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Susanne Stephan

Sprache ist Ich. Sprache ist Meuch

Zum 100. Todestag von August Stramm, Pionier der modernen Lyrik
  August Stramm     † 1. Sept. 1915
     


Er arbeitete als promovierter Postinspektor in Berlin und schrieb formal revo­lu­tionäre Gedichte, die den Kreis um die Avant­garde-Zeit­schrift „Der Sturm“ elektri­sier­ten. In seiner freien Zeit diente er sich zum Hauptmann der Reserve hoch und ließ sich stolz mit Pickelhaube fotografieren. Als Kompanie­führer ging er in den 1. Welt­krieg, den er in seinen Briefen von Anfang an als brutales Morden, ja geradezu als einen Mordrausch beschreibt, ohne die ideo­logischen, nationalis­tischen Recht­ferti­gungen, die man bei den meisten Zeit­genossen, auch Künst­lern, findet: „Gott sei Dank. daß ich roh bin daß ich so viel Rohheit in mir habe. physische Rohheit die ich sonst immer niederhalte, jetzt soll sie kommen, jetzt rufe ich sie, und klammere mich daran.“ Er schlug jede Möglichkeit einer wie auch immer gere­gelten „Fahnen­flucht“ aus. Am 1. September 1915 fiel August Stramm mit knapp 41 Jahren an der Ostfront bei Horodec im heutigen Weiß­russland. Zahlreiche Künstler, darunter Alfred Döblin und Franz Marc, würdigten bei der Todes­nach­richt die Origina­lität und künstlerischen Neue­rungen Stramms, der erst im Frühjahr 1914 – nach einigen Theater­stücken – als Lyriker an die Öffent­lich­keit getreten war.

Seine auf wenige Worte reduzierten, expres­siven Gedichte fanden mit großer Ver­spätung, ab den Sechziger­jahren, Eingang in Antho­logien und Lese­bücher (abge­sehen von der legen­dären Sammlung „Menschheits­dämme­rung“ aus dem Jahr 1919). Heute gelten sie als Meilen­steine der modernen Literatur und sind belieb­tes Exempel schulischer Lyrik­inter­pretation (und krea­tiver bis parodis­tischer Anver­wand­lung). So das berühmte Gedicht „Patrouil­le“:

Die Steine feinden
Fenster grinst Verrat
Äste würgen
Berge Sträucher blättern raschlig
gellen
Tod.

Oder das Gedicht „Sturmangriff“ mit den mimetischen Zeilen: „Aus allen Winkeln …/ Peitscht / Das Leben / Vor / Sich / Her / Den keuchen Tod ...“
  Mit Versen wie „Tage sargen / Welten gräbern“ („Der Schrei“) findet Stramm einen sprach­lichen Ausdruck für das Grauen des Krieges – ehrlicher und ein­drück­licher als die meisten zeit­genös­sischen Kriegs­gedichte bzw. Kriegs­jubel­gedichte wie etwa die von Richard Dehmel, für die Stramm in einem Brief von der Front nur diese Worte übrig hat: „Quatsch. Schleim Jauche.“

Stramm gilt als der Dichter des 1. Weltkriegs, aber seinen origi­nären Stil hatte er bereits vor dem Krieg gefunden: eine Kompri­mierung von visuellen Eindrücken und starker Emotion in isolierten, aus konventioneller Ordnung gerissenen Wörtern, in Wort­neu­schöpfungen. Der Maler Franz Marc erkennt sogleich dieses Neue, die Behandlung der Sprache als „Material“, wie er in einem Feldpostbrief schreibt: „die Sprache war ihm nicht Form oder Gefäß, in dem Gedanken kredenzt werden wie z.B. für Rilke oder Steph. George, sondern Material, aus dem er Feuer schlug …“. Für den öster­reichi­schen Lyriker Gerhard Rühm, der wie Ernst Jandl von Stramm stark be­ein­flusst wurde, ist er für die Dich­tung ein ähnlicher Pionier wie Arnold Schönberg in der Musik und Wassily Kandinsky in der Malerei. Arno Schmidt, selbst ein genialer Wort-Ummünzer, stellt ihn mit Rilke, Kafka und Trakl in eine Reihe zu Unrecht über­gegangener Literatur­nobel­preis­kandidaten.

Die radikale, „telegraphische“ Verknappung – Stramm war einige Zeit im Seepost­dienst zwischen Bremen und New York tätig gewesen und schrieb seine Doktorarbeit über das „Welteinheitsporto“ –, der Verzicht auf syntaktisches, ein­ordnendes, erklä­rendes Beiwerk war Stramms Antwort auf ein von ihm heftig empfundenes Un­behagen an der Kultur, an „allem, was Kunst genannt wurde“, wie er in einem Brief von der Front an seine Frau Else, eine Journa­listin und Autorin von Unterh­altungs­romanen, ausführt, als er noch einmal seine Annäherung an den „Sturm“-Kreis, die damaligen „jungen Wilden“, nach­vollzieht, zu denen er äußer­lich, als preußi­scher Beamter, gar nicht zu passen schien. Seine Gedichte, von anderen Zeit­schriften und Verlagen über Jahre abgelehnt, wurden vom Heraus­geber des „Sturm“, Herwarth Walden, enthusias­tisch begrüßt. In vielen Briefen an Walden und dessen Frau Nell geht es bis in die Kriegs­zeit hinein um die richtige Druck­fassung und die ent­schei­denden Verände­rungen, die an einem ein­zigen Buch­staben hängen. Präzise erörtert Haupt­mann Stramm, warum es „Laubwelk“ und nicht „Laubwerk“ heißen muss, und „schamzerpört“ und nicht „schamzerstört“, wie ein Setzer eigenmächtig befindet. Gerne würde Stramm eine französische Kriegs­kasse erbeuten, um sie Waldens Zeit­schrift zugute kommen zu lassen – und bittet darum, Jakob van Hoddis ein Exemplar mit den neuen Gedichten zu schicken, denn dieser habe ihn über Jahre ermutigt. Van Hoddis' Gedicht „Weltende“ wird die Antho­logie „Menschheits­dämmerung“ eröffnen: „Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut …“

Dem Bürger die Worte ausfegen: Immer wieder kehrt Stramm zur „Lügen­haftigkeit der Sprache“ zurück, die er kurzschließen will mit dem Erleben, Empfinden, einer ursprünglichen „Kraft“ – darin sicher von zeit­genös­si­scher Philosophie be­einflusst. Der Verstand sei machtlos vor dem „Palast des Un­bewussten“. Der Krieg zeigt ihm auch „Wunder“ und reißt ihn fort vom bloßen Kunstwollen, vom lächer­lichen Anspruch des Dichter-Seins zum sensiblen Regis­trieren einer neuen uner­hörten Reali­tät: „Ich dichte nicht mehr, alles ist Gedicht umher.“

„Wir müssen anders sehen!“ fordert er, wie ganz ähnlich zur gleichen Zeit, ebenfalls an der Front in Frankreich, Franz Marc. Und während Stramm seinen ersten, von Walden verlegten Lyrikband „Du,“ eine Sammlung von Liebes­gedichten, in einem Schützengraben öffnet und sein Bursche die Licht­quelle verdecken muss, um kein leichtes Ziel für den Gegner zu sein, erhält der Kriegs­frei­willige Franz Marc eine „Sturm“-Postkarte, die sein 1913 gemaltes Bild „Tierschicksale“ zeigt: „Bei ihrem Anblick war ich ganz betroffen und erregt. Es ist wie eine Vor­ahnung dieses Krieges, schauerlich und ergreifend … Es ist von einer künstle­rischen Logik, solche Bilder vor dem Kriege zu malen, nicht als dumme Reminiscenz nach dem Kriege. Da muß man konstruktive, zukünftige Bilder malen, keine Erinnerungen, wie es meist Mode ist.“ Für Franz Marc wird es wie für Stramm keinen Nachkrieg geben: Er fällt am 4. März 1916 bei Verdun.

Wie wäre Stramms Leben weiterverlaufen, wäre er in seine groß­bürgerliche Wohnung in Berlin und in seine Postbehörde zurück­gekehrt? Hätte er die Karriere­leiter hinauf bis zum Post­minister der Weimarer Republik erklommen – er, der in seinen Briefen von der Front ein mechani­siertes Menschen-Ab­schlachten schildert, aber die Rolle des Künstlers und des Bürgers / Soldaten strikt trennt? Mit seinen Gedichten hatte er Zünd­stoff gestreut: 1935 wurden sie im national­sozialis­tischen Deutsch­land verboten, kurz zuvor hatte Else Krafft-Stramm den Nachlass ihres Mannes der Uni­ver­sitäts­biblio­thek Münster übergeben. Seit Anfang September 15 sind die Dokumente digital dort einseh­bar. (Nachlass Stramm  externer Link)

Wie wäre Stramms Leben weiterverlaufen, wäre er in seine groß­bürger­liche Woh­nung in Berlin und seine Postbehörde zurückgekehrt? Nachdem sich die Fassaden der bürgerlichen Ordnung wieder vor dem Abgrund geschlossen hätten, in den er mit seiner Gene­ration geschaut hatte? Bei vielen ver­stärkten die Erin­nerungen an den Krieg nur das Gefühl der „Demüti­gung“ durch den Versailler Vertrag. Wie hätte er seine Kriegs­erleb­nisse – so das von ihm in den Briefen schonungs­los beschrie­bene mecha­nisierte Menschen­schlachten – mit Abstand lite­rarisch ver­wendet? Hätten ihn seine Werke wie Erich Maria Remarque in den Dreißiger­jahren ins Exil getrieben, oder welchem Lager hätte er zugeneigt, der so ideologie-resistent erscheint und doch die große Macht des irrationalen „Erlebens“ preist?

Die Perspektiven für das neue Jahrhundert, die Dialektik der Neuzeit fasst Stramm prägnant zusammen: Die „Kultur des 20. Jahr­hunderts“ zeige sich ihm in seinem Unterstand als angemessen komfortables Beiwerk mit „Kerze, Ofen, Sessel, Tisch“. Dies alles jedoch in einem Erdloch, auf das die Einschläge hämmern – Symbol, so Stramm, der „Ethik des 20. Jahr­hunderts“. Und die „Ästhetik“ der neuen Zeit sind für ihn: die Regen­würmer in der Wand. Nur kurz stelle ich mir dies als Thema eines Be­sinnungs­aufsatzes für nachfolgende Schüler­generationen vor: Erörtern Sie das „Ewige des Wahren, Guten, Schönen“ (Goethe) unter besonderer Berück­sichtigung der Grabenkämpfe im Großen Krieg!

Auch wann man sich als Lyriker wie ich nicht in der sprachexperimentellen Linie sieht, kann man nicht anders, als Stramms Besessen­heit, die Radi­kalität seines Anspruchs und vor allem seinen BLICK zu bewundern. Keine Pose, nur Suche nach dem für ihn „wahren“ Ausdruck. Unter dem Druck der extremen Situation haut er einen genialen Gedanken nach dem anderen heraus – seine Briefe sind für mich, eher als seine Dramen, den Gedichten an Rang unbe­dingt gleich­zu­stellen. Kohorten an Literatur­wissen­schaftlern, Lin­guisten und Sprach­philo­sophen, NEHMT DAS! Nehmt diese Zeilen zur Ich-Disso­ziation und zur Beziehung von Sprache und Subjekt in einem, wie Stramm zugibt, „betrunkenen“ Brief vom 25.2.15 aus einem zerschos­senen Dorf bei Pertain (der leider in der Reclam-Aus­gabe von Stramms Werken fehlt, nur in dem älteren, von Paul Raabe heraus­gebenen Band aus dem Arche-Verlag zu finden ist). Genauer, das heißt: weniger paradox, kann man es nicht ausdrücken: „Ich habe die Gedichte eines August Stramm gelesen. Eben! ... Sie haben mich furcht­bar er­griffen … Allein bin ich ganz allein mit meiner Flasche! Aller­dings Aller­dings! Ich habe nichts anderes. Und August Stramm ist bei mir. Dieser Lümmel, dieser Schuft, dieser Weichling dieser Sträfling. Dieser Sinn­ling. Dieser ich weiß kein Wort. Aber diese Anordnung hat er nicht gemacht. Die hat er nur erlebt. Und wer sie gesetzt hat das ist ein Ich! Ein Ich! Wo gibt es ein Ich wie das? Ich bin ein Rätsel. Wer rätselt das Rätsel… Ich fühle All! Ich fühle mich! Ich fühle Meuch. Sprache zum Teufel. Sprache ist Ich. Sprache ist Meuch. All ist All. Nicht Sinn, nicht Verstand … Empfinden! Empfinden! Welch himmli­sches Wort. Wo sind Worte für die Worte.“

„Meuch“ ist, wie ein Blick ins Grimmsche Wörterbuch lehrt, ein älterer Stamm für Komposita wie „Meuchel­mord“ – es existiert nicht als eigenes Wort, nur bei August Stramm, der intuitiv nach der stärksten Vokabel greift, denn es steckt alles drin: die Tücke der Sprache und die Ver­achtung des Dichters für sein Medium, von dem er abhängig ist wie kein anderer.

Sprache ist Himmel und Hölle, ist Bewusstsein und Lüge, ist Ausdruck einer Subjektivität und tückische Inbe­sitz­nahme durch eine Struktur. Wir erleben die Welt im Filter der Sprache, und der Dichter wehrt sich gegen die ge­wohnten Ver­festi­gungen, hat erst mal keine Worte vor der Allmacht der Worte und schreibt an seiner eigenen Rettungs­leine. Stramm ent­thront den selbst­sicheren Autor, aber sieht das Ich in GedICHt, auch wenn das Unbe­wusste diktiert. Sprache ist Ich und Meuch zugleich, wo es „Wahnnichtig / Icht!“ (Schlussvers des Gedichts „Sehnen“). Oder wie es in dem großartigen „betrunkenen“ Brief heißt: „Es löst sich kein Rätsel. Es bricht sich nur in weitere Rätsel.“




Die Lyrikerin Susanne Stephan ist mit zwei Gedichten über August Stramm in der soeben erschie­nenen Anthologie Weltpost ins Nichtall. Poeten erinnern an August Stramm ver­treten (hg. v. Hiltrud Herbst und Anton G. Leitner, Daedalus Verlag, Münster). In ihrem neuen Gedicht­band Haydns Papagei widmet sie einen Zyklus mit Titel „Tombeau“ den Künstlern im 1. Welt­krieg: so August Stramm, Franz Marc, Georg Trakl, Joseph Roth und Maurice Ravel (Klöpfer & Meyer, Tübingen).
Susanne Stephan: Gedichte zu August Stramm



Weltpost ins Nichtall
Poeten erinnern an August Stramm
Hiltrud Herbst (Hg.), Anton G. Leitner (Hg.)
208 Seiten
Verlag: Daedalus 2015
Susanne Stephan   2015   

 

 
Susanne Stephan
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