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Erich Loest Lesebuch – Das halbvolle Glas
Halbvoll
Subjektkritische Annäherungen
an das Erich-Loest-Lesebuch des Leipziger Plöttner Verlags
Kritik |
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Das halbvolle Glas
Erich Loest Lesebuch
Hg. Regine Möbius; Michael Hametner
Plöttner Verlag, 2012
476 Seiten, 16 Euro
ISBN 978-3-86211-060-5
Alle Seitenangaben in () beziehen sich hierauf |
„Erich Loest gehört längst zu den Größen deutschsprachiger Literatur. In zahlreichen Erzählungen und Romanen beschrieb Loest deutsch- deutsche Geschichte und fesselte durch eine spannende und unterhaltende Erzählweise. Immer wieder hat der Schriftsteller seine Texte und Sujets so gewählt, dass sie den Lesern, ob Jung oder Alt, deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert nahebringen konnten. Dabei hat er sich nicht nur durch seine autobiografischen Schriften und Essays als aufmerksamer Zeitzeuge einen Namen gemacht: Vor allem in seinen zeitgeschichtlichen Romanen kommt der Chronist Erich Loest immer wieder zum Vorschein. Und so stellt das neue Lesebuch mit Auszügen aus diesen belletristischen Werken den Chronisten Erich Loest heraus und macht Geschichte erfahrbar.“1
I.
Den so öffentlich ausgelobten Autor habe ich in meinem einzigen Buch (1987) 2, das sowohl als akademische Qualifikationsschrift kurz nach Erscheinen angenommen als auch zehn Jahre später (1997) verfilmt wurde, zwei Mal zitiert: einmal kritisch in der Einleitung gegen eine hagiographische Tendenz in der Zeitgeschichtsschreibung aus Loests 1974 veröffentlichter Erzählung Eine ganz alte Geschichte mit dem Kommentar, „daß es auch und gerade in der Geschichtsschreibung der proletarischen und Arbeiterbewegung ereignishafte Überspitzungen gibt, die in der distanzlosen späteren Deutung verhelden […] Ebensowenig wie Loests Kunstfigur, der prominente kommunistische Funktionär Kurt Drägow, „Drägowkurt“, an jedem wichtigen Ereignis seiner Zeit aktiv und persönlich beteiligt war, muße auch der realexistierende sozialdemokratische Militante, Funktionär und Reichstagsabgeordnete Carlo Mierendorff an wichtigen Parteiereignissen […] teilnehmen.“ 3 Zum anderen im letzten Kapitel im Zusammenhang mit dem Todestag Mierendorffs aus Loests 1984 erschienenem Roman Völkerschlachtdenkmal „zum schwersten britischen Luftangriff auf Leipzig in der Nacht von Freitag auf Samstag (3./4.12.1943). Der Leipziger Schriftsteller Erich Loest hat ihn so beschrieben: ´An diesem 4. Dezember wurde es über Leipzig nicht hell […] Leipzig war in die Knie gebrochen in dieser Nacht, es stöhnte und wandt sich, zuckte und blutete, es hatte den schrecklichsten Tag seiner Geschichte erlebt […] 1.100 Tonnen Bomben hatten 1.182 Leipziger umgebracht, eine Tonnen Bomben für einen Menschen galt als rentabel.“ 4
II.
Erich Loest traf ich in diesem Leben bisher zwei Mal bei ganzdeutschen Schriftsteller(verbands)treffen in den 1990er Jahren. Loest hatte jeweils reichlich getrunken und war meiner Erinnerung nach einmal noch nicht, das andere Mal schon betrunken und beide Male erfolgreich bemüht, auch schwankend Haltung zu bewahren: wenn beim Optimisten das Glas halbvoll und beim Pessimisten halbleer sein soll – dann weiß ich bis heute nicht, zu welcher Sorte von Trinkern Loest gehört. Und immer wenn ich an einen ehemaligen F.D.P.-Bundesvizekanzler, den im Juni 2003 abgesprungenen Münsteraner Jürgen W. Möllemann („Jürgen WM“) und seinen in jeder öffentlichen Veranstaltung mindestens einmal bemühten Kalauer von den Deppen, die glauben, daß 'n Zitronenfalter wirklich Zitronen faltet denke, dann assoziiere ich typischerweise Loests Sachsenspruch von der (1953 bis 1990 real-existierenden) einzigen sächsischen Stadt mit drei O's – Karl-Marx-Stadt und vermute: dieser drögsächsische Sprachkalauer hat sich eher im Gedächtnis festgesetzt als der kritische Hinweis des Autors nach dem 17. Juni 1953 an seine damaligen Genossen: „Es nützt nichts, im Elfenbeinturm zu sitzen und die Rote Fahne zu schwingen“. 5
III.
Von Erich Loest stehen im eigenen Bücherregal acht (mit Ausnahme des Karl-May-Romans auch gelesene) Bücher: die Romane Schattenboxen (1973), Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene (1978), Swallow, mein wackerer Mustang (1980), Reichsgericht (2001) sowie der Erzählband Pistole mit sechzehn (1979), die bewegende Autobiographie Durch die Erde ein Riß und die zeitgeschichtlich-politischen Recherchebände Der Vierte Zensor (1984) und Die Stasi war mein Eckermann (1991). Dazu las ich drei weitere, über Fernleihe ausgeliehene Loest-Romane: Fallhöhe (1989), Völkerschlachtdenkmal (1984) und Zwiebelmuster (1985). Loests (soweit ich weiß) bisher kommerziellsten Erfolg ist der Roman Nikolaikirche (1995), der am 27. Oktober und 1. November 1995 als ARD-Verfilmung6 erstgesendet und 1996 preisgekrönt wurde.
IV.
Im Zusammenhang mit einer Kurzreise nach Leipzig las ich zuletzt den justizkritischen Loest-Roman Reichsgericht (2001). Diesen Roman bewerte ich (weniger wegen des Plots, mit Verstorbenen konspirativ-terristisch sprechen zu können als vielmehr) wegen des weiten linksdemokratisch-politikhistorischen Horizonts und seiner mit Gegenwartshandlung verschränkten Bildungselemente als so eindringliches wie ambitioniertes Stück deutsch(sprachig)er Unterhaltungsliteratur des vergangenen zwanzigsten Jahrhunderts. Insofern weist Reichsgericht Loest als handwerklich höchsterfahrenen, passagenweise unterhaltungsliterarisch brilliant schreibenden Erzähler und Romancier aus. Und schließlich könnte der Autor inzwischen auch derjenige Ex-DDR-Autor aus der nun (hoch)betagten Schriftstellergeneration sein, der auch die Alt-BRD-Gesellschaft der 1980er Jahre und ihre bis heute kaum aufgearbeiteten Individualisierungschübe7 unterhaltungsliterarisch bewältigen kann. Dies ist auch Ausdruck einer Autorenentwicklung, die sich bereits im Roman Fallhöhe (1989) als dem ersten Loest-Erzählstoff, der im teildeutschen bundesrepublikanischen Westen spielt, andeutete.
V.
Aufs Leipziger Erich-Loest-Lesebuch war ich wochenlang gespannt. Nun liegt's nach Wochen endlich (auch mir hier im deutsch-belgischen Grenzgebiet) vor. Ein (ge)wichtiges Buch auch im dinglichen Sinn. Es liegt gut in der Hand mit seinen 616 Gramm. Und augenfreundlich ist es auch: die Texte entsprechen dem, was etwa dtv als Großdruck bewirbt.
Im Klappentext wird als Hauptanliegen von Verlag und Herausgebern betont: „Wir wünschen uns, dass dieses Lesebuch für neue, junge Leser zur Anregung wird, sich die Romanwelt von Erich Loest zu erobern.“ Dem Anliegen entsprechend, präsentiert „dieses Lesebuch Auskünfte zur Entstehung, Inhaltsangaben und Auszüge aus folgenden Romanen von Erich Loest:
JUNGEN, DIE ÜBRIG BLIEBEN (1950)
ICH WAR DR. LEY […] (1966)
ES GEHT SEINEN GANG […] (1977)
SWLALLOW, MEIN WACKERER MUSTANG (1980)
ZWIEBELMUSTER (1985)
FROSCHKONZERT (1987)
NIKOLAIKIRCHE (1995)
GUTE GENOSSEN (1999)
SOMMERGEWITTER (2005)
LÖWENSTADT (2009)“
Alle zehn Texte (13-471) sind als Romanauszüge auf jeweils anderthalb Seiten vorab doppelt kommentiert durch Herausgeberhinweise zu Entstehung und Inhalt der zehn Loest-Romane aus sechzig Autorenjahren. Vorangestellt ist eine dreiseitige editorisches Vorbemerkung: WENN DIE GESCHICHTE NOCH QUALMT (9-11). Den Band schließen WICHTIGE LEBENSDATEN (472-473) und eine BIBLIOGRAPHIE DER HAUPTWERKE VON ERICH LOEST (474-476) ab.
VI.
Die Herausgeber betonen in ihrer Vorbemerkung die besondere Lebensgeschichte des Autors: bis 1945 glühender Jungnazi, 1947, grad volljährig, SED-Mitglied, ab 1953 kritischer Parteikommunist in Leipzig, 1957 Festnahme und bis 1964 Zuchthäusler in Bautzen, 1981 vorübergehende und ab 1984 dauerhafte Übersiedelung in die Alt-BRD, nach der „Wende“ 1990 Zweitwohnsitz wieder in Leipzig … das zeigt, „wie sehr Loests Leben von der [deutschen] Zeitgeschichte geschüttelt und geprägt“ wurde. Entsprechend wird auf das historische Material von Loest-Romanen verwiesen und auf dessen „Literaturkonzept“ mit aufklärender „romanhaft aufbereiteter Zeitgeschichte [als] einer Quelle des Lernens und Staunens.“
So überzeugend dieses Generalanliegen insbesondere mit Blick auf „die Nachgeborenen“ (Bertolt Brecht) auch ist – ob die zehn genannten, im Buch als readers digest wiederveröffentlichten, die – wie die Herausgeber meinen – „zehn besten“ Loest-Romane sind, mag offen bleiben: weniger, weil etwa der werkgeschichtlich wichtige Roman Fallhöhe8 fehlt (475). Sondern vielmehr wegen des fehlenden Romans Reichsgericht (2001) einerseits. Und weil andererseits in diesem Lesebuch begründungslos nur ausgewählte Romanpassagen erscheinen und damit alles Essayistische und Dokumentarische wegbleibt. Das halte ich beim Zensor-Bericht9 (1984) für vertretbar. Nicht aber beim autobiographischen Text Durch die Erde ein Riß (1981), genauer: in diesem dramatischen Lebenslauf schreibt Loest über das ihn „umstülpende“ Jahr 195310: „Jetzt, sagte er sich heftig und entschlossen, wirst du nie mehr blind glauben, alles wirst du prüfen und Menschen und Dinge wenden. Du wirst dein Gewissen als etwas betrachten, wofür du verantwortlich bist …“
An diese kritischen Kurzhinweise wären bei jeder vertiefenden Diskussion noch mindestens zwei weitere Fragen an die Editoren anzuschließen. Sie verweisen auf eine doppelte Nichtbegründung: warum diese zehn Texte fürs Lesebuch im allgemeinen und warum bei den ausgewählten Texten im Lesebuch speziell diese Textpasssagen?
VII.
Weitere Kritikpunkte am Erich-Loest-Lesebuch beziehen sich auf (scheinbare) Äußerlichkeiten der Buchpräsentation: gemeint ist damit weniger der im Buch selbst (5) prominent placierte Hinweis auf die Stiftungen der Sparkasse Leipzig. Das muß heuer wohl im spätkapitalistisch bestimmten Literaturbetrieb11 nach dem nun-gut-Muster bei Sponsoren(reklame) so sein: der wichtigste Strom ist literaturgesellschaftlich der Geldstrom und nicht der Gedankenstrom …
Geärgert hat mich besonders die doppelt peinliche Reklame fürs Loest-Lesebuch im hinteren Klappentext: das pseudoakademische Gepiffer als „Dr. h.c. mult.“ hat der Schriftsteller Erich Loest ebenso wenig nötig wie die triefige Auslobe des (inzwischen an die Spitze des Bundespräsidialamts gelangten) staatstutteligen „Bürgerrechtlers“ Gauck zum Kulturgroschen (2010).
VIII.
Zum gegenwärtigen weltliterarischen Olymp, dem Literaturnobelpreis, kenne ich einerseits nur die seine Götter entzaubernde Romansatire des geschätzten Carl Djerassi.12 Andererseits kenne ich die – auch literarisch – bedeutsame Steigerung von Müll: Müller. Und Tertium: die entsprechende Steigerung von Loest – Loester – kenne ich nicht.
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1Das halbvolle Glas. Erich Loest Lesebuch. Hg. Regine Möbius; Michael Hametner. Leipzig; London: Plött-ner, 2012, 476 p., ISBN 978-3-86211-060-5; 16 € (D), 16.40 € (A), 19.30 CFr. (CH). Alle Seitenangaben in () beziehen sich hierauf. Zum Buch im Verlag
2 Erich Loest, Pistole mit sechzehn. Erzählungen. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1979: 153-167
3 Richard Albrecht, Der militante Sozialdemokrat. Carlo Mierendorff 1897 bis 1943. Berlin-Bonn: J.H.W. Dietz Nachf., 1987 [= Internationale Bibliothek Bd. 124]: 14
4 Erich Loest, Völkerschlachtdenkmal. Roman. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1984: 135-144; Albrecht, Der militante Sozialdemokrat: 221
5 Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Leipziger Ausgabe, Nr. 27: 4. Juli 1953; zitiert nach 17. Juni 1953
6 WDR-Information, Pressestelle, 3.11.1995: „Über fünf Millionen sahen das Finale auf Leipzigs Straßen“; ebenda, 19.4.1996: „DAG-Fernsehpreis an Autoren der Nikolaikirche verliehen“
7Richard Albrecht, Differenzierung – Pluralisierung – Individualisierung. Umbruchsprozesse der bundesrepublikanischen Gesellschaft; in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 41 (1990) 8: 503-512; auch pdf-Datei: 1990-08-a-503.pdf
8 Erich Loest, Fallhöhe. Roman. Künzelsau: Linden, 1989, 291 p.
9 Erich Loest, Der Vierte Zensor. Vom Entstehen und Sterben eines Romans in der DDR. Köln: Edition Deutschland Archiv, 1984, 96 p.; zu Begriff und Praxis(formen) von Zensur: Richard Albrecht, Literatur - Medien - Zen-sur; in: die horen, 24 (1979) 113: 121-140
10Erich Loest, Durch die Erde ein Riß. Ein Lebenslauf. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1981: 254
11 Richard Albrecht, Literatur/Waren/Produktion, in: die horen, 24 (1979) 116: 127-138
12 Carl Djerassi, Cantors Dilemma. A Novel [1989]; Penguin, ²1991, 229 p.; deutschsprachige Erstausgabe Zürich: Haffmans, 1991, 275 p.; Taschenbuchausgabe München: Heyne, 1994, 287 p.
Richard Albrecht (PhD.; Dr.rer.pol.habil.) ist unabhängiger Sozialwissenschaftler & freier Autor in Bad Münstereifel, vertritt in der empirischen Kultur- und Sozialforschung den „Utopian Paradigm“-Ansatz (Communications, 16 [1991] 3: 283-318), veröffentlichte in den letzten Jahren als Sozialwissenschaftsjournalist vor allem in soziologie heute, Aufklärung und Kritik, der Zeitschrift für Weltgeschichte und dem Netzmagazin Film und Buch sowie die Bücher SUCH LINGE (2008), FLASCHEN POST (Editor, 2011) und den Erzählband HELDENTOD. Kurze Texte aus langen Jahren (2011).
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