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Miron Białoszewski
Wir Seesterne
Ich kann nicht schreiben
Kritik |
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Miron Białoszewski
Wir Seesterne
Gedichte, polnisch und deutsch
120 Seiten
Reinecke & Voß 2012
Zum Verlag
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Der engagierte Leipziger Kleinverlag Reinecke & Voß legte jüngst einen zweisprachigen Sammelband mit Gedichten des in Deutschland weitgehend unbekannten Miron Białoszewski vor, in der Übersetzung von Dagmara Kraus.
Als ich las, dass Miron Białoszewski kein polnischer Gegenwartsdichter ist, dessen „jungen“ Tonfall ich zuletzt in der EDIT 57 kennenlernte, war ich nicht wenig überrascht. Und ich war regelrecht fassungslos, als ich las, dass Białoszewski a) dieser Tage seinen 90. Geburtstag feiern würde b) im sozialistischen Polen gedichtet hat c) schon tot ist. Und wieder einmal beschleicht mich das Gefühl, dass wir viel zu wenig wissen, von der Dichtung „da draußen“ außerhalb Deutschlands, was schon gemacht wurde, von dem wir keinen poetischen Schimmer haben, so sehr wir uns auch bemühen. Da sind die ambitionierten Übersetzungsvorhaben oft nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Und Miron Białoszewski ist dabei, soviel sei schon gesagt, eine sehr lohnenswerte Entdeckung.
„ ACH, GDYBY, GDYBY NAWET PIEC ZABRALI ...“ MOJA NIEWICZERPANA ODA DO RADOSCI – auf dem Buchdeckel in hellem Graublau alter Matrizendrucke prangt auf einer Manuskriptseite das Gedicht „ SELBST, ACH SELBST WENN SIE MIR DEN OFEN NÄHMEN …“ MEINE UNERSCHÖPFLICHE ODE AN DIE FREUDE, mit wackliger Schreibmaschinetype getippt und darin handschriftliche Notizen einkorrigiert.
STUDIUM DES SCHLÜSSELS
Der Schlüssel
riecht wie Nagelwasser
schmeckt nach Elektrizität
und als Frucht
ist er herb
unreif
an sich ganz und gar
Kern.
„Er ironisierte vermeintlich Bekanntes, parodierte Klischees, unterlief die Erwartungshaltung des Hörers und schaffte neue, unvermutete Bezüge. Dabei gab er aber die Tradition niemals auf (…)“, „gewann jedoch gerade durch seine konsequent skurrile Exzentrik eine innere Stimmigkeit und Geschlossenheit“. „Indem er die Form verfremdete und neue großräumige thematische Bezüge herstellte, erzeugte er außergewöhnliche Spannungsmomente und öffnet neue Horizonte“, kann man im Netz lesen – über Thelonious Monk, den Jazzmusiker. Beim Lesen von Białoszewskis Gedichten musste ich immer wieder an die Musik von Thelonious Monk denken. Es sind die raffinierten Wendungen, die eigensinnigen Brüche, die absurden Ellipsen; es ist die individualistische Umkehrung des Gewohnten und es ist das konsequente Unterlaufen des Erwarteten. Dabei hat dies alles keine ablesbare Methode. Und gerade deshalb ist es faszinierend. Weil es nie beliebig wirkt. Es geschieht vielmehr aus dem Antrieb heraus, etwas ganz Eigenes (er)fassen zu wollen: vielleicht die innere Musik nach außen zu bringen?
Diese Art, mit der Materialität von Musik umzugehen, die es im Jazz gibt, könnte man auch in den Gedichten von Miron Białoszewski wiederfinden. Es ist ja ohnehin so, dass man in Polen eine große Affinität zu den Zugangsweisen des Jazz hat, was evtl. daran liegt, dass die polnische Sprache sich in anderer Weise auf Melodien legt als die Deutsche, wo immer simplerweise der Zentralvokal ausgesungen wird, was im Polnischen viel häufiger so ohne Weiteres nicht möglich ist. So scheint es, dass so etwas wie kleine „Vorhalte“, um Konsonantengruppen und Zischlaute auch auf den Ton zu bringen, im polnischen Gesang schon irgendwie eingebaut scheint. – Und infolgedessen die kleinen Synkopen des Jazz ermöglicht?
MEINE NICHT- UND ORGANISCHE ANGST
Am Abend zerbrach ich einen Kamm.
Nachts fürchtete ich
den wachenden Hahn
und die rostige Säge,
ich fürchtete das Gefiepe meines Magens,
hielt ihn für eine unsichtbare Maus.
Miron Białoszewskis Gedichte sind Texte, die durch ihre lapidare Form extrem scharf werden, ganz als ob sie nur genau so sein können, wie sie sind. Und dennoch bringen sie winzige Details, auf die sonst niemand achtet, überlebensgroß zur Sprache – ein Loch in der Wand, ein Schlüssel bekommt riesige Aufmerksamkeit; Alltagsgegenstände werden zu Projektionsflächen psychischer Vorgänge. DIE BALLADE VOM HERUNTERGEHEN ZUM LADEN beschreibt mit groteskem Witz, wie jemand treppab, / stellt euch vor, / treppab aus seiner Wohnung in einen Laden geht, und was hörte ich? ... was hörte ich? Geraschel von Beuteln und Menschengerede. // Und wirklich, ich bin wirklich / zurückgekommen. Auch alltägliche Begebenheiten, in die der Zufall hineinkichert, werden geradezu valentinesk umgekehrt; das hat beißenden Humor. Es wirkt alles erlebt und „nicht aus snobistischem Schaum gemacht, sondern vielmehr aus redlichem Schwarzbrot“, schreibt Jan Błoński. Und Tadeusz Sobolewski: „Białoszewski beschreibt die Welt … ein bisschen wie ein Ankömmling aus dem All, der sich zum ersten Mal die Erde ansieht“.
Hier ist jemand ganz bei sich selbst und dieses Ganz-bei-sich-Sein hat eine sehr spezielle Stimmungslage. Es ist oft eine Form des melancholischen Staunens. Hier ist jemand in der „Einöde“ der eigenen Welt und aus der heraus lernt er die Welt neu kennen. Diese Welt ist Białoszewski absonderlich und fremd. Das lyrische Ich nabelt sich ab, von mir selbst / von meinem Atem. Es erfährt sie manchmal wie ein Kind und (er)findet für diese Außenwelt, die er betastet, erschmeckt und sinnlich erkundet, innere Bilder; es erfindet für sich neue Worte. Auch sprachlich passiert hier einiges.
BEMUSUNG
Muse
Inspiruse
so muß
ich dir
endungen
vor unschreibsamkeit
beinhalte
mir
die -keit
und
das -use
Man kann hier nun mit Etiketten wie experimentell und innovativ hantieren; es passen auch minimalistisch, sprachvirtuos, extrem reduziert, exzentrisch und eigensinnig, doch es ist ja zunächst einmal auch nur die Freude an der Assonanz von muzo und natchniuzo. „Da ist jeder Satz eine Aufgabe. Dieses Aufbrechen, Klittern, Neuschaffen von Sprache, dieser unglaubliche, aus allem Gesehenen, Gehörten, Gewussten, Gelesenen erschriebene Kosmos aus Worten“, lesen wir bei Esther Kinsky. Manchmal, so scheint es, ist die Außenwelt das Innen und die Innenwelt das Außen; als sei das, was ohne Umschweife darstellbar ist, die Innenwelt, dagegen die greifbare Außenwelt ein äußerst diffiziles Gebilde, das man mit Händen besser greifen kann als mit Worten.
ICH KANN NICHT SCHREIBEN
dunkel hier…
was ist vom grauen Pulli zu sagen?
– nichts als das.
draußen
ist die ausgepresste Zitrone vorüber
überall Schnee
der Baum, nur Frost und Gestaltstruktur
schwätzt nicht
rauscht nicht
wo lang geht's aus dem Wort?
Es ist verblüffend zu sehen, dass auch schon Miron Białoszewski durch Hervorhebungen eine oder mehrere Überschriften im Textkörper selbst schafft, was in Deutschland vor kurzem wie eine neuen Mode schien, z.B. beim mit SIULPET übertitelten Text, dessen Überschrift mit DER SCHNÄBI übersetzt ist. Auch bei folgendem Text ist das Verfahren ungewöhnlich:
Mein Kopf war Jude
Er fuhr mit der Tram
Nicht aussteigen, Deutsche,
nur weiterfahren, weiter,
und bloß nicht bewegen,
na gut, jetzt darf mans –
ah … mein Kissen
ah … aus dem Schlaf ge-
ES IST SCHLECHT, EINE VERGANGENHEIT ZU HABEN,
SELBST EINE FREMDE
Hier steht die Überschrift gar wie ein Fazit unter dem Text. Eine andere Überschrift reißt mittendrin ab. Und immer wieder gibt es Texte, die sich das ein oder andere Stil- und Textmittel kühn erfinden und es völlig unpompös dabei belassen. Es nicht gleich zur Ma(s)che ausreizen. Trotz dieser Formenvielfalt wirkt es nie beliebig. Und obwohl Białoszewskis Texte abstruse Splitter der Wirklichkeit sind, wirken sie in ihrer Splitterhaftigkeit ganz, oder sagen wir vollkommen. Seine Gedichte haben etwas Aufgeräumtes, d. h. sie lassen die abstruse Splitterhaftigkeit nicht einfach so stehen, wie sie ist oder versuchen gar, demonstrativ Disharmonien im Dasein aufzuzeigen – im Gegenteil, die Texte sind, und genau das fasziniert, trotz ihrer Absurdität „rund“ und beinahe harmonisch. Sie geben einem die Illusion, als müssten sie genauso sein wie sie sind: denn nur so, wie sie sind, glaubt man, sind sie glaubwürdig.
URSACHENDSCHUNGEL
Wachsen hat Gras.
Das Gras hat ne Kirche.
Die Kirche hat ne Leiter.
Die Leiter hat keine
getragenen Toten.
Tote wachsen nicht.
Białoszewskis Gedichte sind Texte, die man immer wieder lesen kann. Immer wieder entdeckt man etwas Neues darin, einen neuen Bezug, eine weitere Doppelbödigkeit, manchmal auch einen hinterlistigen Spaß. So ist man immer wieder überrascht, wenn ganz andere Ursachen als die bekannten plötzlich genannt werden: Wir vermehren uns / verstümmelt / durch Sehnsüchte oder, beinahe surreal, der leuchtende Eimer erlosch – / wie die Haut am Menschen / – sie war silbrig.
„Białoszewski begegnet dem sozialistischen Warschauer Alltag mit Neologismen, stenographischen Kürzeln und einer gehörigen Portion Ironie. Wie Francis Ponge treibt er sein objeu mit den Dingen, dem Konkreten“, steht im kurzen Vorwort. Dadurch, dass die Lyrik während des Kalten Krieges im sozialistischen Polen entstand, liest sich manches anders. Die an und für sich vollkommen unpolitischen Texte werden dadurch extrem brisant; und so bekommt die Strophe im Text Lezenia (Geliege) sehr viel Kraft: ich glaube nicht ans Michregen / bin immer zum Pflücken grün / (…) / im Bett liegend will ich gut sein / Im Schlaf wächst viel Güte / Liegen bringt die Güte zur Glut / Aber das Aufstehen verkühlt sie. Es gibt keine unpolitische Lyrik. Selbst das unpolitischste Gedicht ist auch eine Aussage über die Welt, und gerade die Verweigerung politischer Inhalte macht es umso politischer. Hier flackert in der Umkehrung etwas auf, wird zwischen den Zeilen heikel, und quasi im Negativ, im Weggelassenen, vor dem schwarzen Hintergrund wirkt das Weiße umso weißer. Was vor ca. 10 Jahren als klandestine Lyrik reüssierte und heute kaum noch im Netz als Begriff zu finden ist: Białoszewskis Gedichte könnten u.a. eine frühe Spielart davon sein.
„Miron Białoszewski (1922-1983) zählt zu den originellsten polnischen Dichtern des 20. Jahrhunderts. Zunächst als Dramatiker eines Wohnungstheaters bekannt, machte er sich mit Bänden wie Obroty rzeczy ( Die Kreise der Dinge, 1956) oder Mylne wzruszenia ( Irrige Rührungen, 1961) einen Namen als Lyriker. Auf Deutsch erschien 1994 das Prosawerk Nur das was war. Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand. Die vorliegende Gedichtauswahl gibt erstmals umfassend Einblick in sein lyrisches Schaffen.“ (Klappentext)
Wie schwierig die Übersetzung dieser Texte ist, mag aus dem Kapitel Nachdichtungen hervorgehen. Hier haben sich einige namhafte Lyriker wie Norbert Lange, Monika Rinck, Ulf Stolterfoht, Kerstin Preiwuß u. a. versucht und kommen zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen, was sowohl erstaunt wie irritiert. Kein Geringerer als Gerhard Rühm, der schon 1956 auf Białoszewski aufmerksam geworden ist, schreibt in einem aktuellen Nachwort: heutzutage, wo ich dank karl dedecius einen „panorama“-überblick über die neuere polnische literatur gewinnen konnte, halte ich miron Białoszewski noch immer für den bemerkenswertesten polnischen dichter der zweiten hälfte des 20. jahrhunderts.
Die Übersetzerin Dagmara Kraus ist 1981 in Wroclaw, Polen, geboren. Sie übersetzt Dichtungen aus dem Polnischen. Kraus studierte Komparatistik und Kunstgeschichte in Leipzig, Berlin und Paris und Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2008 gewann sie den Publikumspreis beim Lyrik-Wettbewerb „Prosanova“ und wurde 2010 mit dem GWK-Förderpreis ausgezeichnet. 2012 erscheint ihr Debüt kummerang als Lyrikerin bei kookbooks, gefördert von einem Berliner Senatsstipendium. Sie schreibt Lyrik und Kurzprosa.
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Armin Steigenberger
Lyrik
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