Wer meint, er wisse doch bereits einiges über Philosophie und brauche deshalb dieses Buch nicht, liegt völlig falsch; wer meint, es handle sich hier um eine konventionelle Philosophiegeschichte, ähnlich der vor 40 Jahren erschienen Philosophischen Hintertreppe von Wilhelm Weischedel – nur eben aus Sloterdijkschem Blick –, liegt ebenso falsch. Hier wird ein komplett neuer Zugang zur Philosophie und ihren Hauptfiguren eröffnet, der in dieser Form bisher nicht dagewesen ist. Man ist vom ersten Satz an Teilnehmer am philosophischen Diskurs der Jetztzeit. Dieser Zugang zur Philosophie wird stets durch den Vordereingang erschlossen; man liest Texte, die durchaus als Primärtexte gelten können. Und damit ist Sloterdijks Buch über philosophische Temperamente wohl eher kein Buch für völlige Philosophieneulinge. Obgleich schon das Vorwort mit der Überzeugung des Autors einleitet, „daß es in die Philosophie keine Einführung geben kann, vielmehr muß von der ersten Minute an die philosophische Disziplin selber sich vorstellen, als Modus des Denkens fürs erste, als Modus des Lebens in der Folge.“ Das ist für die nachfolgenden Texte ein klares Programm. „In ihrer optimistischen Frühzeit hatte die philosophische Erziehung nicht weniger im Sinn als eine Umbeseelung oder Umbegeisterung der Individuen; sie setzte sich das Ziel, aus verworrenen Stadtkindern erwachsene Weltbürger zu machen, aus inneren Barbaren zivilisierte Reichsmenschen, aus berauschten Meinungsinhabern besonnene Wissensfreunde, aus trübseligen Sklaven der Leidenschaften heitere Selbstbeherrscher“, lockt der Klappentext. Das Buch präsentiert 19 gedankliche Streifzüge, in sich geschlossene Essays, allesamt in ähnlichem Aufbau gestaltete „Denker-Vignetten“ zu allen wichtigen Köpfen der Philosophie, die zunächst scharf machen – also mit scharfsinnigen Thesen verblüffen – und anschließend eröffnen, was an den bekannten Meisterdenkern bis heute das Wesentliche war und ist. Dieses Wesentliche wird hier völlig neu und mit erstaunlichen Blickwinkeln vom Autor herausgearbeitet: nicht selten frappiert eine tiefschürfende und überraschend aktuelle Lesart des schon Bekannten. So kommt das Kapitel über Platon völlig ohne den Begriff der Dialektik aus (und ohne den der „Platonischen“ Liebe sowieso!), bei Descartes lässt Sloterdijk das kartesische Cogito ergo sum weg, bei Kant braucht er kein Apriori oder Aposteriori und erklärt auch nicht umständlich das Wesen des Kategorischen Imperativs – wie dies so manche selbsterklärte Einführungen gerne tun. Man atmet von vornherein eine ungewohnt freie und wohltuend klare Luft. Dennoch erfährt man gerade dadurch den Kern der jeweiligen Philosophie umso genauer. Der Rezensent Ijoma Mangold nannte dieses Buch eine „Übersetzung der Philosophiegeschichte in Peter Sloterdijks eigenes Vokabular“. Hinreißend ist in der Tat Sloterdijks Sprache: Der Philosoph entwickelt zur Erklärung ganz eigene Termini und Theoreme, die in aufregende Schlussfolgerungen münden. So spricht Sloterdijk bei Marx über Telekommunikation und erfindet den Begriff des „Televampyrismus“, der Fernseher wird zum „Fernsauger“; zu Wittgenstein erklärt er, dass gerade dieser in der Lage war, „das Patchwork der lokalen Lebensspiele und ihrer Regeln ans Licht zu heben“. Dadurch werden dem Leser mit einem Mal überraschende Zusammenhänge zwischen gedanklichen Phänomenen und historischen Begebenheiten deutlich, wo er bisher niemals einen Zusammenhang vermutet hätte. Statt über Philosophie zu referieren, wird in allen Aufsätzen praktische Philosophie betrieben. Die lehrhafte Herangehensweise, wie Philosophie dem Leser üblicherweise anhand ihrer anerkannten Begrifflichkeiten Schritt für Schritt nahegebracht wird – oft angereichert mit auflockernden Anekdoten über das schrullige Leben ihrer Protagonisten – wird bei Sloterdijk erfreulicherweise ganz beiseitegelassen. Ohne einschlägiges Vorwissen ist das Buch gleichwohl nicht immer verständlich, da das Buch sofort in medias res geht. Man sollte also schon im Vorfeld ein wenig Philosophie betrieben haben und sich auch etwas in der Terminologie auskennen, sonst kann man Sloterdijks Gedankengängen und Schlussfolgerungen vielleicht nicht immer folgen. Der 62jährige Autor Peter Sloterdijk ist Rektor der Karlsruher Hochschule für Gestaltung sowie Professor für Kulturphilosophie und Medientheorie an der Wiener Akademie der bildenden Künste und vielen Lesern bekannt vom Philosophischen Quartett (ZDF), 1983 gelang ihm der Durchbruch mit seinem Werk Kritik der zynischen Vernunft. Im Herbst 2009 richtete sich die Medienaufmerksamkeit auf die „Sloterdijk-Debatte“ in den Leserbriefspalten der FAZ, ausgelöst durch Thesen des Philosophen über Kapitalismus und Sozialstaat. Die Aufsätze entwickeln einen sowohl kurzweiligen wie tiefschürfenden Gesamtabriss der philosophischen Geistesgeschichte, entrollen Argumente und Thesen und zeigen geschichtliche Zusammenhänge; zeigen darüber hinaus, wie diese Thesen die Welt bis heute formen. Dies gelingt Sloterdijk in hochverdichteter und dennoch nicht überfrachteter Form. Genau genommen handelt es sich bei den Philosophischen Temperamenten um 19 Vorworte, die in ebendieser Form allesamt schon in der Reihe Philosophie jetzt! erschienen sind. Die Philosophischen Temperamente sind zusammen mit ihrem eigenen also „nur“ 20 Vorworte, die es allerdings in sich haben. Sloterdijk legt dar, dass es aufgrund von rechtlichen Schwierigkeiten nie zum Heidegger- Jeder einzelne Essay der Philosophischen Temperamente überzeugt. Der Titel selbst ist ein Spiel mit Worten: denn es sind sowohl die Persönlichkeiten der großen Philosophen an sich gemeint, als auch ihre Ideen und „mächtigen Argumente“ als Ingredienzen und Beimischungen im gedanklichen Schmelztiegel des Abendlandes. Es wird einem beim Lesen auf eindringliche Weise klar, dass die Gedankengebäude aller bisher dagewesenen Philosophen noch längst nicht zu Ende erschlossen sind (und auch vermutlich nie zu Ende erschlossen werden): da schlummert selbst bei Platon, Aristoteles und Augustinus noch jede Menge Potenzial – hochaktuell und bis heute brisant. Man erkennt, dass alle Epochen die bedeutenden Philosophen auf ihre Art wieder neu und dennoch auf ihre Art einseitig interpretieren. Der mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa ausgezeichnete Autor schrieb ein glänzendes junges Buch über 19 alte Männer der Philosophie, das nicht für einen Moment langweilig wird.
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Armin Steigenberger
Lyrik
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