Das Meer. Die Möwen. Strandboxen, Buhnen, Bodden – und große Bühne für über 100 neue, junge Ostseegedichte. 49 Dichterinnen und Dichter schreiben zusammen eine Lyrikanthologie, die von Ron Winkler herausgegeben wurde und die vor kurzem unter dem von Steffen Popp mitangeregten Titel Die Schönheit ein deutliches Rauschen erschienen ist. Vermutlich ist kein Sujet öfter angedichtet worden als das Meer. Insofern ist dieses Thema eine eigene Gewichtsklasse, wo sich so mancher Dichter an der trügerischen Leichtigkeit des doch traditionsschwangeren, repertoirehaften Stoffes auch mit Leichtigkeit einen Bruch heben kann. – Lassen sich heute überhaupt noch Ostseegedichte schreiben? Vorab ist zu sagen: Es gelingt in nahezu jedem Gedicht dieser Anthologie, dem Meer eine besondere Seite abzugewinnen, auch wenn der jeweilige Autor sich nicht immer bewusst ist, an welchen geradezu vorsintflutlichen Gewichten er da hebt. Die Bildwelten ums Meerische, Meerhafte stellen eine verführerische Falle dar. Ein Gedicht über das Meer kann auch und vor allem im 21. Jahrhundert noch auf zahllose Riffe und altbekannte Lyrismen auflaufen; Wortstrom- In seinem feinsinnigen, differenzierten Vorwort beschreibt Ron Winkler, was die Ostsee alles (nicht) ist. Bald jeder Aspekt scheint berücksichtigt, deren es unzählige gibt. Er zeigt sehr präzise, um welche poetischen Riffe die heutigen Poeten einen großen Bogen zu machen (zumeist) imstande sind. Was klar ist: Die Ostsee (und mit ihr das Meer) hat als großartiger Göttertümpel ausgedient und wird auch nicht mehr ganz so gerne als lyrisches Postkartenmotiv bzw. flache Erbauungstapete hergenommen. Jedweder dumpfe Mythos ist passé, wobei die modernen esoterischen Mystifikationen wieder stark im Kommen sind – erfreulicherweise nicht in dieser Auswahl. Die Faszination, will sagen das kindliche Staunen vor dem großen unfassbaren Meer sind dieselben wie ehedem. Und wenn Historie, dann bitteschön mit Fingerspitzengefühl; erst recht keine tumbe Ostalgie anhand geografisch markanter und brisanter Punkte. Es werden keine Idyllen besungen, obwohl sporadisch die Tendenz besteht, hingerissen von der gigantischen Kulisse mithin hingebungsvoll zu deklamieren. So schreibt Winkler, das Ostseegedicht sei heute keine Bühne mehr für „symbolistische Kammerspiele“ und tauge erst recht nicht mehr für „eskapistische Unterfangen“. Und es gelingt nahezu durchgängig. In Gedichten von Volker Braun, Ulrike Draesner, Mara Genschel, Hendrik Jackson, Björn Kuhligk, Steffen Popp, Kerstin Preiwuß, Jan Volker Röhnert, Sabine Schiffner, Jan Wagner, Judith Zander u. v. a. ist das Meer omnipräsent und gleichzeitig oft nicht mehr maritim. Das Meer wird zum Nicht-Meer und ist es im nächsten Text (mitsamt seiner vielfältigen und sehr weitreichenden Klischees) doch vollkommen und konkret. Das Meer. Harmlos und variationsreich spiegelt es sich heute modern und blau auf der westlich-aufgeklärten Dichterpsyche – könnte ein Räsonierer spötteln; auf seine Kosten kommt er in dieser Sammlung nur selten. Denn gleichzeitig spiegeln sich alle gegenwärtigen Regungen derselben empfindsam auf ihm, allerhand (Zwischen-) Menschliches, die „(durchzivilisierte) Gegenwart“ sowie der „von Profanität und Zumutungen verseuchte[r] Daseinsschutt“ (Vorwort Ron Winkler). So gelingen viele Texte, auch da, wo sie „nicht-maritim“ sind, wo sie nur noch im Titel oder anhand typisch ostseeischer Arrangements ihren Gegenstand aufgreifen. Manches Gedicht will überhaupt nichts mit Meer oder gar Ostsee zu tun haben. Das ist unerhört und auch unerhört charmant – in einer Sammlung, die sich laut Untertitel mit Ostseegedichten befasst. Das ist auch legitim, da es heutzutage wie immer schon das Meer in einem selbst gibt: Bei Bewohnern und Nichttouristen besitzt es ohnehin selbstverständliche Präsenz in Herz und Hirn, auch wenn man getrennt ist vom rein physischen und haptischen Meer. Nikola Richter Und auch wenn alle Metaphern ums Meerhafte stark klischeebeladen sind: sie sind in uns Lesern und Dichtern – die wir beim Lesen das Gelesene nachdichten – tiefer verankert, als man annimmt. Man kommt fast nicht drum herum, ein paar Möwen ihre Kreise durch den Text schweben zu lassen, um das Typische und Einmalige des Ortes zu beschwören. Das Meer besteht zum größten Teil aus Wasser, sprich jede Menge H2O. Dass das Meer blau ist, dürfte heutzutage allgemein bekannt sein und liegt streng genommen am Himmel darüber – könnte ein gänzlich unpoetisch Veranlagter lästern. Gleichzeitig aber ist es unfasslicher, atemberaubender „Abyss“ mit dem rätselhaften Rest an Geheimnis, undeutliche Angst einflößend, der sich vermutlich niemals ändern wird. In einigen wenigen Texten wird diese Unfasslichkeit zur Poesie: das meer ist abends aus stroh. jeder versuch, gold daraus zu spinnen, gelingt (Ulrike Almut Sandig); wie glockenspiele schlagen meine knochen mit muscheln zusammen (Carl-Christian Elze). Der Orte und Örtlichkeiten sind viele. Über die deutschen Ostseeorte auf Rügen und Usedom werden auch baltische und schwedische Ostseelandschaften besungen, bis hinauf zum Finnischen Meerbusen; wobei das im Gedicht Eingefangene immer über bloße Landschafts- und Reiseimpressionen hinausgeht. Vieles hat Wiedererkennungswert und -reiz für diejenigen, die am jeweiligen Ort gewesen sind. Man merkt einigen Gedichten deutlich an, wie die Ostsee zum Lyriker kommt, wenn das lyrische Ich en passant aus der Touristenperspektive das Exotische durchblicken lässt, das es dort angetroffen hat und sich z.B. am Strand und beim Bier vom Liebeskummer kuriert. & wieder mal tief durch die nacht. / dein bild stets am herzen & krämpfe im bauch (…) ich habe ver / sucht, dich aus den träumen zu schlafen & bin müde wie eh. Ich habe die ganze welt abgelaufen / & blieb wund, ich blieb weh & blieb ich, immer ich ohne dich (…) keine einzige kneipe heißt anker, aber alles ist fest hier / & nicht mehr verrückbar, wenn man als einer vom dorf gilt. das braucht oft nicht länger als ein paar bier & die liebe (…) (Crauss.) Der Einheimische, für den die Ostsee vertraut und alltäglich ist, kommt hingegen seltener zu Wort: Verbilligte Seesterne auf der Mole. Die Gedenkstätte / Burmeister hat geschlossen von hier aus. Wenn du ein wenig wartest. Wind in den Taschen der falsche Knopf am / Firmament leuchtet auf (Silke Peters). Die Ostsee ist überall. „Die Ostsee der Gegenwart ist kein Poseidonpool“, heißt es im Vorwort und scheint somit früher wie heute sogar mediterran verortbar. Das ist interessant, denn nicht nur im Surrealen, sondern auch in unserer hochvirtualisierten Welt wird „Ostsee“ zu einem anklickbaren, hochaufgelösten Phantom, wo das Meer und seine feine Pixelung phantasmagorische Ubiquität besitzen, wo Kopie oder Coverversion vom Original ununterscheidbar geworden sind. Die Ostsee ist heute überall und nirgends. Die Ostsee verwandelt sich; sie wird in einigen Texten zum exzeptionellen Hype, zum Egoadapter, zum Trigger persönlicher Befindungen. Sie ist allgegenwärtig, wird mit einem Schuss Nostalgie und einer Buddel voll Rum ganz nostalgisch zum Seefahrertopos – freilich der eigenen Historie ganz bewusst: als korsaren sind wir gefahren / waren filibuster nach maß & muster / als piraten hat man uns verbraten / waren jungpioniere & bukaniere (Bert Papenfuß), wird Spiegelfläche von Eros und Emotio und als Spielfläche erotischer Sinnenvielfalt inszeniert, außer Lichtgewinn / aus der Tiefe, die ins Laszive zieht / mit den Zugehfrauen, den Wund / Verschlüssen, hinab (Tom Schulz) Dahinter kopulierte beinah / vergessen das Meer (Claudia Gabler), es rauscht und berauscht als (syn)ästhetisches Metaphern-Magma, das ganz zauberisch seine Bedeutungen ändert wie das Wetter und die changierende Farbe verschiedenster Blautöne. Ostsee wird zum Vexierbild; eine optische und seelische Täuschung. Ostsee(l)ischer Topos also – und damit bloßer Befindlichkeitskatalysator für schöne Stimmungsgedichte? Hin und wieder tut ein Gedicht wohl, das die Ostsee gegen den Strich bürstet; dahingehend können die Texte, die mit erfrischendem, derbem Seefahrervokabular zwar herzhaft eine andere Tonart anschlagen oder die Ostsee als ölverseuchte Zivilisationskloake in Szene setzen, auch nur das Schwarze unter der weißen Gischt aufmalen. Hinsichtlich umweltpolitischer Brisanz wären vielleicht noch mehr Zwischentöne drin gewesen, konstatiert man am Ende der Lektüre. Die Texte der Auswahl überzeugen dennoch fast immer. Herausragend sind diejenigen Gedichte, die am spezifischsten die Ostsee definieren und jenseits von Erbauungposter, Postkartenblau und Kronkorkenzischen mit ihr verbundene historische wie politische Dimensionen aufzeigen und klar benennen: (…) der Raumfahrt / Wernher von Brauns auf der wildschönen Oie, hier von der Steilküste flogen Ideen handfest erstmals / ins All. Auf dem Mond dann, so Trygve, der Endsieg. (Wilhelm Bartsch). Auch die 90er Jahre sind präsent: nordischer urwildpark / staatsforst darss & dorsch / fischklops & verteidigungskopf (…) haken, sandbank, insel / feste landspitze, hakenansatz / restitutionsansprüche & bückübertragung // ungeschorene alteigentümer / ziselieren ihre vermögensschäden / an jedem eigentum klebt enteignungsunrecht (…) (Bert Papenfuß). Das Spezifische: das Brackwassermeer, der Landschwund, die Aussüßung der landnahen Gewässer usw., die geologischen Gegebenheiten des Mare Balticum: Wir Kopffüßer tragen die gefürchtete Levitation / Feuersteinabsprünge und die frischen Kanten / Ihre verlorenen Funken ihre weichen Leiber / (Knollen Konkretationen gallertiger Kieselsäure / Im Kreidemeer) (…) (Silke Peters). Am überzeugendsten ist die Sammlung immer da, wo sie dem Meer etwas Neues abgewinnt. Wo die Sprache zum eigenständigen Körper wird. Wo die eigen(tümlich)e „Semantik des Meers“ (Winkler) der eigenen Rezeption gegenübersteht. Wo sich ein Mehr an Meer zum längst bekannten Wortrepertoire hinzugesellt und somit die Gedichte, in denen die Ostsee und alles Ostsee(l)ische zum bloßen Poster verwässert worden ist, angenehm konterkariert. Die vielschichtige, vielgestaltige und – was das Meer betrifft – vielformige Gedichtsammlung endet mit einem Sonett von Thomas Kunst, das ausschließlich weibliche Kadenzen hat. Sollte das Meer, das im Deutschen dinghaftes und geschlechtsloses Neutrum ist, am Ende gar auch weiblich sein wie die Ostsee? Ich würde lieber auf der Welt verenden / Als auf See, kein Tod hat solche Strände.
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Armin Steigenberger
Lyrik
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