poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 
Susanne Stephan

Verse, verborgen

Zum 95. Geburtstag von Ilse Aichinger
  Ilse Aichinger    * 1. November 1921
     


Verschwinden, Verstummen, Sich-Verlieren: Ilse Aichinger konnte es nicht schrecken, es sind Konstanten in ihrem Denken und Schreiben. Das Verschwinden, die „Verborgenheit“, sei ein sehr früher Wunsch von ihr gewesen, schreibt sie im Jahr 2000, fast achtzigjährig, in einer der Beiträge für ihre Zeitungskolumne „Journal des Verschwindens“, das in den Band Film und Verhängnis (2001) eingegangen ist. Auch das Kino ermöglichte ihr ein kurzes Verschwinden aus der Tageswelt und lieferte Stichworte für ihre Erzählung des „Verhängnisses“: der Familiengeschichte, der Geschichte des 20. Jahrhunderts. „Mich hat schon als Kind das Verschwinden interessiert“, erklärt sie in einem Gespräch von 1982, „einfach, dass etwas verschwinden kann. Das ging so weit, dass ich mir ein Buch kaufte – „Die Geschichte der Vorsilbe ‚ver'“, weil es eine „Verschwinden-Silbe“ ist.“ Das Verlieren einer Sache, so Ilse Aichinger in einem weiteren Interview in Es muss gar nichts bleiben, ihrer letzten Veröffentlichung, bedeute ja auch, dass man es eventuell wiederfinden und anders betrachten könne.

Das Verstummen als Schriftstellerin war für sie, die jahrzehntelang keine Ver-Öffentlichungen anstrebte, keine Absage ans Schreiben, das Schweigen keine Attitüde, die dann bei passender Gelegenheit wortreich selbst-kommentiert worden wäre, sondern eine Phase, in der, wie sie einmal erklärt hat, die eigene Sprache sich im Verhältnis zur Gegenwart neu finde und das Bewusstsein vom Unterbewusstsein bearbeitet werde. Phasen, die sie geduldig hinnahm, ohne sich ein Buch „abringen“ zu wollen, während ihre Werke – der Roman „Die größere Hoffnung“ aus dem Jahr 1948, die Gedichte, Erzählungen, Hörspiele – sie längst zu einer herausragenden Figur der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur gemacht hatten.

Am 1. November feiert sie, wie auch ihre Zwillingsschwester Helga Michie, die in London lebt, ihren 95. Geburtstag. 1921 werden sie in Wien geboren; ihre aus einer jüdischen Familie stammende Mutter ist Ärztin, der Vater Lehrer und Bibliomane, der für Bücher immer neue Schulden aufnimmt. Die Mutter lässt sich scheiden, die Kinder wachsen zum guten Teil bei der Großmutter auf, der, das hat Ilse Aichinger immer wieder betont, wichtigsten Person in ihrem Leben. Einmal werden die eineiigen Zwillinge vom ehrgeizigen Mediziner Josef Mengele untersucht. Beim „Anschluss“ verliert die Mutter ihre Stelle; die Tochter Helga kann noch mit einem Kindertransport der Quäker nach England emigrieren. Sie findet dort Anschluss an deutsche Exilkreise, ist als bildende Künstlerin und Schauspielerin tätig und hat einen kleinen Auftritt im „Dritten Mann“. Ilse bleibt bei der Mutter, die nur durch sie, das „Mischlingskind“, vor der Deportation geschützt ist. Sie überstehen das Dritte Reich in einer kleinen Wohnung in direkter Nachbarschaft des Gestapo-Hauptquartiers. Die Großmutter und die jüngeren Geschwister der Mutter jedoch werden 1942 nach Minsk deportiert und ermordet. Als die offenen Lastwagen die Schwedenbrücke passieren, kann Ilse Aichinger die Großmutter noch an ihrem Kopftuch erkennen, während sich um sie herum die Schaulustigen versammeln: In Wien werden, wie sie immer wieder erzählt, die jüdischen Bürger bei Tag deportiert, nicht wie in anderen Städten möglichst unauffällig in der Nacht. Man feiert den „Anschluss“, bereichert sich am Besitz der emigrierten oder deportierten Nachbarn, meidet die „jüdisch Versippten“ und will nach dem Krieg von nichts mehr wissen. Nicht nur, dass man den Überlebenden ihre Wohnung nicht zurückgibt: Man erteilt ihnen auf dem Amt kaltschnäuzig den Rat, in der „Hängematte“ zu übernachten.

Mit diesen Erlebnissen – der Deportation von Verwandten, der eigenen Ausgrenzung – bekommt die Welt für Ilse Aichinger einen Sprung. Wird ihr Vertrauen auch in die Sprache erschüttert; weder in der Gesellschaft noch in der Natur gibt es für sie fortan eine „gute Ordnung“, „allgemeingültige“ Zusammenhänge. Eine lapidare Formel fürs schwierige Weiterleben nach dem Krieg kann man vielleicht dem Gedicht „Abgezählt“ entnehmen: „der Tag, an dem / die beiden Kälber / zum Schlachten getrieben wurden, …/ der Tag, an dem / in der Fleischerzeitung stand, / das Leben geht weiter, / der Tag, an dem es weiterging.“

Aber: Die Literatur hat es schon eher gewusst. Man finde alles, so Ilse Aichinger in einem Gespräch von 2013: die Bedingungen der Existenz, das Gewicht der politischen Macht, bereits bei Kafka beschrieben, den sie kaum ertrage, weil er so erbarmungslos sei – als lese sie ihr „Todesurteil“. Vielleicht kann man ihre Kurzprosa und auch Gedichte mit Kafkas frühen Betrachtungen in Verbindung bringen, so mit dem kleinen Text „Die Bäume“: „Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.“

– –

Nachdem sie länger am Chiemsee, in Salzburg und in Frankfurt am Main gelebt hatte, und nachdem 1972 ihr Mann Günter Eich und einige Jahre später ihre Mutter gestorben waren, kehrte Ilse Aichinger im Jahr 1988 nach Wien zurück. Hier findet sie mit Arbeiten für Zeitungen zu einer neuen Ausdrucksweise, zu einem neuen Blick auf die Kindheitsorte – Straßen und Häuser –, die ihr bereits in den fünfziger Jahren Anlass zu kleinen Prosastücken (Zu keiner Stunde) gewesen waren. Einige werden erst fünfzig Jahre später in dem Band Kurzschlüsse veröffentlicht. Auf Film und Verhängnis folgen die Unglaubwürdigen Reisen (2005), die im Kaffeehaus, wo sie ein häufiger, scheuer, scharf beobachtender Gast ist, auf Speisekarten oder Programmzettel notiert werden: Gedankenreisen ausgelöst durch Reiseberichte anderer oder durch das eigene Flanieren auf tausendfach gegangenen Wegen. Und die Subtexte von 2006, wieder aus einer Zeitungskolumne hervorgegangen, vergnügt, wie sie selbst zugibt, für den Moment geschrieben – als habe sie hier eine Leichtigkeit gefunden, die ihr in den fünfziger Jahren nicht möglich war, als könne ihr die Welt nun nichts mehr anhaben.

Es sind Skizzen, Arabesken, die mit einem Wort, einer Wendung einen Tiefenraum aufreißen. Das Ephemere leuchtet unvermittelt als starker Spot in die Vergangenheit. Bei aller Offenheit fürs Alltägliche und Neue studiert sie ihre Umgebung aus einer inneren Entfernung. „Ich möchte mich zuerst an jetzt erinnern“, erklärt sie in einem Interview aus dem Jahr 2001. „Ich muss mir zuerst klar werden, dass ich jetzt da bin. Erst in der Erinnerung an die Gegenwart gibt es die an die Vergangenheit.“

Genaue Beobachtung der Gegenwart verbunden mit einer inneren Distanz – dies hat vor kurzem Jenny Erpenbeck in ihrer Rede zum Thomas Mann-Preis beim gefeierten Großautor der zwanziger Jahre und deutlichen Mahner vor dem Nationalsozialismus konstatiert: Sein „Humor und die Erbarmungslosigkeit seiner Porträts wären undenkbar, wenn er nicht schon lange, bevor er 1933 aus ihr ausgestoßen wurde, aus ungeheuer großer Entfernung auf seine eigene Gesellschaft geblickt hätte. Er weiß sozusagen von Berufs wegen, was es heißt, ‚draußen' zu sein.“

Im Krieg gab es laut Ilse Aichinger eine Hoffnung, die „größere Hoffnung“ am Horizont. Dies nicht nur als Titel des frühen, noch heute in seinem Ton und seiner poetischen Zuspitzung des Absurden sehr beeindruckenden Romans über Kinder mit den „falschen Großeltern“ in Wien während der Kriegszeit. Es gab eine Utopie und auch „Glück“ – dies betont sie gerne in den Interviews, als kleiner Stich in die Betroffenheitsblase –, da während des Krieges alles so „deutlich“ gewesen sei. Spätere Jahrzehnte wie die Achziger hält sie für „unscharf“.

Die Utopien, die auch in der Nachkriegszeit noch klare Konturen hatten, wurden ihrer Ansicht nach in Deutschland und Österreich immer nebelhafter. Hier scheut Ilse Aichinger nicht das abgenutzte Wort „Traum“, um an diese „größeren Hoffnungen“ zu erinnern. In einem Interview aus dem Jahr 1980 rät sie Jugendlichen: „Die kleinen Träume vergessen, damit die großen nicht vergessen werden.“ Aus Frankfurt will sie später, als die Tätigkeit für den S. Fischer Verlag beendet ist, nur weg: fort von den Banken, der Börse, vom dort allgegenwärtigen Konsum, wieder mehr „nach Osten“, nach Wien. Wo auch der Ursprung ihres eigenen Schreibimpulses liegt.

Die Literatur kann helfen, die „Träume“ zumindest als Idee wieder erkennbar zu machen – Schreiben heißt für sie: die Deutlichkeit vorantreiben, „das Urteil annehmen“, letztlich „sterben lernen“: „Wenn ich mir heute die jungen Leute oder die Kinder ansehe, dann frage ich mich immer: Wie würdest du es fertigbringen, ein Todesurteil zu empfangen, gleichgültig, ob von politischen Mächten oder von Ärzten? Wie willst du es fertigbringen, auch alt zu werden?“

Was ja auch bedeutet: sich selbst aus der Distanz, „geschichtlich“ sehen lernen. In einem Gespräch mit Iris Radisch aus dem Jahr 1996 erklärt Ilse Aichinger das Glück der Friedens-Wohlstandsgesellschaft als das Unglück der Unentschiedenheit: „Heute muss man sich zunächst einmal klarmachen, was es für eine Katastrophe ist, ohne Katastrophe zu leben. Dass das Leben, das ich an sich für eine Katastrophe halte, nicht deutlich wird… Die Undeutlichkeit klarzumachen, dazu muss man sehr viel genialer sein, als Zustände eines Weltkrieges klar und deutlich zu machen.“

– –

Gedichte sind für sie durchaus eine „Mitteilung“, aber keine, die ein „Rezept für die Wahrheit“ bietet, eher einen Weg zu einer wie auch immer sich zeigenden Wahrheit öffnen kann. Dafür muss sich die eigene Sprache vom ständigen Verschleiss in der Alltagsrede entfernen. Die Sprache „kann nicht mitteilen“, so Ilse Aichinger in einem Interview von 1975, „wenn sie stumm geworden ist, und sie wird ununterbrochen stumm, weil, was sich ereignet, immer vergeht. Und da sich die Sprache ununterbrochen ereignet, viel mehr als die Musik, als die Malerei, als Mitteilung ereignet, als Werkzeug des täglichen Lebens, vergeht sie viel rascher.“

Ihre Gedichte – die ich für zugänglicher halte als manche ihrer Kurzprosa – sind als Mitteilung ein „verschenkter Rat“: nicht allzu ver-schlüsselt und -verschnürt in Umlauf gesetzt, aber als praktischer Rat nicht zu gebrauchen. Ein Höchstmaß an „Mitteilung“ bedeutet für mich in ihren Gedichten: Bilder, nicht ganz auszudeuten, für die grundlegende Absurdität des Daseins, Transparenz des Rätsels.

„Hör gut hin, Kleiner, / es gibt Weißblech, sagen sie, / es gibt die Welt, / prüfe, ob sie nicht lügen.“ Diese Verse aus dem titelgebenden Gedicht „Verschenkter Rat“ erinnern an Hans Magnus Enzensbergers berühmte Zeilen: „Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne: / sie sind genauer“. Bei Ilse Aichinger wären auch die „Fahrpläne“ eine unsichere Angelegenheit, wenn nicht überhaupt ganz andere Beiklänge ins Spiel kämen. So bekannt Enzensbergers Gedicht „Ins Lesebuch für die Oberstufe“ geworden ist, zumindest der Anfang davon (im Fortgang wird es etwas tremolo-pathetisch): Er selbst hat es nicht in den Auswahlband Gedichte 1950-2010 aufgenommen. Aber eine solche Zeile, die den Nerv der Zeit trifft, einen „Lyrikhammer“ dieser Art (Robert Gernhardt), muss man erst einmal finden! Wie Ingeborg Bachmanns Wendung „Der Krieg wird nicht mehr erklärt, / sondern fortgesetzt“, in der die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Punkt gebracht ist.

Auch von Günter Eich haben sich Verse ins Lyrikgedächtnis der Nachkriegsgeneration eingegraben: „Seid unbequem, / seid Sand, /nicht das Öl / im Getriebe der Welt“, die allerdings den Schluss des Hörspiels „Träume“ bilden, das mit seinen alptraumartigen Szenen bei Erstsendung empörte Zuhörerreaktionen auslöste. Abgründig auch sein Gedicht „Abschließend“:

Und laß Lena vergessen sein,
ein Mädchen, das
Spiritus aus der Lampe trank.


Und laß den Wind wehen,
weil er sonst nichts kann,
und gönne Lena

noch einen Schluck aus der Lampe
und laß den Schnee
durch die Türritzen kommen.

Von Ilse Aichinger gibt es keine Zeilen, die „man“ zitier-bereit hätte, ihre Gedichte sind, auch sprachlich, „zeitlos“ – was ich nicht per se für eine Qualität halte (denn darüber entscheiden die „Nachgeborenen“) –, man muss auch ihre Biographie nicht kennen, um von ihnen angesprochen zu sein, aber: Beim Wiederlesen stellt sich immer wieder das Staunen darüber ein, wie viel in diesen oft nur fünf bis sieben Versen verborgen ist.

– –

Vielleicht sind es Träume wie aus Eichs Hörspiel, die Ilse Aichingers Gedicht „Gebirgsrand“ meint? Das Wort „Traum“ – das ihr wie „Schweigen“ eigentlich als „bedrohliches Klischee“ erscheint und auch ein heikler Selbstkommentar wäre – kommt in ihren Texten kaum vor, jedoch in diesem Gedicht aus dem Jahr 1959, das die Sammlung Verschenkter Rat eröffnet:

Gebirgsrand

Denn was täte ich,
wenn die Jäger nicht wären,
meine Träume,
die am Morgen
auf der Rückseite der Gebirge
niedersteigen, im Schatten.


Was spielte sich in der Gebirgshöhe ab, was bringen die Jäger von dort, von der Nachtseite der Geschichte, und legen es der Dichterin vor die Tür?

Auch beim schwedischen Lyriker (und Nobelpreisträger von 2011) Tomas Tranströmer steht am Anfang des Auswahlbandes bei Hanser, am Anfang seines ersten Gedichtbandes 17 Gedichte, eine Traumzeile, die berühmt geworden ist:

Präludium

Das Erwachen ist ein Fallschirmsprung aus dem Traum.
Frei vom erstickenden Wirbel, sinkt
der Reisende der grünen Zone des Morgens entgegen.
Die Dinge flammen auf. (…)

Leben, so Ilse Aichinger, ist ein „Auftauchen“ im Gegensatz zum Sterben als einem irgendwann endgültigen „Verschwinden“. Aichinger und Tranströmer sind sich auch darin ähnlich, dass sie ein eher schmales, dafür dichtes, konzentriertes Werk veröffentlicht haben, in dem jedes Wort genau abgewogen ist, alles Überflüssige gestrichen, ohne dass dies auf Kosten der Bildkräftigkeit, der Anschaulichkeit geht. Spannend ist es, bei Aichinger den Worten mit -ver zu folgen, welche Nuancen sie entfalten, welche Funktion sie in der Komposition der Gedichte erhalten. Die „ver“-Silben scheinen aneinander zu schlagen wie Glocken, gehören aber in ihr je eigenes Spiel.

So in dem Gedicht „Märzwunsch an den Garten“ aus dem Jahr 1977:

Bleib ein Panther,
Schwärzling,
gefleckt und hungrig
auf Osterdienstage,
Regenstränge,
Rosenkranzgesetze,
auch auf solche,
die nachlassen,
auf die verworfenen Gewinne
aus Kinderlotterien,
den Inhalt
süßer, inhaltsloser Episteln,
bleib so,
naß und zornig,
wie du jetzt bist,
bereit,
von den ersten Kätzchen
bis zum Wetzstein
und zur langen Grenze
alle
und alle mit allen Unterschieden
zu verschlingen,
bleib so,
bleib hungrig
auf uns.


Da gibt es die „verworfenen Gewinne / aus Kinderlotterien“, die mit den Lotterien gleichgesetzten katholischen Zeremonien, die der Garten ver-schlingen soll, wie alles, was ver-geht, was in aller Pracht im Laufe des Kirchen- wie Gartenjahres im Rachen von etwas Größerem ver-schwindet. Der Garten soll ein Panther sein, kein zahmes Hündchen, und wir seine Beute mit einer großen Lust am Verschlungenwerden.

– –

Auch in dem Gedicht „Heu“ von 1988, dem Jahr der Rückkehr nach Wien, tauchen zwei ver-Wörter in Bezug zur Kindheit auf, ein „Verbrennen“ und sich „Verlieren“ in den Scheunen, das – mit einer für Ilse Aichinger bezeichnenden irritierenden Wendung – „leicht“ sei.

Heu


Heu,
Heu in den Kinderscheuern,
wo zu verbrennen
oder sich für immer zu verlieren
gleich leicht ist.
Gebündeltes Heu,
Heu auf den Feldern,
Heu als die bei der tödlichen Vielfalt
der Möglichkeiten gerade so
zueinander gegebenen Buchstaben,
diese Richtung,
aber keine andere.
Heu, das im Wind fliegt,
auf den dürren Stoppeln bleibt,
für immer von den anderen getrennt,
das den Schnee erwartet,
der ihm den Himmel nehmen wird,
sein unbewegtes, mattes Ebenbild.
Die Gewißheit, daß es keinen Trost gibt,
aber den Jubel,
Heu, Schnee und Ende.


„Heu“ steht hier gleich im Titel, als sei kein anderer möglich, eine dreifache Anrufung dessen, was nach dem Blühen und Wuchern übriggeblieben, was ver-welkt, ver-gangen ist (nachdem, um den „Märzwunsch an den Garten“ wieder aufzunehmen, der „Panther“ gewütet hat). Drei Buchstaben, die der Zufall zusammengeweht hat, die aber in Kombination mit einem zweiten Lieblingswort Ilse Aichingers, dem „Schnee“, gerade so viel Sprachmagie entwickeln, um die Härte des letzten Verses abzumildern.

Beides Wörter, die sie immer wieder besonders herausstellt, so im Prosastück „Schnee“ von 1975 (in: Kleist, Moos, Fasane): „Schnee ist ein Wort und Heu ist auch eins. Schnee ist ein Wort. Es gibt nicht viele Wörter. Es gibt nicht viele, die nicht bezeichnen, womit sie eins sind, weil sie es nicht bezeichnen. Die nicht eins sind mit dem, was sie nicht bezeichnen, weil sie damit eins sind.“

Die blühende Wiese vergeht wie das Leben vergeht wie die Sprache vergeht, aber nicht nur die „Stoppeln“ erinnern hier an Clemens Brentanos poetologisches Gedicht „Was reif in diesen Zeilen steht“: „Und ist das Feld einst abgemäht, / Die Armut durch die Stoppeln geht, / Sucht Ähren, die geblieben…“. Für den Dichter der Spätromantik findet sich in den wenigen Ähren ein Universum: „O Stern und Blume, Geist und Kleid, / Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit!“, während Ilse Aichinger es mit dem „Jubel“ über die ver-streuten Halme, das ver-schneite Feld sein lässt.

– –

Einmal habe ich sie auf einer Lesung erlebt, im Mai 1998 bei Niedlichs Salon im Staatstheater Stuttgart. Es war eine Matinée am Sonntagvormittag; in der Woche darauf wollten wir in Urlaub fahren, und mein Mann hatte so viel zu tun, dass mir nichts anderes übrigblieb, als unsere zweieinhalbjährige Tochter mitzunehmen, wenn ich überhaupt Ilse Aichinger, deren Texte in unserem „Lesebuch für die Oberstufe“ standen, einmal lesen oder erzählen hören wollte. Die Veranstaltung war, obwohl wir weit hinten blieben und das Kind sich eine Weile still beschäftigte, für uns dann doch irgendwann beendet. Wir warteten noch im Treppenhaus auf eine Bekannte, als Ilse Aichinger herauskam und kurz bei uns stehenblieb. „Ja, es ist nicht leicht …“, meinte sie lächelnd, leise – zu sich, zu mir? Zunächst hatte ich diesen Satz tatsächlich auf mich bezogen: Es ist nicht leicht, mit Kleinkind am kulturellen Leben teilzuhaben. Aber Ilse Aichinger hatte sich, wie mir dann bald aufging, an meine Tochter gewandt. Es ist nicht leicht mit diesen Erwachsenen, die einen zu seltsamen Versammlungen schleppen! Und es ist nicht leicht, in dieses Leben hineingesetzt zu sein – oder, jetzt doch wieder für die Eltern: Kinder in die Welt zu setzen, in der man sie nicht vor Katastrophen, vor dem Tod bewahren kann. Im Februar desselben Jahres war ihr Sohn Clemens bei einem Unfall ums Leben gekommen. Als einziger Kommentar zu diesem tragischen Erlebnis findet sich in den Interviews die Bemerkung, dass ihm zumindest das Älterwerden erspart geblieben sei. Den Verlust der Kindheit hält sie für das Schlimmste im Leben. Einige Male, aber nur andeutungsweise, als scheue sie die Gefühle, den Kitsch, erwähnt sie in einem ihrer späten Texte eine wohl Mitte der Neunziger geborene Enkeltochter, Kind ihrer Tochter Mirjam; für diese Enkelin bündele sich, so heißt es an einer Stelle, „Leben, Zukunft und Glück“ in der Fähigkeit, im Stehen zu schaukeln. Gerade musste ich in den Garten hinaus, um auf unserer Schaukel, auf die sich in diesem Sommer kaum einer gesetzt hat, bei der nach zwanzig Jahren die Holzbalken morsch und wacklig geworden sind – um darauf selbst vorsichtig zu probieren, wie sich das anfühlt: aufrecht, eine Armlänge über der Erde.




Werke von Ilse Aichinger:

Verschenkter Rat. Gedichte, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1991 (erste Auflage S. Fischer Verlag 1978)

Werke in acht Bänden, Fischer Taschenbuch Verlag

Kurzschlüsse. Wien,
Edition Korrespondenzen Wien 2001

Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben, Fischer Taschenbuch 2003 (Hardcover 2001)

Der Wolf und die sieben jungen Geißlein.
Mit einem Nachwort von Simone Fässler, Edition Korrespondenzen, Wien 2004 (zuerst 1974)

Unglaubwürdige Reisen, Fischer Taschenbuch Verlag 2007 (Hardcover 2005)

Subtexte, Edition Korrespondenzen, Wien 2006

Es muss gar nichts bleiben. Interviews, herausgegeben von Simone Fässler, Edition Korrespondenzen, Wien 2011

– –

Tomas Tranströmer, Sämtliche Gedichte, Edition Akzente – Hanser, München – Wien 1997
Susanne Stephan 2016    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht

 

 
Susanne Stephan
Lyrik