehr hohen Ausländeranteil, 61 ist das bürgerliche Kreuzberg, dort lebe ich mit meiner Familie.

G. Trahms: Es ist ein sehr lebendiger Kiez. Allein die Kneipendichte …

B. Kuhligk: Die Kneipen sind ganz wichtig als Kommunikationsort. Ich schreibe in Kneipen und lerne darüber auch Leute kennen, nur flüchtig, und ich spitze natürlich die Ohren. Und diese Leute interessieren mich, was sie erzählen, ist spannend und sie spielen auch für mein Schreiben eine große Rolle. Sie machen ganz andere Erfahrungen als ich, da ist meistens kein bürgerlicher Hintergrund, und es ist einer der Vorzüge von Berlin, dass man so mühelos die Milieus wechseln kann. Das ist keine oberflächliche Neugier, kein Elendstourismus, sondern ich will etwas wissen von den Anderen, und das eine oder andere, was ich da höre, fließt in meine Texte ein. Als ich in Hamburg lebte, war ich oft in den Kneipen seitlich der Reeperbahn. Dort gab es eigentlich die besten Geschichten zu hören, großartig.

G. Trahms: In Ihren Gedichten spielen die Randständigen eine große Rolle. Um es mit Brecht zu sagen: die, die im Dunkeln sind. Bettler, Obdachlose, Süchtige, verbitterte Männer, die sich betrinken …

B. Kuhligk: Die im Dunkeln, ja klar, und dieses Dunkle, das überlagert oft vieles. In Berlin ist das auch sehr präsent, es gibt U-Bahn-Stationen oder Plätze, die als sehr verdrogt gelten, also Junkies, Alkies und so weiter. Was ich darüber schreibe, ist mir also nicht fremd. Die Frau, die in einem Gedicht auftaucht, mit den fünf Plastiktüten in jeder Hand, wie riesige Finger, die existiert, und das ist als Bild, als visueller Eindruck ganz stark, nicht im Sinne von Kitsch und Verharmlosung, sondern als Ausdruck dieser Person. Es schreit als Bild geradezu nach einem Gedicht, in dem es aufbewahrt wird. Mich zieht das, was als asozial gilt, sehr an.

G. Trahms: Verstehen Sie Ihre Gedichte als Sozialkritik?

B. Kuhligk: Als politische Kritik, ja. Ich denke, man kann nicht durch Berlin gehen, ohne dass einen die Ungerechtigkeit der Verhältnisse anspringt. Natürlich glaube ich nicht, dass man mit Gedichten die Welt verändern kann, das wäre naiv. Trotzdem ist es meine Form, mich einzubringen. Und ich würde mir wünschen, dass es mehr Autoren gäbe, die diese Dinge benennen. Tom Schulz hat vor kurzem eine Anthologie politischer Lyrik heraus­gegeben, Alles außer Tiernahrung, da sind eine ganze Menge Autoren versammelt, die sich mit diesem Themenkomplex auseinandersetzen, aber natürlich wäre es gut, wenn das literarische Interesse an sozialen Missständen größer wäre.

G. Trahms: Machen Sie sich Notizen, wenn Sie unterwegs sind?

B. Kuhligk: Ja, sehr oft. Meist habe ich ein Notizbuch dabei, wenn nicht, finde ich etwas, worauf ich schreiben kann, und ohne Stift gehe ich gar nicht aus der Wohnung. Das ist ganz wichtig, sonst geht mir das ver­loren. Ich kann mir selten etwas merken. Ich schreibe auf, was mir auffällt, ganz spontan, ohne über Formulierungen nachzudenken, einfach um den Eindruck festzuhalten. Aus dieser Materialsammlung entstehen dann später im Arbeitsprozess die Gedichte. Da schau ich dann, was zueinander passt, welches Bild zu welchem Bild, welche Szene zu welcher Szene. Denn die Gedichte kombinieren natürlich unterschiedliche Lokalitäten, unterschiedliche Zeitpunkte, und die Arbeit daran dauert, auch wenn ich meistens ziemlich genau weiß, was wohin muss.

G. Trahms: Ihre Texte wirken aber wie spontan notiert.

B. Kuhligk: Das würde mich freuen. Ich denke, der Arbeitsprozess ist gut gelaufen, wenn man seine Spuren nicht bemerkt. Das Ziel ist ja nicht, dass der Leser sagt: Was für ein kunstvoll gefeilter Text!, sondern dass das Gedicht starke Eindrücke vermittelt, dass man etwas sieht und spürt. Und mein Beteiligtsein muss deutlich werden, mein Reagieren auf den Ort, die Personen. Gedichte sind subjektiv, ich will kein soziologisch ausgerichtetes Wissen transportieren.

G. Trahms: Der Eindruck des Spontanen kommt auch dadurch zu­stande, dass die einzelnen Bilder oft abgerissen wirken, fragmen­tarisch, da fehlen dann zum Beispiel die Verben, die Sätze sind unvoll­ständig, wie hingekritzelt. Bruchkanten werden nicht abgeschliffen, ­sondern bleiben sichtbar. Es sind also keine Puzzleteile, die fugenlos ineinander passen und ein glattes Ganzes ergeben, sondern das Vereinzelte, Flüchtige dominiert. Und die Subjektivität drückt sich in der Art aus, wie Sie Wahrnehmungen kombinieren, und nicht, indem Sie »Ich« sagen, das tun Sie nur selten.

B. Kuhligk: Das Fragmentarische entspricht meiner Wahrnehmung, und das Abgerissene meiner Ungeduld. Außerdem kommt einem das ganze Zeug, von dem man umlagert ist, ja auch nicht als Unterhaltungsroman entgegen. Und das Wörtchen »Ich« habe ich früher öfter benutzt, zum Beispiel in Liebesgedichten. Inzwischen mag ich es nicht mehr, die Gefahr der Sentimentalität ist dann sehr groß und ich kann meine Empfindungen und Reaktionen auch anders vermitteln, vielleicht ist die subtile Herangehensweise die bessere und dazu gehört nicht unbedingt ein »Ich«.

G. Trahms: Das Gefühl, das sich in Ihren Gedichten am deutlichsten ausspricht, ist Wut.

B. Kuhligk: Vor einer Lesung fällt mir das immer besonders auf, ich schaue die Texte vorher noch mal durch und denke: »Du liebe Güte, jetzt schüttest du wieder einen Kübel Negatives über die Leute aus …« Aber ich würde, glaube ich, nicht gut klarkommen, wenn ich das unterdrücken würde. Das Schreiben ist für mich in erster Linie ein Ventil, also kurz bevor mir der Hut sonst wohin fliegt, und das ist freundlich formuliert. Deswegen schreibe ich, das ist meine Form der Auseinandersetzung und der Regulierung.

G. Trahms: Dennoch gibt es in den Gedichten auch immer wieder – wie soll man das nennen – helle Stellen?

B. Kuhligk: Ja, natürlich, aber ich weiß gar nicht, wie man das nennen soll, »das Helle« ist mir sozusagen schon zu hell. Aber egal. Am besten sucht man nicht nach einem Label, sondern belässt es bei den einzelnen Bildern, da merkt man ja, ob sie hell oder dunkel sind. Man muss auf jeden Fall sehr sparsam damit umgehen, sonst wird es pathetisch bis zum Abwinken.

G. Trahms: In solchen Versen ist oft das Kind die handelnde Person. Ein Beispiel aus Ihrem letzten Gedichtband: unser Sohn, noch staatenlos/ zehn Tage alt, auf dem Rücken liegend/ dirigiert mit den Fingern das Licht

B. Kuhligk: Ich bin nicht besonders gut im Analysieren oder Erklären meiner Gedichte, ich will das auch gar nicht. Was zu sagen ist, steht im Text und Schluss. Es gab ja in letzter Zeit rege Poetik-Diskussionen, deren Pamphlete meist die Qualität der Primär-Texte überstiegen. Zumindest das, was ich davon gelesen habe. Und mich interessiert eigentlich auch nicht, was jemand über seine Gedichte schreibt, soll er doch Gedichte schreiben. Der Bäcker erklärt einem ja auch nicht, warum und wie er Brot macht. Haben Sie mal von Roman- oder Theaterautoren Ähnliches gelesen, völlig absurd. Und von Künstlern anderer Sparten hört man sowas überhaupt nicht. Es ist ja nicht so, dass ich das ablehne, ganz im Gegenteil, ich denke, es ist sehr wichtig, sich klar zu werden, was man will und vor allem, was man nicht will, aber es ist überflüssig, das öffentlich zu machen.

G. Trahms: Wann haben Sie angefangen, Gedichte zu schreiben?

B. Kuhligk: Als Jugendlicher habe ich eine Zeitlang gemalt. Nicht gegenständlich, das konnte ich gar nicht – ich hab alte Turnschuhe zersägt und auf die Leinwand geklebt und mit Farbe übergossen und solche Sachen. Sehr impulsives Zeug, eigentlich zu viel des Guten. Dann bin ich zum ersten Mal für längere Zeit weg aus Berlin, nach Hamburg, wo ich Zivildienst gemacht habe in einem Krankenhaus und bloß ein enges Zimmerchen im Personalwohnheim hatte. Das war ein großer Einschnitt, ich kannte niemanden in Hamburg und die Hamburger sind ja auch eher reserviert. So war ich erst einmal auf mich selbst zurückgeworfen. Es dauerte fast ein Jahr, bis ich da sozusagen richtig angekommen war. Außerdem hatte ich dort mit Krankheit und Tod zu tun und zwar sehr intensiv, täglich, und das war nicht einfach. Irgendwie musste ich mit alledem fertig werden und so habe ich angefangen zu schreiben. Das passierte eigentlich bereits in der ersten Woche.

G. Trahms: Wann haben Sie angefangen, Gedichte zu schreiben?

B. Kuhligk: Als Jugendlicher habe ich eine Zeitlang gemalt. Nicht gegenständlich, das konnte ich gar nicht – ich hab alte Turnschuhe zersägt und auf die Leinwand geklebt und mit Farbe übergossen und solche Sachen. Sehr impulsives Zeug, eigentlich zu viel des Guten. Dann bin ich zum ersten Mal für längere Zeit weg aus Berlin, nach Hamburg, wo ich Zivildienst gemacht habe in einem Krankenhaus und bloß ein enges Zimmerchen im Personalwohnheim hatte. Das war ein großer Einschnitt, ich kannte niemanden in Hamburg und die Hamburger sind ja auch eher reserviert. So war ich erst einmal auf mich selbst zurückgeworfen. Es dauerte fast ein Jahr, bis ich da sozusagen richtig angekommen war. Außerdem hatte ich dort mit Krankheit und Tod zu tun und zwar sehr intensiv, täglich, und das war nicht einfach. Irgendwie musste ich mit alledem fertig werden und so habe ich angefangen zu schreiben. Das passierte eigentlich bereits in der ersten Woche.

G. Trahms: Ich finde, Sie haben auch als Lyriker ein Maler-Auge behalten. Sie notieren, was Sie sehen und verändern es, aber der visuelle ­Charakter bleibt erhalten. Ihr letzter Gedichtband heißt »Von der Oberfläche der Erde«. Das ist ein Maler-Titel, denn gerade den Maler reizt die Oberfläche der Dinge und er hat auch, im Unterschied zu Schriftstellern, kein Problem damit, das zu äußern. Auf mich wirken viele Ihrer Gedichte »flächig«, eben weil sie einzelne Bilder wie in einem Raum gruppieren. Aber nicht auf statische Weise, sondern der Raum vibriert, da ist Bewegung und Emotion, man spürt, dass Sie etwas loswerden müssen.

B. Kuhligk: Wenn ich eine Zeitlang nicht zum Schreiben komme, weil ich ja meinem Brotjob nachgehen und mich um die Kinder kümmern muss und möchte, dann macht mich das nervös und ungeduldig, da staut sich immer einiges auf, was raus muss. Dann nehme ich mein Notebook und setze mich in eine Kneipe, ich schreibe eigentlich fast nur in Kneipen, von acht oder neun bis sie dichtmacht, eben weil ich da genügend Ruhe habe bzw. so viel Lärm um mich herum, dass es wieder zu einer Klangkulisse wird, fast so ein beruhigendes Rauschen. Und das ist wieder ein großer Vorzug Berlins, dass man in diesen Kneipen weder komisch angeguckt noch angesprochen wird, selbst wenn man da stundenlang sitzt und tippt.

G. Trahms: Also werden Sie in Berlin bleiben?

B. Kuhligk: Ich kann mir nur schwer vorstellen woanders zu leben. Man wurzelt sich ein, wenn man so lange wie ich in demselben Kiez lebt. Man kennt viele Leute, grüßt und wird gegrüßt, aber ich könnte hier auch eine Woche in der Badehose draußen rumlaufen, ohne dass sich jemand aufregt. Es herrscht ein angenehmes Gleichgewicht zwischen Anonymität und Vertrautheit. Das wäre ganz anders, wenn wir in eine Kleinstadt oder in ein Dorf zögen, da wäre die soziale Kontrolle größer und die Toleranz geringer – der Ort, wo ich lebe, muss mir viel erlauben. Trotzdem nervt mich die Großstadt natürlich oft.

G. Trahms: Sie reisen ja auch und schreiben Gedichte über ferne Orte.

B. Kuhligk: Gerade auf Reisen habe ich plötzlich Zeit, mich auf Orte ­einzulassen und diese anders zu erleben, als die, die ich im Alltag betrete, und dass ich da meistens Gedichte als Souvenirs mitnehme, hat wieder mit dem Zeitfaktor zu tun.

G. Trahms: Aber Ihre Zugangs- und Arbeitsweise bleibt dieselbe, scheint mir. Sie haben nicht den Ehrgeiz, die Essenz eines Ortes zu erfassen und darzustellen oder das ultimative Venedig-Gedicht zu schreiben. Ihnen geht es um die eigene, individuelle Reaktion auf den neuen Reiz, und die kann manchmal sehr verschieden sein von dem, was man erwartet.

B. Kuhligk: Etwas Anderes wäre auch gar nicht möglich, es würde mich auch nicht interessieren. Ich bin kein Reiseführer und Baedecker-Gedichte will ich auch nicht schreiben und geographische Genauigkeit ist auch nicht mein Ziel. Die Eindrücke, auf denen die Zeilen eines Gedichts beruhen, können durchaus zu verschiedenen Orten gehören. Zum Beispiel Praia da Galé, so heißt ein Gedicht aus meinem letzten Buch, das ist ein kleiner Ort in Portugal, kilometerlanger Sandstrand, windig, krachender Atlantik usw.

G. Trahms: Im Gedicht gefiltert durch das Medium Handy.

B. Kuhligk: Ja. Dann ist von Doraden im Kühlschrank die Rede, aber der Kühlschrank stand nicht in Praia da Galé, sondern in Lissabon bei Freunden. Und wo das Kind die Kiesel gesammelt hat, und ob da überhaupt ein Kind war, ist auch nicht wichtig. Wichtig ist, ob ein Gedicht zustande kommt, das stimmt.

G. Trahms: Der letzte Vers zielt dann durch den Ort hindurch auf das Andere, die »nach Echtheit riechende Zeit«. Das ist eine seltene Erfahrung, die man wohl so in Berlin nicht machen kann.

B. Kuhligk: Möglich.

G. Trahms: Haben Sie einen Sehnsuchtsort?

B. Kuhligk: Ja, unbedingt. Das ist schlichtweg die Natur, weit weg von der Stadt, weg von den Menschen. Ich kann mich irgendwo in Brandenburg auf ein Feld stellen und erfinde mir sofort eine andere Gegenwart mit allem, was dazugehört. Ich war mal im November auf der Hallig Hooge, 120 Einwohner, die man kaum sah, um fünf wurde es dunkel, man hörte nur den Wind … Das war herrlich, da konnte ich arbeiten und habe viel geschafft. Ich liebe das Meer, die Nordsee vor allem und in der Nordsee die autofreien Inseln, das sind Sehnsuchtsorte. Ich mochte auch die Gegend um Eskisehir in Anatolien, wo ich ein Stipendium als Stadtschreiber hatte. Eskisehir liegt auf einer riesigen, verkarsteten Hochebene, umgeben von Hügeln und Gebirge und überhaupt nicht schön oder pittoresk im gängigen Sinn, einfach Leere und Weite und fern von allem, dazu sehr nette, gastfreundliche Leute, das hat mir gut gefallen.

G. Trahms: Und andere Städte?

B. Kuhligk: Ich bin in vielen Großstädten gewesen, in Istanbul zum Beispiel, gegen das Berlin ein Dorf ist. Ich war in Paris, Madrid, London, Budapest, Jerusalem, das fällt mir jetzt alles gar nicht ein. In New York sollte ich eine Woche bleiben, da bin ich aber nach drei Tagen geflüchtet, das war mir zu anstrengend, zu nervig, zu überwältigend. All diese Städte sind natürlich großartig, aber nicht so sehr anders als Berlin, man macht da ähnliche Erfahrungen, insofern sind sie keine wirkliche Alternativen. Für mich als Lyriker ist die deutsche Sprache das Material, und wie die sich differenziert und verändert und wie die Leute damit auf die Verhältnisse reagieren, hör ich hier in Berlin jeden Tag und vielleicht deutlicher als woanders. Berlin ist nun mal die extremste Stadt Deutschlands, und das bedeutet auch, dass die Leute ein ganz feines Sprach­bewusstsein haben. Damit meine ich nicht die berühmte Berliner Schnauze oder ähnliche Folklore, sondern dass man sich durch seine Sprache outet als der und der oder die und die, und nach drei Sätzen wissen die Zuhörer, wohin man gehört.

G. Trahms: … Lieber Freund, heute haben wir den Tag/ des blutigen Kollegen gefeiert …

B. Kuhligk: Ja, genau, obwohl das aus einem Buñuel-Film stammt, aber das Aufgreifen solcher Sprachfetzen gehört unbedingt dazu. Naja, außerdem ist der Kontakt wichtig, der Austausch mit Anderen, die Gedichte schreiben, das ist in Berlin gegeben wie sonst nirgendwo. Ich setze mich aufs Fahrrad und bin in zehn Minuten bei einem Freund, der auf andere Weise Ähnliches tut wie ich.

G. Trahms: Und wenn Ihnen Berlin trotzdem mal bis obenhin steht und Sie gern aufbrechen würden zu einer richtig großen Reise, was wäre dann Ihr Ziel?

B. Kuhligk: Australien …

G. Trahms: Vielen Dank für das Gespräch.
 

Dieses Gespräch
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poet nr. 10
Literaturmagazin
poetenladen, Leipzig Frühjahr 2011
272 Seiten, 9.80 Euro

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