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Susanne Stephan

Jürgen Brôcan
Holzäpfel · Schädelflüchter

Die poetischen Feldforschungen des Jürgen Brôcan
  Kritik

Jürgen Brôcan
Holzäpfel
Edition Rugerup, Berlin 2015
159 S., € 19,90
  
Jürgen Brôcan
Schädelflüchter
Edition Voss, Horlemann Verlag
Lyrikpapyri, 96 S., € 14,90


Jürgen Brôcan ist ein renommierter Lyriker, ein gefragter und preisgekrönter Übersetzer und Neu-Übersetzer – so übertrug er für Hanser in den letzten Jahren die Grasblätter von Walt Whitman sowie Der Scharlachrote Buchstabe von Nathaniel Hawthorne –, er ist Herausgeber der Literaturzeitschrift offenes feld und neuerdings auch Verleger der edition offenes feld, aus deren Programm Bent Emil Johnsons Das Fest der Wörter / Aus dem Sumpf (aus dem Schwedischen von Lukas Dettwiler) in die Lyrikempfehlungen 2016 der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen wurde. Nächstes Jahr sollen unter anderem Gedichte des amerikanischen Dichters Spoon Jackson erscheinen, der seit langem, ohne Begnadigungshoffnung, in den USA in Haft sitzt.

Umso erstaunlicher, dass Brôcan im vergangenen Jahr, neben der Arbeit an einer dreibändigen Übersetzung der Journals von Ralph Waldo Emerson, gleich zwei neue Gedichtbände veröffentlicht hat: die umfangreiche Sammlung Holzäpfel in der Edition Rugerup und den schmaleren Langzyklus Schädelflüchter in der Edition Voss.

In beiden zeigt er auf virtuose Weise, wie sich eigene Beobachtung, Erfahrung und Erinnerung mit poetologischer Reflexion und einem geradezu enzyklopädischen literarischen Wissen in Gedichten verbinden können. Brôcan weiß sehr gut, dass man sich schreibend immer in „Kontexten“ bewegt, aber allein die eigene Sicht und Haltung zählt, eine Neubelebung oder – im Sinne des frühromantischen Poesiebegriffs – Weiterdichtung des Gelesenen durch eine Verbindung mit der Welt. Gemäß W. C. Williams Diktum „Gedanken sind nur in Dingen“ postuliert der Schädelflüchter: „dinge sind mein herzschrittmacher, / dinge sind mein starterkabel.“ Und einige Seiten weiter heißt es:

falls die wörter nicht nur gegen die schädel
decke prallen, falls sie sich beziehen
auf etwas, anker werfen in etwas
außerhalb, falls es das ist,
was wir von wörtern verlangen,
dann ist ein gedicht ein weg
wie ein weg ein gedicht sein kann …

Auf solche Wege, poetische Erkundungen, nehmen einen die beiden Bände mit: weit ausgreifend, mit einer Fülle an Motiven und Erinnerungsbildern, mit Verweisen auf Gerard Manley Hopkins und Alfred Hitchcock, Joseph Roth, John Ruskin und Sappho, die Holzäpfel; rhapsodisch mit einer (fast) Einheit der Zeit und des Ortes (der Vorfrühling in den Randzonen von Dortmund), der Schädelflüchter. Der Titel erinnert hier – wie auch die durchgehende Kleinschreibung und die Metaphorik aus dem Bereich der Anatomie – an die „rheinische“ Dichterschule in der Nachfolge von Thomas Kling. Für Jürgen Brôcan eine Spielweise, die er erprobt und vor der er wiederum – wie die oben zitierten Zeilen beschreiben – ins Freie, auf „offenes Feld“ flüchtet, womit auch das Programm seiner Literaturzeitschrift wie seines kleinen Verlages auf den Begriff gebracht ist.

Der Band Holzäpfel ist raffiniert komponiert: Er umfasst sieben Abteilungen, die erste und die letzte tragen den Titel „O“ wie Omega oder wie eine Anrufung, die eine elementare, uralte Funktion der Lyrik ist. So hielt Horaz – nach Heinz Schlaffer in Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik – nicht nur die Götterwelt, sondern auch einen alten Weinkrug einer exklamatorischen Anrede würdig. Jeweils drei Kapitel sind „22 Trümpfe“ überschrieben nach dem großen Arkana des Tarot-Blatts, was subtile Obertöne ins Spiel bringt: Ein Gedicht über Eadweard Muybridge entspricht dem „Herrscher“, ein Schubert-Gedicht dem „Tod“, ein Hölderlin-Gedicht dem „Turm“. Zwei weitere Kapitel tragen die Titel „Große Ferien“ und „Poetiken“ und markieren damit die beiden Pole von unreflektiertem Glück, unvermittelter Erfahrung und sekundärem Wissen, theoretischer Befragung, in deren Spannungsfeld sich ein Lyriker heute bewegt.

Die erste „O“-Abteilung versammelt Urszenen des künstlerischen Erlebens der Welt, die bleibenden Eindrücke eines Tapetenmusters oder eines Gemäldes im elterlichen Wohnzimmer: ein Seebild, dem der Autor ein kunstvoll gereimtes fünfstrophiges Gedicht widmet. Poetisches, magisch aufgeladenes Gebiet sind für ihn – ähnlich wie für Esther Kinsky – die Brachflächen, die Ränder des bebauten, bewirtschafteten Landes, die zweite Natur des verlassenen Kulturlands, das Nicht-mehr-Gebrauchte, das zur Spur wird. Eine unberührte Natur gibt es hier so wenig wie eine Naivität des Schreibens; aber die titelgebenden „Holzäpfel“ – die kleinen, herben Uräpfel, aus denen auch die heute wieder geschätzten alten Apfelsorten erst gezüchtet werden mussten – verweisen auf eine Geschichte der Natur wie der Lebenswelt und auf das „Rohe“ als wesentliches künstlerisches Ingrediens.

Wie der japanische Wanderdichter Saigy?, dem ein Gedicht in Holzäpfel gewidmet ist, bewegt sich hier einer übers Land; in Schädelflüchter taucht ein weiterer Ahnherr, ein Schüler Saigy?s, aus dem Dunst am Ufer der Emscher auf:

jeden moment könnte bash?
aus dem nebel kommen,
in seiner hand das licht der laterne
wie eine riesige pflaumenblüte

Zu Fuß oder auf dem Rad umherstreifend geht der „reliktfahrer“ den ihn affizierenden Spuren nach und öffnet auch einen historischen Tiefenraum, so zu den Weltkriegskämpfen in den Ardennen, wo sich heute die Bäume „in blaue amnesie“ recken, und zum Anfang des Bergbaus im Ruhrgebiet:

wenn es auf dem schlangenweg hinabgeht zur ruhr, wo windung und schlaufe über den waldboden kriechen, dem steil hang bedrohlich nahe, wo der erste
kohlegräber im 16. jahrhundert,
richter matthias becker am syberg;
das gebiet anschwärzte für generationen.

Ferne Länder bereist Brôcan in Holzäpfel als Lesender, über Reiseberichte aus Südamerika und Australien; ebenso spannend ist für ihn jedoch, was direkt vor der Haustür, liegt, „unbekanntes Territorium“, dem die alleinige Aufmerksamkeit in Schädelflüchter gilt:

froh, in diesen breiten zu wohnen,
durch wörter fest im boden verankert,
wenn ein tief sturm
aus dem rachen spuckt,

höre ich gegen morgen die schlagzeug
truppe schlecht verzurrter
gegenstände übers land wandern.

Eine ähnliche „Schlagzeugtruppe“ ist ein in beiden Gedichtbänden zwischen den Zeilen vernehmbarer Baulärm aus der Wohnung nebenan, gegen die der Schreibende sich in Schädelflüchter mit folgendem mayröckelnden Wortzauber, rechtsbündig gegen die Wand, zu wehren versucht:

1 krach : 1 mord
am gedanken, hier am lärmort, lärm
hort, wo wände welten trennen

Gern würde der Dichter die Aufmerksamkeit der besessen handwerkelnden Nachbarn auf die filigranen Konstruktionen eines Gedichts lenken; in Holzäpfel heißt es, der Tarot-Karte „Der Narr“ zugeordnet:

In meiner Nachbarschaft

haben viele enorme Lust an Konstruktionen,
sie sehen sofort, wenn etwas undicht ist
oder klappert, doch keiner liest
Gedicht, die genauso funktionieren.

Sie programmieren Computer,
stellen die verstiegensten Berechnungen an
und bekommen ihre Steuererklärung in den Griff,
aber Gedichte finden sie unverständlich.

Woher dieser Haß auf die Namen:
Schaumkraut, Wegericht, Sonnengünsel,
und warum tauscht man die gesprenkelte Wiese
gegen penibel geschorenen Rasen?

Der Haus ist kein Gebärmutterersatz,
Milliarden von Nägeln & Dübeln
kreischen zum Freizeitspaß,
doch werden die Wände nicht ewig halten.

Kein Geräusch machen die Schritte
des schweren Mannes,
wie Schatten von Vögeln
über den unzerknickten Gräsern,

Bewohner des Silbenhauchs.

Dieser „Bewohner des Silbenhauchs“ kann, wird ihm denn gelauscht, den Sinn für die Fragilität der Welt, auch der solide verdübelten eigenen vier Wände, wecken, für die schöne Wortkomposition, für die Namen der Blumen wie für die Blumen selbst, für die „Ver- / wilderungszone mit „blühenden Gräsern“ – und mit einer durch das Übersetzen geschärften Sensibilität auch die Freude, die „worte umzudrehen / wie ein seltenes gestein aus dem inneren.“ Die Zerlegung von Wörter ist bei Brôcan kein modisches Verfahren, sondern sorgt für überraschendes neues Hinsehen/Hinhören. Ein Lob der mitteleuropäischen „vierfaltigen“ Jahreszeiten klingt bei ihm so:

zur vierheit
bekenne
ich mich gerne,

sommerfaltig, herbstfaltig,
wesensgleich mit ihrem
auftritt im vorjahr,

nicht getrennt
in tisch und
beet,

elementar meinen gliedern, bis sie wieder zerfallen
für und in erde, in spring
endes feuer.

Da sieht man die Herbstfeuer in den Gärten, in denen früher das Laub verbrannt wurde, aber assoziiert auch das englische „spring“ für Frühling – und einiges „springt“ in diesen Zeilen über auf den Leser. „Spring / endes feuer“ ist eine spannungsreiche, so-noch-nicht-gelesene, Alpha und Omega vereinigende Fügung wie an anderer Stelle in Schädelflüchter die Zeile: „das wort macht leb / endig.“ Der Schädel auf der Magdalena-Darstellung von Georges de la Tour beginnt bei Brôcan „von innen zu glühen“.

Man muss sich, vor allem beim Band Holzäpfel, in diese Gedichte auch einlesen – wenn man nicht die Gelegenheit hat, sie laut gelesen zu hören –, aber bald nehmen sie den Leser nicht nur mit auf einen Weg, wie ihn das anfangs zitierte Gedicht entwirft, sondern versetzen die Gedanken in Schwingung: an scheinbar schweren Ketten, mit „Schwung aus eigenem Anstoß, / unter Ausnutzung von Fliehkräften“, so das Gedicht „Die Schaukel“ (Tarot-Karte „Der Magier“). Fliehkräfte, die in jedem gelungenen poetischen Text in den Worten selbst liegen, in ihrem Changieren zwischen den Bedeutungsebenen.

Im Gedicht „Stadtbummel“ kann man beim „Gedanke(n) an hohe Fenster das gleichnamige Gedicht von Philip Larkin assoziieren – oder in den Anmerkungen finden? und hat sofort eine wesentliche Dimension des Textes erfasst, die aber auch von den ersten Zeilen eröffnet wird: „Das Stromwerk mit aufgerissenem Mund / wie in der Nacktheit der Liebe …“

Selbst ein so genau arbeitender Lyriker und Übersetzer wie Jürgen Brôcan erkennt an, dass Gedichte oft auf unsicheres Terrain führen, und so preist eines der letzten Gedichte in Holzäpfel, das den Titel „Anläßlich eines zu spät entdeckten Druckfehlers“ trägt, die kleinen Unregelmäßigkeiten der Natur, die Kräfte der „natura naturans“. Man darf die Sprache machen lassen, wie Brôcan im Gedicht „Durch Hölderlinblätter ein Stoßwind“ vorführt, einer ingeniösen Montage aus Varianten in Hölderlin-Handschriften: „aber: was / geschieht, sei alles willkommen!“

Und der abschließende „O“-Zyklus mündet in eine seiner gleichfalls polyglotten Verlegerin Margitt Lehbert gewidmete Anrufung des „Jetzt / The Present“, das von der eilenden Zeit wie von Gedichten auf ihre Weise „vers- / ehrt“ wird.
Susanne Stephan   2016    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht

 

 
Susanne Stephan
Lyrik