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Benjamin Stein
Die Leinwand

Im raffinierten Vexierspiel der Erinnerungen
Kritik
Die Leinwand von Benjamin Stein   Benjamin Stein
Die Leinwand
Verlag C. H. Beck 2010
416 Seiten, 19,95 Euro


Vorab sei gesagt: dieses Buch ist es unbedingt wert, gelesen zu werden. Wer ein Buch lesen will, das ihn tagelang in Atem hält, das ihn beschäftigt, selbst wenn er es nicht zur Hand hat und wo er sich zwischendurch immer wieder beim Rätseln ertappt, wie sich dieser extrem verzweigte Irrgarten an Handlungssträngen jemals auflösen wird – der ist bei Benjamin Steins Neuerscheinung Die Leinwand genau richtig.

Rein formal schon ist es eine kleine Sensation: Das Buch ist von zwei Seiten lesbar, hat also kein Hinten und Vorne; hinter jedem Buchdeckel entspinnt sich eine Geschichte. Ein Buch mit zwei Ich-Erzählern: Amnon Zichroni und Jan Wechsler. Zwei Protagonisten, die zunächst einmal überhaupt nichts miteinander zu tun haben. In beiden Romanteilen tauchen bald gewisse rätselhafte Details und verblüffende Parallelen auf. Binnen kurzem kommt es in beider Leben zu Komplikationen, die schließlich in immer absurdere Verwicklungen münden; das Leben beider Protagonisten gerät sehr bald aus den Fugen, das Geschehen verdichtet sich weiter und gewinnt an Fahrt. Ein Buch mit zwei separaten Lebens­beschreibungen, die zu ihrem Ende hin hart aufeinanderprallen. Ein Buch, das von Anfang an aufwartet mit immer neuen und schier unglaublichen Wendungen. Ein Buch, das garantiert nicht langweilig wird.

Beide Anfänge sind auf dem Einband in großen Lettern abgedruckt, was die Frage, womit man beginnen soll, umso spannender macht. So lässt sich also schon einmal ein Blick wagen und mit dem Part beginnen, der einem spontan mehr liegt. Der Romananfang (Jan Wechsler) kann auch, von Autor Benjamin Stein selbst gelesen, im Video angesehen werden: turmsegler.net.

Jan Wechsler, geboren in Ost-Berlin und wohnhaft in München, bekommt einen Pilotenkoffer zugestellt, der ihm angeblich bei einer Israelreise verloren­ging. Der Koffer gehört ihm nicht, das Namens­schild daran aber trägt seinen Namen und ist hand­schriftlich von ihm selbst ausgefüllt … Neben rätsel­haften Objekten wie weißen Baumwoll­handschuhen und einem großen Demantoiden – einem smaragd­grünen Halb­edelstein – ist auch Oscar Wildes Buch Das Bildnis des Dorian Gray in dem geheimnisvollen Koffer. Allerdings ist es nicht seine eigene Ausgabe – diese steht bei Wechslers Frau im Schrank. Eine Verwechs­lung also? Bald stellt sich auch heraus, dass es einen zweiten Jan Wechsler gibt, der – wie er selbst – Verlags­inhaber und Autor ist und ein Buch Maskeraden verfasst hat: Auch dieses Buch ist im Piloten­koffer. All das ließe sich erklären, bis Wechslers Tochter auf einem Zeitungs­foto, das sich im Koffer befand, ihren Vater zu erkennen glaubt … Die Indizien verdichten sich und Wechsler macht sich auf die Suche nach seinem – unter Erin­nerungen verschütteten – Zweitleben. Und findet Unglaubliches über sich selbst heraus. Dinge, die ihn selbst vor der Welt als Betrüger bloß­stellen. Seine Frau und die Kinder verlassen ihn. In seinem Pass steht, er sei gebürtiger Israeli, wo er doch sicher war, in der ehemaligen DDR geboren zu sein. Er selbst ist, wie er nun erkennen muss, der Autor des Buches Maskeraden, in welchem Minsky, der erfolg­reiche Autor des Buches Aschentage, als Hochstapler entlarvt wird, der mit fingierten Erinnerungen an das NS-Vernichtungslager Majdanek Kasse machen wollte. In Folge des Medienwirbels wurde dieser Autor, der mit seinen angeblich verschüt­teten Holocaust-Erinne­rungen reüssiert (die diesem bei seiner Adoptiv­familie verboten waren), per DNA-Test als Kind einer Berner Familie ausgemacht. Minsky ist somit auch nicht verwandt mit jenem Israeli, der ihn nach vielen Jahren als seinen im Lager Majdanek vermissten Sohn erkannt und wieder­gefunden hat. Minskys Existenz als erfolgreicher Autor und glaubhafter Holocaust­über­lebender ist damit vernichtet. Zentrale Figur dieser Medien­kampagne: Jan Wechsler. Der davon aber nichts mehr weiß. Als Wechsler sich letztlich aufmacht, Minsky zu treffen, nimmt die Tragödie ihren unabwendbaren Lauf. Schließlich reist er nach Israel und gerät dort unter Mord­verdacht am vermissten Amnon Zichroni …

Amnon Zichroni wird in Israel geboren und wächst im streng orthodoxen Jerusalemer Stadtteil Geula auf. Fast noch ein Kind, dringt er mit einem zufällig gefundenen Schlüssel ins verbotene Zimmer seiner Eltern ein und entwendet dort ein Buch: Das Bildnis des Dorian Gray. Dieses liest er im Studiersaal der Jeschiwa und wird dabei erwischt. Sein Vater schickt ihn nach Zürich zu seinem Onkel Nathan. Zichroni studiert nach der Schule in den USA Psycho­logie und arbeitet später in Zürich. Dort begegnet er dem Geigenbauer Minsky. Als Freund ermuntert er ihn, seine Erinnerungen an das KZ Majdanek schriftlich festzuhalten. In Israel begegnet Minsky seinem Vater – oder dem, der ihn für seinen Sohn hält. Zichroni ist in der Lage, sich in seine Mitmenschen hinein­zuver­setzen, kann also kraft körperlicher Nähe und Berührungen, in das Erinnern anderer Menschen einzutauchen, es körperlich mitfühlen. So erlebt er deren Erinnerungen ganz wie die eigenen, die sich auch in seinen eigenen Träumen nieder­schlagen. Um Distanz zu wahren, trägt er weiße Baumwoll­handschuhe. Der Leser steht bald vor einem Vexierbild des Erinnerns und weiß nicht mehr, was echt, was eingebildet, zugewandert oder fremd ist. Wer nun denkt, es handle sich um eine Art Verwechslung und triviale Dop­pel­gänger­story, und Zichroni sei nun am Ende eben dieser andere Wechsler, der hat das Buch weit unterschätzt; die eigentliche Story ist noch viel ideenreicher, gewitzter und raffinierter, als man es sich während der Lektüre auszumalen imstande ist.

Benjamin Steins faszinierender Roman, in dem es um die Veränderlichkeit des Erinnerns geht, erinnert stellenweise an den Film Memento von Christopher Nolan (2000), der rückwärts erzählt wird: wo jemand nach einem traumatischen Ereignis versucht, das Geschehene zu rekapitulieren; aufgrund anterograder Amnesie kann er keine neuen Erinnerungen bilden. Man weiß heute längst, dass sich Erin­nerungen im Laufe der Zeit verändern können; sie werden also im Gehirn nicht etwa in Diaform mit unterlegtem Text oder quasi als Videoclip auf ewig archiviert (wie es einem selbst gerne erscheinen mag), sondern sind veränderlich, werden komplett oder in Teilen ver­gessen, inhalt­lich umgearbeitet, dabei ständig über­schrieben und sind somit also bei weitem nicht das objektive Instrument, für das wir es gemein­hin halten. Trauma, Amnesie und Verdrängung führen zudem zur systematischen Modifikation und Auslöschung von Erin­nerungen. Wenn aber das Erinnern derart unzuverlässig ist: worauf fußt dann unsere Identität? Das fragt man sich bei der Lektüre des Buches immer von neuem. Hiermit treibt Benjamin Stein ein grandioses und innovatives Spiel.

Spannend ist das Verhältnis zur Zeit des Geschehens: wer mit Jan Wechsler beginnt, weiß sofort, dass der Roman in der Jetztzeit spielt, was bei dem Amnon-Zichroni-Part eine ganze Weile in der Schwebe bleibt.

Es geht in Benjamin Steins Leinwand auch um gestohlene Erinnerungen und um nicht wissenschaftlich erklärbare Phänomene im Zusammenhang mit Religiosität; beide Protagonisten sind in ihrem jüdischen Glauben recht orthodox.

Ein weiteres mystisches Motiv, das für fremdes Erinnern verantwortlich gemacht wird, ist die Seelenwanderung, die z.B. auch in Gustav Meyrinks Der Golem auftaucht, welches wiederum auf eine Reihe anderer Bücher und Sagen zurückgreift – ein Buch, das ebenso wie Die Leinwand im jüdischen Milieu verortet ist. So gibt es etliche verblüffende Parallelen zum Golem. Der Golem von Gustav Meyrink kann andere Identitäten annehmen, taucht selbst aber im gesamten Buch nicht auf.

Das geträumte Ich als Doppel­gänger, der verwechselte Hut (bei Stein ein verwechselter Koffer, ein doppeltes Buch), die verschlos­sene Tür zum Zimmer ohne Zugang, der Schlüssel, der Koffer, überhaupt der Doppel­gänger-Topos: viele Motive des Meyrinkschen Golem werden von Stein aufgegriffen und auf originelle Art variiert. Die Figur des Gemmen­schneiders Athanasius Pernath im Golem kann als Folie für beide Prota­gonisten bei Benjamin Stein gesehen werden: für Amnon Zichroni, dessen Onkel und Ziehvater Demantoiden bearbeitet. Jan Wechsler sucht ebenso wie Athanasius Pernath Zugang zu sich selbst in der Frage nach der eigenen Identität; auch sein Leben gerät aus den Fugen, auch er wird aufgrund von Mordverdacht inhaftiert …

Es gibt weitere Bücher, die für Steins Roman eine Vorlage bilden und sogar selbst im Buch genannt werden: Das eine ist Oscar Wildes Bildnis des Dorian Gray, die Geschichte eines Menschen, dessen unmoralisches Handeln das Bildnis seiner selbst auf einer Leinwand verändert. Eine weitere Rolle spielt Bulgakows Meister und Margarita, dessen Handlung im Roman nacherzählt wird. Die Figur Volant, der Teufel also, stelle laut Zichronis Onkel die Welt ähnlich auf den Kopf wie die westliche Weltsicht auf der Grundlage der alten Griechen.

Gute Romane haben zumeist kein typisches Genre. So ist auch der Roman Die Leinwand Thriller, Krimi und Detektivstory in einem; bei Jan Wechsler hat das Erzählte überdies den speziellen Witz eines Schelmenromans, der seinen Taten gegenüber völlig ahnungslos ist. Es bekommt zwischendurch sogar Züge eines Liebesromans, wenn Zichroni die Liebesaffäre seines Schulkollegen Eli hautnah mit- und nacherlebt oder Wechsler aufgrund der monströsen Verwicklungen von seiner Frau mit den beiden Kindern verlassen wird, weil sich in seinen Erinnerungen zusehends eine immer unheimlichere Lücke auftut. Die Cineastik benennt dies als Horror oder Mystery: etliche neuere Filmen handeln vom (vollständigen) Identitätsverlust. Es gibt insgesamt gesehen in beiden Teilen des Romans eine klare Tendenz zum psychologischen Entwicklungsroman, dem nichts an Spannung fehlt; es gibt darüber hinaus sogar Anteile eines heute nicht mehr geläufigen Genres: des Bildungsromans.

Beide Hauptfiguren sind streng gläubig und suchen nach ihrem Lebenssinn zwischen weltlicher Wissenschaft und religiöser Mystik. Ganz selbstver­ständlich erfährt man eine Menge über jüdischen Alltag, jüdische (Glaubens-) Riten und religiöse Inhalte, was allein der reichhaltige Glossar zeigt, der als „Trennwand“ zwischen beiden Büchern fungiert.

Um zu verstehen, was im Ganzen wirklich geschehen ist, muss man beide Teile bis auf die allerletzte Seite gelesen haben. Eine erstaunliche Konstruktion, die beide Teile mit großartiger Erzähl- und Fabulierkunst zu einem schlüssigen Ende führt. Dabei ist es völlig unerheblich, dass man nie erfährt, woher Wechslers lebhafte Kindheits- und Jugenderinnerungen an Ost-Berlin genau stammen, was aus Wechslers Frau und Kindern geworden ist, warum es zwei Ausgaben des Dorian Gray gab oder woher nun eigentlich der Koffer kam. Hat ihn Jan Wechsler bei seiner Israelreise doch selber aufgegeben und das hinterher – vergessen?

Benjamin Stein ist 1970 in Ost-Berlin (DDR) geboren, veröffent­lichte bereits 1992 den Roman Das Alphabet des Juda Liva, nahm 1993 am Bachmann-Wett­bewerb in Klagenfurt teil. Er studierte in Berlin Judaistik und Hebraistik, arbeitete später als Redakteur und Korrespondent einiger Computerfachzeit­schriften, war frei­beruf­licher Berater im IT-Bereich, Geschäfts­führer einer Compu­ter­firma und ist heute frei­schaffender Autor. Er betreibt das lite­rarische Weblog Turmsegler und lebt in München.

Eine 16-minütige Lesung mit Benjamin Stein kann auf zehnseiten.de ange­sehen werden.
Armin Steigenberger   23.04.2010   
Armin Steigenberger
Lyrik