|
|
Das Gedächtnis der Gedichte
Zwei englische Gedichtbände zum 1. Weltkrieg
– mit einer Abschweifung zu August Stramm und Franz Marc –
Kritik |
|
|
|
|
Carol Ann Duffy (Ed.)
1914 Poetry Remembers
Faber and Faber 2013 |
|
John Greening
To the War Poets
Carcanet 2013 |
„In Flanders fields the poppies blow / Between the crosses, row on row ...“, so beginnt eines der berühmtesten englischsprachigen Gedichte aus dem 1. Weltkrieg, das der kanadische Arzt John McCrae wohl an einem Tag, dem 3. Mai 1915, unter dem Eindruck der zweiten Flandernschlacht notiert hat. Seine Mohnblumen, Symbol des Bluts der Gefallenen, wurden zum Ursprung des „Poppy Appeals“ in Großbritannien, des alljährlich im Herbst stattfindenden Straßenverkaufs von kleinen Mohnblumen- Ansteckern zugunsten von Kriegsversehrten und Veteranen. Kaum ein Fernsehmoderator oder Politiker, der sich in den Wochen vor dem Armistice- oder Remembrance-Day am 11. November (dem Tag des Waffenstillstandes von Compiègne) nicht damit zeigt. Auf öffentlichen Plätzen Tausende von kleinen Holzkreuzen, ältere und auch sehr junge Spendensammler. Bei einem Aufenthalt in Schottland im letzten Jahr habe ich dies alles zum ersten Mal erlebt, erstaunt über die breite Erinnerungskultur, denn wann habe ich je eine Feier an deutschen Kriegerdenkmälern besucht? Auf dem Flughafen begleitet mich eine Ausstellung mit persönlichen Statements zum Gate: „Why I'm proud to wear a poppy“. Und auch wer hier nicht gleich strammsteht (Übernehmt die Fackel! heißt es bei McCrae weiter), kann mir, wie ein schottischer Bekannter, viel über den 1. Weltkrieg erzählen, den „Great War“, in dem doppelt so viele Briten starben wie im 2. Weltkrieg und manche Dörfer in Großbritannien innerhalb von Tagen, so während der Somme-Schlacht von 1916, einen Großteil ihrer männlichen Bevölkerung verloren. Ich bin beeindruckt und frage mich erst später, wie es in Deutschland war und warum ich (im großen Unterschied zum 2. Weltkrieg) so wenig darüber weiß – und welches übergreifendes Gedenken denn vorstellbar gewesen wäre in einem Land, in dem es über vierzig Jahre gedauert hat, bis ein Bundespräsident den 8. Mai 1945 öffentlich als „Tag der Befreiung“ bezeichnen konnte? Am liebsten halte ich mich an die individuellen Geschichten, an die Literatur – und bin zumindest ein wenig stolz darauf, dass aus Deutschland ein bereits im Erscheinungsjahr 1929 weltberühmter Roman über den 1. Weltkrieg kommt, „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque. Auch wenn die (diesmal ausschließlich deutschen!) Vorbereitungen zum 2. Weltkrieg mühelos darüber hinweggehen konnten.
Zum Remembrance-Day und als literarischen Auftakt zum Weltkriegs-Erinnerungsjahr veröffentlichte der Guardian im letzten November eine Beilage mit neuen Gedichten britischer und irischer Gegenwartslyriker, die sich auf Gedichte, Briefe und Tagebucheinträge aus dem 1. Weltkrieg beziehen. Herausgeberin der Beilage wie der erweiterten Buchausgabe 1914 Poetry Remembers ist Carol Ann Duffy, die aktuelle „poete laureate“, also „Hofdichterin“ des Vereinigten Königreichs. Unter den Beiträgen das vermutlich letzte Gedicht des im August 2013 verstorbenen Seamus Heaney, das Motive aus „As the team's head-brass“ von Edward Thomas aufgreift. Thomas gehört zu den sogenannten „War poets“, deren Gedichte in Großbritannien weithin bekannt, wie McCraes „In Flanders Fields“ oder auch „Anthem for the Doomed Youth“ von Wilfred Owen, das die Bezeichnung „Hymne“ bereits im Titel trägt. Thomas, McCrae und Owen starben wie viele andere War poets – Isaac Rosenberg, Rupert Brooke – auf den Schlachtfeldern oder in den Lazaretten des 1. Weltkrieges. Nicht wenige hatten sich, wie Intellektuelle und Künstler in anderen Ländern auch, begeistert freiwillig gemeldet. Sie empfanden ihre Gegenwart als „alt“ und „zu sicher“: eine Epoche des steigenden Wohlstands, der internationalen wirtschaftlichen Vernetzung, der ungehinderten passlosen Reisemöglichkeiten, der bereits ausgeprägten Moderne in der Kunst, in die jetzt ein Krieg einbrach, der zum Weltkrieg wurde, zur vielzitierten „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“.
Einer, der es wagte, im Fortgang des Krieges öffentlich seine Zweifel zu äußern, seine Kritik an den verantwortlichen Militärs, die Zehntausende Soldaten für ein paar Kilometer Geländegewinn in den Tod schickten, war der Lyriker und Offizier Siegfried Sassoon; auf seine Petition bezieht sich in 1914 Poetry Remembers der frühere „Poete laureate“ Andrew Motion. Sein Gedicht „A Moment of Reflection“ versetzt sich in den Kopf von Erzherzog Ferdinand vor seiner Ermordung in Sarajewo. Wo es von Jagdgetier wimmelt und als klarer Gedanke einzig der an verbesserte Abschussbilanzen (bei Jagden des Kaiserhauses!) hervorsticht.
Edward Thomas' „As the team's head-brass“ („Als das Kopfgeschirr des Gespanns“) – ein Gespräch mit einem Bauer über die Auswirkungen des Krieges auf die Landwirtschaft – wird gleich zweimal aufgegriffen, von Seamus Heaney und Julia Copus. Bei Seamus Heaney, der sich Thomas' ländlichem Kosmos nah fühlte, entsteht das eindringliche Bild eines Heimkehrers, der die Verstorbenen um sich versammelt („In a field“); Julia Copus öffnet eine Alltagsszene zurück zum gefallenen deutschen Urgroßvater ihres Ehemanns („Any Ordinary Morning“).
Elaine Feinstein antwortet auf Isaac Rosenbergs Gedicht „Break of Day in the Trenches“ (mit der berühmten Ratte der Schützengräben und ihrer „cosmopolitan sympathies“), Ruth Fainlight auf W.B. Yeats apokalyptische Vision „The Second Coming“. Der als unkonventionellster War poet geltende Lyriker und Komponist Ivan Gurney ist mit gleich zwei Gedichten vertreten, ausgewählt von Adam Horowitz und Simon Armitage. Horowitz bietet eine sehr elegische Replik auf Gurneys sarkastische „Ballad of the Three Spectres“, während Armitage mit „Avalon“ den freien, ungeglätteten Ton, der in Gurneys Gedicht „First Time In“ angeschlagen wird, auf seine eigene Weise fort-improvisiert. „Avalon“ ist in der Form jener Briefe an die Polizei gehalten, die Gurney während seiner Zeit in psychiatrischen Krankenhäusern verfasst hat; ungeklärt bleibt, ob seine psychischen Probleme von einer bipolaren Störung oder einer im Schützengraben zugezogenen Gasvergiftung herrührten.
Wie bei solchen Anthologie-Projekten wohl nicht zu vermeiden, gibt es einige bemühte Texte, mehr oder weniger inspirierte Umsetzungen eines Themas, aber kaum Nachgeborenen-Schützengraben-Literatur, kein „Ran-Dichten“ an die Front mangels eigener dramatischer Erlebnisse, auch kein Raunen über verrostete Weltkriegsfunde oder was man vielleicht bei deutschen Gegenwartslyrikern erwarten könnte. Man bemerkt eine große Souveränität auch im Umgang mit patriotischen Texten. Kritik an gegenwärtigen Kriegseinsätzen bzw. an der Geheimhaltungs- und Zensurpraktik kommt mit Blake Morrisons von schwarzen Balken durchzogenem Gedicht „Redacted“ ins Spiel („This poem has been redacted / In the interest of national security…“), als eine moderne Umsetzung des Spruchs: Das erste Opfer in einem Krieg ist die Wahrheit.
Immer wieder bleibt man jedoch – oder nur der deutsche Leser, der die War poets und einige berühmte Tagebuchschreiber nicht in der 6th form hatte? – bei den älteren Texten hängen, anrührend oder überraschend wie der Essay von Saki (eigentlich Hector Hugh Munro) über die „Vögel an der Westfront“: über den Zusammenhang zwischen den Mäusepopulationen in den Schützengräben und der zunehmden Zahl von Eulen in zerstörten Häusern und über die vom Granatenfeuer erstaunlich unbeirrten Buchfinken. Saki, der sich „trotz seines Alters von 43 Jahren“, liest man erstaunt auf Wikipedia freiwillig gemeldet hatte, starb im Krieg (der doch die Jungen wollte, die „doomed youth“!), mit dem angeblich letzten Satz, der unter seinem Text zitiert ist, denn gegen legendäre Sprüche, vor allem englische, kommt man einfach nicht an: „Put that bloody cigarette out!“
Die Referenztexte stammen nicht nur von englischsprachigen Autoren, sondern auch aus anderen Ländern: Guillaume Apollinaire gleich zweimal, Giuseppe Ungaretti, Anna Achmatova, Gottfried Benn, Georg Trakl. Ungaretti mit einem der berühmten kurzen Gedichten, die er bei Nachtwachen an der italienisch-österreichischen Front verfasst hat, immer mit genauer Orts- und Datumsangabe, auf die sein Leben sich damals zusammenzog.
Interessant ist, welche expliziten oder impliziten Motive bei deutschen bzw. österreichischen Dichtern aufgegriffen werden. Michael Hofmann (Übersetzer von Joseph Roth, Hans Fallada und Ernst Jünger) bezieht sich auf eine Passage in „Epilog und Lyrisches Ich“ von Gottfried Benn, in der dieser die drei Monate, der er in einem Hospital für Prostituierte in Brüssel, dicht hinter der Front, verbracht hat, die eindrücklichste und schriftstellerisch produktivste Zeit seines Lebens nennt. Hofmann kreist in seinem eigenen Gedicht vor allem um Benns „distance and froideur, an antipathy to concerted action and human history“. Roy Fisher verbindet – in eher lockerem Bezug zu Georg Trakls „Grodek“ – in seinem Gedicht „Signs and Signals“ die Erinnerung eines Vorfahren, „Lance Corporal (signals) Fisher W.“, an einen schönen toten Deutschen im Schützengraben mit dem Bild des über die Verwüstung irrlichternden Signals eines Spiegeltelegraphen.
„Alle Straßen münden in schwarze Verwesung“, so ein Vers in Trakls „Grodek“: Nach der Schlacht von Grodek in Galizien erlebte Trakl als Sanitätssleutnant das Elend der Verwundeten hinter der Front; er selbst starb kurz darauf, im November 1914, in einem Lazarett in Krakau an einer Überdosis Kokain. Georg Trakl mag mit dem frühexpressionistischen Dichter Georg Heym, der bereits 1912 beim Schlittschuhlaufen tödlich verunglückt war, als prophetischer „War poet“ gelten – oder, wie es der Lyriker John Greening in einem Interview für das kommende Stanza-Lyrik-Festival in St. Andrews ausdrückt: „Whistleblower“ des 1. Weltkrieges.
John Greening – in 1914 Poetry Remembers nicht vertreten – stellt seinem neuen Gedichtband To the War Poets vier Gedichte von Georg Heym, Georg Trakl, Ernst Stadler und August Stramm in eigenen Übersetzungen voran; seine Neuübertragung von Trakls „Im Osten“ wurde im Guardian im letzten Herbst als Gedicht der Woche diskutiert. Die deutschen Expressionisten wie die englischen War poets sind Bezugspunkte seiner eigenen Gedichte. Jede Dichtung sei doch ein Gespräch mit den Vorgängern, bemerkt er im Interview, wenn man das Wörtchen „Mond“ gebrauche, habe man sofort Coleridge, Yeats oder Larkin im Kopf. Der thematische Bogen ist in To the War Poets weit gespannt, bis zum versuchten Flüssigsprengstoff-Anschlag am Flughafen Heathrow 2006; eher narrativ oder essayistisch gestimmte Gedichte fügen sich, wie in der englischen Lyrik häufig, als Ton-Modulation ein.
Der von Greening ebenfalls übersetzte Ernst Stadler, ein Elsässer, starb Ende Oktober 1914 als Soldat der deutschen Armee, der vierte, August Stramm, ein Jahr später im September 1915 an der deutsch-russischen Front. Stramm kann man sicher als deutschen War poet ansehen (das Pendant „Kriegsdichter“ scheine ich zu meiden, wegen der unschönen Konnotation „Propaganda“?), nicht, weil auch er leider gefallen ist, sondern weil sich in seinen berühmtesten Gedichten die Erfahrung des Krieges bis in die Worte hinein abbildet („Die Steine feinden / Fenster grinst Verrat…“ so das Gedicht „Patrouille“, das es immerhin in die meisten Lesebücher für die Oberstufe geschafft hat). Als der Maler Franz Marc, der seit Kriegsbeginn in Frankreich stationiert ist, vom Tod Stramms erfährt, schreibt er nach Haus: „die Sprache war ihm nicht Form oder Gefäß, in dem Gedanken kredenzt werden wie z.B. für Rilke oder Steph. George, sondern Material, aus dem er Feuer schlug…“ Er hält August Stramm nicht für den bedeutendsten Lyriker seiner Zeit, aber für einen, der versucht habe, auf das Neue, Unerhörte zu antworten: „es geht hier wie bei den Futuristen u. manchen Kubisten: ein paar schöpferische, lebendige Klänge sind mir wertvoller als die reifsten passé-Vollkommenheiten eines George od. Rilke od. Kokoschka … Wenn aus diesem Krieg kein Dichter u. keine Musik hervorgeht, dann gibt es überhaupt keine mehr.“ Wenn die Künstler denn das Glück hatten, dem Schützengraben zu entkommen. Leider sind Franz Marcs „Briefe aus dem Feld“ zur Zeit auf dem Buchmarkt nicht greifbar; man kann darin nachvollziehen, wie sich die anfängliche Kriegsbegeisterung, ja Kriegsmystik im Grauen des Stellungskriegs verflüchtigt. Als ihn eine Postkarte mit seinem vor dem Krieg gemalten Bild „Tierschicksale“ erreicht, staunt er darüber, wie viel darin vorweggenommen scheint. Er sinniert über die neuentdeckte vierte Dimension und flüchtet so oft wie möglich zu den Pferden. Im März 1916 wird er bei einem Erkundungsritt in der Nähe von Verdun durch eine Granate getötet. (Ein surreales Erlebnis, nebenbei, das einem Bilder, Gedichte oder auch nur einzelne Verse manchmal zuspielen: In Schottland, eine zerlesene Taschenbuchausgabe von Franz Marcs Briefen im Gepäck und ohne regelmäßige Internetverbindung, schlage ich auf einer Busfahrt aus Langeweile eine der dort verteilten Gratiszeitungen auf – und stoße auf ein Bild von Franz Marc, die Studie zu den „Großen blauen Pferden“, darüber die Schlagzeile vom neu entdeckten „Milliarden-Nazi-Schatz“ in München.)
Ein besonders eindringliches Gedicht in 1914 – Poetry Remembers stammt von Helen Dunmore. In „The duration“ beschreibt sie das unentwegte Abspulen der Erinnerungen, das quälende Vergehen der Zeit für ein Ehepaar, dessen Sohn gefallen ist. Angeregt wurde sie vom Kriegstagebuch der später auch für ihre Gespenstergeschichten bekannt gewordenen Cynthia Asquith: „I am beginning to rub my eyes at the prospect of peace. I think it will require more courage than anything that has gone before… One will have to look at long vistas again, instead of short ones, and one will at last fully recognise that the dead are not only dead for the duration of the war.“
Das mit den „langen Lebensläufen“ war leider zwanzig Jahre später schon wieder in Frage gestellt, aber Literatur, um es mal in militärischer Sprache zu formulieren, führt einen steten Nadelstich-Guerillakampf gegen die große Sinnlosigkeit und das Vergessen. „Poetry remembers“: hält fest und stößt Erinnerung an.
Susanne Stephan 13.02.2014 |
|
|
|
|
|