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John AsberyEin weltgewandtes LandOhnmacht und Sorbets Kritik
Die lebensletzte Nacht beginnt wahrscheinlich wie die gestrige: Man will sich aufmachen nach oben, ins Schlafzimmer, und der Gedanke, auf dem Treppenabsatz innezuhalten, kommt einem nicht. Noch weniger macht man kehrt, wieder hinunter und hinaus ins Freie, um schließlich wieder zu Hause eine törichte Beschäftigung zu suchen … Verführerisch einfach erzählt John Ashbery in der ersten Strophe seines Gedichts „It, or Something“ von unserer Rastlosigkeit inmitten des blinden Alltags, welcher uns gleichzeitig schützt und abstumpft. Ein lyrischer Seufzer, mag man denken, der sich der Spiegelung eines melancholischen Moments widmet. Aber so schlicht funktioniert weder unser Empfinden noch die Lyrik und schon gar nicht die Ashberys. Die nächste Strophe schlägt einen völlig anderen Ton an: „Strange beauty queen, / she neither slept nor swam.“ Dornröschen und Esther Williams, Unerreichbarkeit, verborgener Glanz, der Neid hervorruft … Hier wie in vielen Gedichten des Bandes gilt: Sprich, Erinnerung, aber sprich in einer fremdartig Rätsel erzeugenden Weise. Dies erreicht Ashbery nicht zuletzt durch die vertrackten Kombinationen von Alltagssprache und Orchideenwörtern. Theorbe? Calipers? Das Gedicht „The Gallant Needful“ handelt zunächst schlicht und rührend von abgetragenen Kleidungsstücken, von Verschleiß und Vergäng&lichkeit also, um dann mühelos auf eine andere Ebene zu wechseln: „Farewell nightmares, simulacra.“ Manchmal wirkt das gesucht. Wenn sie aber glücken, erzeugen diese Brüche und Fremdkörper das gewünschte poetische Flackern. Oft kommt der Widerhaken auch nur durch einen ungeklärten Bezug zustande: Das hinreißende „Well-Scrubbed Interior“ zeichnet eine Unterhaltung zwischen „I“ und „it“ nach, ohne dass man wüsste, wer da mit wem redet. „You can repose in my arms / for the rest of the night, which will be blue / and gloriously understaffed“ – wer sagt das? Die Liebe? Die Seele? Die Transzendenz? Jede Auflösung käme einer Verkürzung gleich, vielmehr betört das semantische Schlingern und Anbranden. Es zeichnet die Bewegungen des Ozeans nach, der hier ebenfalls Thema ist, obwohl doch der Gedichttitel ein Interieur ankündigt. Ein wenig Vertrauen und Hartnäckigkeit von Seiten des Lesers ist also vonnöten. Offenbaren soll sich ja erst einmal der Ton. Und der ist keineswegs abweisend oder von trockener Gelehrsamkeit. Ein immer noch frisches Staunen über die Bizarrerien des Lebens und der Welt artikuliert sich und eine Ironie, die auch bitter sein kann. Ziemlich absurd erscheint die conditio humana, doch Genuss bietet das Leben auch, freilich beschränkten: „We left early for the reception, / though swooning and sherbets seemed no longer viable, / and there was a hidden tax in all this …“. Ohnmacht und Sorbets, dazu die überall drohende Steuer – wer könnte das nicht nachvollziehen? Ashbery wurde achtzig, als „A Worldly Country“ 2007 in den USA erschien. Ein lebenserfahrenes Ich spricht sich aus, das sich seiner Endlichkeit bewusst und dennoch vital ist. Ein Dichter, der die Teilnahme der eigenen Verse am Gespräch der Poeten, vergangener wie zukünftiger, niemals vergisst. Vor allem Eliots Ton hallt hier nach. „Spring is the most important of the seasons“, heißt es in „Litanies“. „April is the cruellest month“, antwortet man unwillkürlich mit der Eröffnungszeile von „The Waste Land”. W. H. Auden war ein anderer prägender Einfluss, er verhalf dem Jüngeren zu seinem ersten Preis – eher widerwillig, wie Ashbery in einem Interview selbstironisch bemerkte. Inzwischen hat er alle Auszeichnungen erhalten, die es für amerikanische Lyriker zu gewinnen gibt und ist seit langem als einflussreichster Dichter der USA anerkannt. Die Originalausgabe „A Worldly Country“ umfasst 66 Gedichte auf ein wenig mehr Seiten. Die zweisprachige deutsche Ausgabe bringt es auf 337 Seiten, sie dokumentiert ein einzigartiges Projekt: 27 renommierte deutsche Lyriker und Übersetzer folgten der Aufforderung des Wiesbadener luxbooks Verlags, Gedichte eigener Wahl zu übersetzen – sicherlich nicht zuletzt, weil Ashberys Texte wichtig waren für ihr eigenes Schreiben. Mehrfachfassungen waren also von Beginn an ein Ziel. Mit sechs Varianten hält das Gedicht „Like a Photograph“ die Spitze. Und wer meint, dass zumindest der Titel immer nüchtern mit „Wie ein Foto“ wiedergegeben würde, irrt: „Einem Lichtbild gleich“ dichtet Jan Volker Röhnert und der Text entschwebt. Vielfältig kann man nachvollziehen, wie Wortwahl und Satzlänge nicht nur den Inhalt, sondern die Tonlage beeinflussen. Manche Autoren wollen vor allem die Lakonie des Englischen ins Deutsche retten. Andere riskieren ausführliche Umschreibungen, ihr Ideal heißt Genauigkeit. Jeder Leser, der sich aufs Vergleichen einlässt, wird rasch seine eigene, entschiedene Meinung dazu entwickeln, welche Versuche den Sinn, die Musik, die Vieldeutigkeit des Originals wenigstens im Ansatz treffen. So demonstriert „Ein weltgewandtes Land“ einmal mehr, was für ein lockendes, triumphierendes, verzweifeltes Unterfangen es ist, Lyrik zu übersetzen. Es zeigt, wie dankbar man für zweisprachige Ausgaben sein muss und wie besonders dankbar für den erhellenden Luxus dieses Bandes. Es bereitet einfach Vergnügen (wozu auch das Kopfschütteln über Verfehltes zählt), zwischen den Nachdichtungen hin und her zu blättern und sie, hemmungslos dem eigenen Urteil folgend, aufs Podest zu stellen oder in den Orkus zu schleudern. John Ashbery zu rühmen, heute, von Deutschland aus, wo er eine ganze Generation von Lyrikern beeinflusste, ist beinahe schon ein Nachtrag. Uljana Wolf den Übersetzungslorbeer zuzuerkennen, ist eine aktuelle, ganz persönliche Wahl und Freude.
Im Januar 2011 Platz 1 der Bestenliste
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Gisela Trahms
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