Wie überall geschieht in Ferrara Gewöhnliches (ein reicher Nichtsnutz schwängert ein junges Mädchen und verlässt es) und Dramatisches (während des Faschismus gibt es Verrat, Terror, Erschießungen), aber das wirklich Aufregende dieser fünf Geschichten liegt nicht in der Handlung, sondern in der Erzählweise. Es ist die Stadt selbst, die hier spricht, eine Stimme, die gleichzeitig als Autorität auftritt und doch das Leben des Einzelnen nicht erfassen kann. Ausgangspunkt ist wie beim Klatsch immer das, was man voneinander weiß, und das ist eine Menge, wenn es sich etwa um einen so geachteten Mitbürger handelt wie den jüdischen Arzt Elia Corcos. Aber dann muss man sich doch sehr wundern, weil er die schlichte, katholische, nicht einmal besonders hübsche Gemma Brondi heiratet. Wie mag ein so ungleiches Paar miteinander leben? Elia reist als Leibarzt der Herzogin von Costabili durch Europa, Gemmas Brüder kommen derweil und verrichten die groben Arbeiten, hacken Holz und wollen nicht einmal das schöne Haus betreten, da »ihre genagelten Schuhe gar zu laut« auf den Fliesen des Salons hallen. Und als Gemma stirbt und ihre Schwester zu dem alternden Elia zieht, um ihm den Haushalt zu führen – ja, warum hat Luisa eigentlich nie geheiratet? Nimmt Elia seine Schwägerin überhaupt wahr, sieht er, was die Nachbarn sehen? Skizzen werden aufgeblättert, Szenen leuchten, Redesplitter, Vermutungen und Urteile kommen uns zu Ohren und wir glauben ganz nah an die Personen heranzurücken, nur um sie immer wieder entgleiten zu sehen in ihren Innenraum, in den die Stadt und also auch wir nicht eindringen können. In allen Geschichten geht es um das Verhältnis der Ferraresen zu ihren jüdischen Mitbürgern. Bassani, der Jude aus wohlhabender Familie, geboren 1916, hat die Erniedrigungen der Ausgrenzung während des Faschismus am eigenen Leib, an der eigenen Seele erfahren. Die Geschichten aber handeln eher davon, wie sich die Stadt ihrer Haltung gegenüber den Ausgegrenzten versichert, wie sie Verdikte ausspricht und Sympathien verteilt. »Ich schlief«, behauptet der verkrüppelte Apotheker Pino Barilari nach dem Krieg in dem Prozess, in dem es um die Aufklärung von Erschießungen geht. Dabei wissen alle, dass er in jener Nacht, um die Heimkehr seiner jungen Frau abzupassen, im dunklen Zimmer am Fenster saß, genau gegenüber der Mauer des Kastells, wo die Partisanen erschossen wurden. Aber was geht ihn die Ermordung von Partisanen an? Schläft man da nicht wirklich besser, auch mit offenen Augen? Die Stadt beweist Verständnis. Auf der anderen Seite kommt sie auch Geo Josz, dem KZ-Überlebenden, freundlich entgegen. Einige Bürger überqueren sogar die Straße, um ihn in die Arme zu schließen. Warum also macht Geo so ein peinliches Geschrei, als er seinen Namen auf einer Gedenktafel für die Opfer des Faschismus entdeckt? Sieht er nicht, dass die Stadt ihn ehren wollte? Kann er ihr vorwerfen, dass er noch lebt? Die Stadt ist gekränkt, in ihrer Stimme schwingt Indignation. Bassanis Meisterschaft besteht darin, im Verhalten der Bürger das Ungeheuerliche sichtbar zu machen (ohne Pathos, ohne Überzeichnung) und dem Opfer alle Rätselhaftigkeit zu belassen. Fünfzig Jahre alt sind diese Geschichten, für die Bassani den Premio Strega, die höchste literarische Auszeichnung Italiens, erhielt. Nach wie vor umgibt die Figuren eine faszinierende Aura, die Zeit hat sie nicht banalisiert. Ihre Konturen verweigern sich der Schärfe, Bassani malt sfumato, und dieser Spielraum reizt den Leser auch noch nach einem halben Jahrhundert. Die Stadt erhebt ein mächtiges Geflüster, doch ihre Menschen bleiben einzeln und geheimnisvoll. Manche, wie Elia Corcos oder Geo Josz, taugen zu Lebensgefährten, lange schon, immer noch.
Gisela Trahms 01.05.2007
|
Gisela Trahms
Interview
Bericht
Prosaminiaturen
|