Eine neue Einführung in die Lyrik? Eins ist klar: Ein solches Buch muss sich ganz besonders anstrengen. Wer heute einen Verführer zu etwas nicht wirklich Populärem wie Poesie auf den Markt bringt, braucht – damit dieser gelesen wird – gute Gründe. Ulrich Greiner, ehemaliger ZEIT-Redakteur des Ressorts Literatur, zurzeit Kulturkorrespondent und Herausgeber von ZEIT-Literatur, zudem Mitglied des PEN-Zentrums, schrieb 2005 bereits einen recht erfolgreichen Leseverführer zur Lektüre von Romanen. Welches Verführungspotenzial hat Greiners neues Buch? Äußerlich kommt der Lyrikverführer in nett aufgemachter Ratgeberoptik daher. Der Umschlag lässt eine Nachtkästchenlektüre mit Herz vermuten. Das Vorwort lädt zum Überblättern ein, danach beginnt der Einstieg etwas steif mit Homer und den ersten 10 Zeilen der Odyssee; doch wer hier schon begonnen hat, mit den Augen zu rollen, wird noch im selben Abschnitt mit Les Murrays Fredy Neptune (2004) als Beispiel für ein modernes Versepos überrascht. Also auf der Höhe der Zeit? Ein moderner Verführer gar? Im ersten Teil des Buches wird in 7 Kapiteln jeweils eine These untersucht, was denn nun bitteschön ein Gedicht genau sei: Erzählung, Lied, Spiel, Gefühl? Im zweiten Teil werden dazu 11 Interpretationsbeispiele gegeben; wie sich die Theorie aus dem ersten Teil praktisch anwenden lässt. Die Gedichte dazu sind meist altbekannte. In Teil 1 folgen auf Homer und seine Distichen bedeutende Dichter wie Wolfram von Eschenbach, Matthias Claudius u. a. Greiner bespricht anschaulich Schillers Ring des Polykrates, Theodor Fontanes John Maynard – was man so aus der Schule kennt, später dann weniger geläufige Texte von Walt Whitman, Conrad Ferdinand Meyer, Charles Baudelaire bis hin zur Jetztzeit. Allen Klassikern gewinnt Greiner die besten Seiten ab und gelangt so zu modernen Dichtern wie Paul Celan, Ernst Jandl, Rolf Dieter Brinkmann und zuletzt einigen Zeitgenossen. Die Analysen sind immer stichhaltig, handfest und in sich stimmig, die Fakten gut recherchiert. Man erfährt fast ganz nebenbei die Grundlagen der Metrik: endlich weiß man (wieder), was ein Jambus, was ein Trochäus ist und wie Jamben in Sonetten verwendet werden. Anschaulich wird erklärt, was Hexameter sind und dass man dieses Wort tunlichst auf dem langen a zu betonen habe. Anfangs im Altphilologentenor, zwischendrin im charmant-launigen Schmökertonfall bis hin zu etwas hölzernem Lexikondeutsch geht es dabei oft auch wissenschaftlich zur Sache. So stehen ab und zu (Fach-)Begriffe wie „metaphorisch“ neben hochgestochenem Vokabular wie „Akzeleration“ und „Apotheose“ recht unvermittelt da und lassen sich auch im spärlich ausgefallenen Glossar nicht finden. In gelegentlich altväterlichem Plauderton wird der Text mit einem süddeutschen „halt“ oder mit einem augenzwinkernden Überzeugungs-Ja umgangssprachlich gespickt. „Das weiß man ja, dass Schönheit und das ›schöne Lieben‹ weniger objektive Sachverhalte sind als Formen der Anschauung“, schreibt Greiner zu einem Eichendorffgedicht, „(…) Insofern ist der Titel, wie ja die Poesie überhaupt, auch nur ein Spiel, wenngleich ein ernstes“. Überraschende und auch humorvolle Wortneuschöpfungen wie „Kunstanstrengung“, „Gefühls-Gefühl“ oder gar „besserwisserischeres literarisch gebildetes Tantentum“ entschädigen gewissermaßen dafür. Dennoch ist das Buch im Großen und Ganzen genau und sorgfältig in seiner Wortwahl. Das Kapitel Das Gedicht ist ein Spiel widmet sich sehr überzeugend dem Thema, inwiefern sich in Gedichten kreative Energien auf sehr spielerische Art entladen können. Gleichzeitig wird im selbigen Kapitel so manches Klischee bedient, sprachspielerische Lyrik sei ja doch nur launig-spleenig-überkandidelte Spielerei. Zu Ernst Jandls „ottos mops“ lesen wir: „Die Aufgabe bestand offenbar darin, ein Gedicht zu schreiben, in dem als einziger Vokal das ‚o' erlaubt ist“ – ganz als würden Dichter sich Texte als Aufgaben vornehmen. Weiter unten schreibt Greiner: „Man kann das sinnlos finden, und das ist es in mancher Hinsicht gewiss, aber es ist ein Beweis für die Autonomie der Literatur – und ein schönes Spiel. Kinder jedenfalls lieben dieses Gedicht“ – vermutlich zielte Jandls „mops“ exakt auf eben diesen verhärmten Blick des erwachsenen Poesielesers ab, der sich seiner Freude am Spiel schämt, sich deshalb über Kinder rechtfertigen muss oder sich sogar insgeheim ärgert, dass so etwas (scheinbar) spielend Leichtes als hohe Literatur gehandelt wird. Einige von Greiners Thesen wirken wie Vereinfachungen, mit denen der Lyriker von heute immer noch schwer zu kämpfen hat, wie beispielsweise auch die immer noch häufig gehörte These: „(...) und in der Tat ist ein literarischer Text, der keinen Rhythmus hat, eigentlich ein mangelhafter Text, es sei denn, seine Absicht liege gerade darin, mit dem Rhythmuslosen etwas Bestimmtes ausdrücken zu wollen.“ Als Begründer der Konkreten Poesie wird lapidar Eugen Gomringer genannt. Das ist korrekt. Indes hätte in einem Satz erwähnt werden können, dass nicht zuletzt von Anna Ovena Hoyers im Frühbarock und vermehrt im Hochbarock visuelle Gedichte geschrieben wurden und dass Kurt Schwitters und andere die direkten Wegbereiter der Konkreten Poesie gewesen sind. Was fehlt dem Lyrikverführer? Immer wieder die Frauen. Dunkel glaubt man sich zu erinnern, im Zusammenhang mit Dichtkunst doch schon von Namen wie Sappho, Annette von Droste-Hülshoff oder auch von Else Lasker-Schüler gehört zu haben? Abgesehen vom Vorwort wird das erste Mal auf S. 67 zumindest die Möglichkeit erwähnt, dass Frauen vielleicht, unter Umständen sozusagen, auch schon Gedichte geschrieben haben könnten. Zum Text aus dem Mittelhochdeutschen, Du bist mîn, ich bin dîn …, schreibt Greiner: „Wer immer das geschrieben hat (es war wohl eine Frau, Genaueres wissen wir nicht).“ Bei den Interpretationsbeispielen werden sodann Gedichte von Elisabeth Borchers und Nadja Küchenmeister besprochen. Der Rest ist gewidmet dem „alten Friedrich Hölderlin“, dem „große[n] Matthias Claudius“ oder Herrn Joseph von Eichendorff, „diese[m]r wunderbare[n] Dichter“. Ein Altherrenbuch? Keine „alte“ Sibylla Schwarz, keine „große“ Gaspara Stampa, keine „wunderbare“ Louise Aston, auch keine Ingeborg Bachmann und keine Rose Ausländer. Es wird ausführlich das Sonett erklärt, aber die Ode (deren eine Strophenform übrigens von Sappho entwickelt wurde) als aus der Antike wiederbelebte Form kommt nicht einmal beim ausführlichen Abriss über Hölderlin vor. Denn auch sie erlebte spätestens durch Marion Poschmann im 21. Jahrhundert eine Renaissance. Keine Judith Zander, keine Juliane Liebert. Es fehlen auch Ulrike Almut Sandig, Karin Fellner, Anja Utler, Uljana Wolf – um nur ein paar zu erwähnen. Dichtung demnach von den Anfängen bis heute eine reine Männerdomäne? Vertreter aktueller Dichtung sucht man beinahe vergeblich. Wo Gottfried Benn steht, darf Thomas Kling nicht fehlen. Durs Grünbein, Ron Winkler, Tom Schulz, Björn Kuhligk, Jan Wagner, Steffen Popp und viele andere scheinen nicht existent und am lyrischen und poetologischen Diskurs unserer Tage nicht beteiligt. So wird der romantisch anmutende Topos, Lyrik sei Sprachrohr für das „Unsagbare“, der auch bei Greiner ungebrochen anklingt, im aktuellen Poesiediskurs wiederholt kritisch besprochen. Zur Erklärung, warum die Lyrik irgendwann den Schwenk zur Moderne vollzog, wird ein Zitat aus einem Buch des „großen“ Freiburger Romanisten Hugo Friedrich von 1956 herangezogen. Die Gedanken zeitgenössischer Poeten scheinen in diese Lyrik-Gebrauchsanweisung kaum eingeflossen zu sein. Zu Wolf Biermanns Text Kleines Lied zu den bleibenden Werten lesen wir: „Vielleicht haben Sie die Chance, das Lied auf einer Schallplatte gesungen zu hören“, was im Zeitalter der Videoportale und Livestreams doch ein klein wenig altbacken klingt. Auch wenn es tatsächlich keine URL gibt, die genau diesen Song auswirft – Biermannsongs gibt es im Netz en masse. Nicht alles ist hundertprozentig. Einmal verzählt sich Greiner bei der Angabe von rhythmisierenden Worten, findet ein weiteres Mal zweihebige Jamben, wo keine sind und verwechselt einmal die Reimform. Doch Bücher beurteilt man in der Regel im Hinblick auf ihre Leser, inwieweit diese bei der Stange gehalten werden; gelingt dies – und es gelingt – kann man über die paar Ungenauigkeiten, die der Experte hie und da findet, großzügig hinwegsehen. Erotik kommt in Ulrich Greiners Lyrikverführer urplötzlich ins Spiel. Da ist zu Paul Gerhardts Text O Haupt voll Blut und Wunden zu lesen: „Selbst christlichen Lesern wird diese erotisch getönte Inbrunst seltsam vorkommen“, später wird man(n) animiert, sich bei einem Gedicht von Friedrich Hebbel in eine „heiter-anzügliche Stimmung“ zu bringen, und nicht zuletzt erlebt das lyrische Ich in einem Text von Clemens Eich „das kurze Aufleuchten einer homoerotischen Neigung“. „Jung liebt es sich halt schöner“, schreibt Greiner in einer Erläuterung zu Eichendorff. Von einem nach wenigen Zeilen lyrikliebestoll machenden Poesie- Fazit: als Einführung, für Leser, die sich zum ersten Mal mit Lyrik befassen möchten, ist der Lyrikverführer bestens geeignet: ein sehr solides Buch. Immerhin gelingt Greiner der Spagat, die Vorzüge von Poesie und Metrik der Leserschaft kurzweilig und mit Herz anzuempfehlen. Immer wieder wird das Traditionelle mit interessanten Beispielen aus der Moderne kontrastiert, was das Buch durchweg spannend macht. Manch einer mag sich freuen: Der alte traditionsreiche Blick auf die Lyrik ist hier noch nahezu ungebrochen. Der Experte und alle bereits zur Lyrik Verführten haben bei dieser Gebrauchsanweisung wenig Neues zu entdecken und auch einen etwas bitteren Nachgeschmack.
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Armin Steigenberger
Lyrik
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