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Richard Albrecht
„Vater“ Rhein – Über einen Fluß als Mythos


  Essay
  Vater Rhein
Dadamax 1953


DADA – DADAISMUS – HANS ARP

EVENT – SHOW – PERFORMANCE … UND WAS AUS KUNST ALS PROZESS GEWORDEN IST


Richard Albrecht



Nach Jahrzehnten beredten kunstsoziologischen Schweigens im allgemeinen und im besonderen zu avantgardistischen, umwälzenden, revolutionären künstlerischen Strömungen und Akteuren des vergangenen „kurzen Jahrhunderts“ gab es kürzlich wieder einen selbstbewußten speziell-soziologischen Versuch. Dieser ging keineswegs zufällig rückbezüglich „von Dada“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus. Insofern erkennen die Autoren Hieber/Möbius (2009) im Abriß ihrer Theorie des künstlerischen Aktivismus von Dada bis zur Postmoderne die kulturgeschichtlich-soziopolitische Bedeutsamkeit dieser Künstlerströmung und verweisen auf den „Schocks des Ersten Weltkriegs“ für die Herausbildung einer künstlerischen Avantgarde, die, wie Dada Züri´ „das Versagen der bürgerlichen Kultur angesichts des Gemetzels und ihrem mangelnden Widerstand gegen die Phrasen der Politiker und Generäle“ öffentlich anprangert. Ihrem – politisch durchaus korrekten – Dada-Bild entspricht freilich die Vorstellung eines abstrakten oder sekundären System-Dadaismus ohne konkret-lebendige Dadaisten – grad so als ob weniger „lebende Menschen in ihrer ganzen Subjektivität“ (Paul Feyerabend) als vielmehr „tote Registraturnummern“ (Franz Kafka) interessierten. Diese Sicht führt dann auch an einem Metadadaismus heran, an den über Kunst als Form „neuer Lebenspraxis“ später surrealistisch angeschlossen werden konnte:

„Im Dadaismus kulminieren künstlerische Protestbewegungen, die sich – mit unterschiedlicher Akzentsetzung – sowohl gegen die Konventionen des Kunstbetriebs wie gleichermaßen gegen den politisch-gesellschaftlichen Konservatismus richten. Das wichtigste Medium seines öffentlichkeitswirksamen Affronts ist das Manifest. Die Dadaisten entwickeln zwar neue künstlerische Ausdrucksformen wie etwa das Lautgedicht von Hugo Ball oder die Fotomontage von John Heartfield. Aber sie beschränken sich keineswegs auf formale Innovationen. Die Stoßrichtung und die Identität des Dadaismus ist durch seine Manifeste bestimmt.“

(http://upload.wikimedia.org/wikipedia/en/a/a9/Jedermann_sein_eigner_Fussball.jpg)
„Jedermann sein eigner Fussball“ - Illustrierte Halbmonatsschrift. Hg. Wieland Herzfelde. 1. Jahrgang, Nummer 1, 2 Blatt, 4 Seiten, 42,7 x 29,5 cm. Berlin: Malik, 1919 [Einzig erschienene Zeitschriftenausgabe. Verboten und beschlagnahmt]

Dieser Hinweis ist, auch wenn er sich vor allem auf Künstler-„Manifeste“ kapriziert und insofern eine formale Metasicht ausdrückt, nicht falsch. Er blendet freilich wesentliche Besonderheiten aus. Auch diese lassen sich vergleichbar knapp skizzieren. Wilma Ruth Albrecht (2010) hat sie in ihrer kunsthistorischen tour d´horizon als spezifisch dadaistische Strömung auch in ihrer Formensprache beschrieben und politikhistorisch so verortet:
„Lassen sich manche malerische Ansätze des beginnenden 20. Jahrhunderts auch als visionär-künstlerische Antworten auf das drohendes erste große „Weltfest des Todes“ (Thomas Mann) deuten, so wird dieser Zeitbezug und epochale Bruch mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 ausdrücklich, etwa in der Dada-Strömung, die Lautliches und Visuelles, Poetisches und Skulpturelles, Komposition und Dekomposition, Installation und Deinstallation, Konstruktion und Dekonstruktion, Subjekt und Objekt im lebendigen Gesamtkunstwerk „Mensch“ zu verbinden versucht wie im Werk des Elsässers Hans/Jean Arp (1886-1966) und seiner Zürcher Künstlerkollegen seit 1915/16: Hugo Ball (1886-1927), Tristan Tzara (1896-1963), Richard Huelsenbeck (1892-1947), Marcel Janco (1895-1984), später etwa auch Raoul Hausmann (1886-1971) und Kurt Schwitters (1887-1948).“


Kurt Schwitters, Das Unbild (1919) http://en.wikipedia.org/wiki/File:DasUndbild.jpg

In diesem Kurzessay nun geht es weder um den einen noch um den anderen, sondern um einen weiteren, dritten Aspekt. Zunächst geht es (-> DADA) um die als Kurzgeschichte erzählte Erfolgsgeschichte von Dada und Dadaismus als einer 1916 gegen den ersten Großen Krieg in Zentraleuropa entstandenen politästhetischen Bewegung. Dem folgt (-> ARP) (m)ein Künstlerporträt von Hans (Jean) Arp (*16. September 1886 Straßburg †Basel 7. Juni 1966) als eines authentischen Zür´cher Dadaisten der ´ersten Stunde´ (dessen 125. Geburtstag sich Mitte September 2011 jährt) und dem, zusammen mit seiner langjährigen Lebensgefährtin Sophie Taeubner-Arp (*19. Januar 1889 Davos † 13. Januar 1943 Zürich), einer deutschschweizer Malerin und Bildhauerin, nun auch ein eigenes Museum gewidmet ist: das Ende September 2007 eröffnete, südlich von Bonn linksrheinisch gelegene Arp Museum Bahnhof Rolandseck, direkt an der Rheinschiene. Es präsentiert im Gebäude des Bahnhofs Rolandseck und im Neubau in Rolandseck vor allem Werke beider Künstler. Auch diese Entwicklung aufnehmend und Hinweise von Hannah Arendt (*1906 †1975) zur historischen ´theatralischen Kulissenkultur´ bedenkend, systematisiere ich zum Schluß einen Streitpunkt (-> KUNST) als neue und erweiterte Form von Kunstkommunikation. Hier geht es zugleich um eine Besonderheit von ´moderner´ Kunst und/als Kunst in der ´Moderne´ – die Darstellung von Kunst als Event, als Performance, als Show. Diese Kunstpräsentationsformen diskutiere ich im disharmonischen Schlußakkord als Ausdruck der gegenwärtigen Postmoderne / des aktuellen Postmodernismus und ihrer nachhaltigen antidadaistischen Kehre. Bei alledem orientiere ich mich nicht an Maßstäben heuer propagierter neosoziologischer Korrekturwissenschaft (Hans-Georg Soeffner), sondern an Kriterien herkömmlicher Kulturwissenschaft.

DADA
Am ersten Mittwoch des zweiten Monats im Jahr 1916 eröffneten die deutschen Emigranten Emmy (Ball-) Hennings (*1885 †1949), eine Kabarettistin, und die Schriftsteller Hugo Ball (*1886 †1927) und Richard Hülsenbeck (*1892 †1974) in der Züricher Spiegelgasse 1 eine Cabaret Voltaire genannte Künstlerkneipe. Sie wurde rasch Treffpunkt für jene politliterarischen Außenseiter, die positiv ästhetische Avantgarde und Bohème, negativ Caféhausliteraten und Bummelstudenten genannt wurden. Was am 5. Feber 1916 begann, entwickelten die Genannten gemeinsam mit dem Elsässer Schriftsteller Hans (Jean) Arp (*1886 †1966), dem rumänischen Maler und Architekten Marcel Janko (*1895 †1984) und dem rumänischen Schriftsteller Tristan Tzara (*1896 †1963) bald schon zu einer eigenen, lautmalerisch Dada genannten, Kunst(stil)richtung, deren erste öffentliche „Proklamation“ im April 1916 entstand. Alle bisherigen Hervorbringungen in Literatur und Kunst einschließlich der damals neusten expressionistischen, futuristischen und kubistischen Strömungen und Stilrichtungen wurden grundlegend kritisiert. Die radikale Trennung vom Bestehenden und vor allem dem Weltkrieg mit seinem Massenschlachthaus und Massengrab Europa als letzter Hervorbringung der bürgerlichen Welt und ihren „Wahnsinn der Zeit“ (Hans Arp) sollte auch in der öffentlichen Darstellung formal vollzogen werden durch gezielte Anti-Kunst Provokationen, durch bewußt produzierte Sinnlosigkeit und Antilogik und durch spielerische und Zufallselemente.

Dada [Nullnummer der Zeitschrift] (Zürich 1917) (http://www.kunstwissen.de/fach/f-kuns/o_mod/dada00.htm)
Das politästhetische Paradox Dada als Versuch, über das Strukturprinzip Chaos zu einer neuen Ordnung zu kommen als „Narrenspiel aus dem Nichts“ (Hugo Ball), blieb während des Ersten Weltkriegs auf Zürich begrenzt, breitete sich jedoch nach dessen Beendigung in der europäischen Metropole Paris, in den deutschen Kunststädten Berlin, Köln und Hannover und schließlich auch in der Kunstszene der US-Ostküstenmetropole New York aus.
Dadas frühes Selbstverständnis als politästhetische Antiströmung erklärte der österreichisch-deutsche Dadaist, Maler, Graphiker und Bildhauer Raoul Hausmann (*1886 †1971) in der Rückschau (1920) so:
„Dada wurde erfunden von drei Männern: Huelsenbeck, Ball und Tzara. Zunächst bedeutete Dada nichts als vier Buchstaben, und damit war ein internationaler Charakter gegeben ... DADA war zunächst ein Bekenntnis zur unbedingten Primitivität, von dem Züricher Publikum teils verständnislos, teils erheitert begrüßt. DADA wurde aber die große Elastizität der Zeit, die ihren Maßstab an dem Bürger fand: je seniler und steifer dieser wurde, umso beweglicher wurde DADA. das heute über den ganzen Erdball verbreitet ist. Denn, dies müssen Sie wissen. DADA ist die Wahrheit. die allein zutreffende Praxis des realen Menschen, wie er heute ist. stets in Bewegung durch die Simultanität der Ereignisse. Reklame, des Marktes, der Sexualität, der Gemeinschaftsdinge, der Politik, der Ökonomie; ohne überflüssige Gedanken, die zu nichts führen. Ja. erlauben Sie, Dada ist (und dies argen die meisten Menschen grenzenlos) sogar ganz gegen jeden Geist: DADA ist die völlige Abwesenheit dessen, was man Geist nennt. Wozu Geist haben in einer Welt, die mechanisch weiterläuft? ... es ist Ihnen unmöglich, etwas aufzuhalten: Sie werden einfach gespielt. Sie sind das Opfer ihrer Anschauungsweise, Ihrer sogenannten Bildung, die Sie aus den Geschichtsbüchern, dem Bürgerlichen Gesetzbuch und einigen Klassikern gleich en gros generationsweise beziehen. Sie scheitern an Ihren Voraussetzungen."

ARP
Der britische Dramatiker Tom Stoppard hat mit Travesties 1974 die Aufbruchsstimmung im fiktiven Zusammentreffen so unterschiedlicher historischer Figuren und individueller Temperamente wie James Joyce (*1882 †1941), W. I. Lenin (*1870 †1924) und Tristan Tzara (*1896 †1963) in deren Züricher Emigration während des Ersten Weltkriegs zu bannen versucht. Und es war in Niederdorf ab Frühjahr 1916 das literarische Cabaret Voltaire, in dessen Künstlerkneipenmilieu allerlei Vielspänner und Buntschecker zusammentrafen und sich austauschten. Hier entstand jene ästhetische Kreativität und/als schöpferische Irrationalität in Wort und Bild wie sie sich aus der Reibung am und der Negation des Bestehenden, aus dem Spannungsfeld von destruktivem Abriss und produktivem Aufbau, und damit aus dem, auch ökonomisch bedeutsamen, chaotischen Prozeß schöpferischer Zerstörung ergeben kann. Richard Huelsenbeck erinnerte diese Dada-Seite so:
"Die Dadaatmosphäre entwickelte sich vor der Erfindung des Wortes, wir alle wollten niederreißen und schaffen, wir lebten im Zustand der schöpferischen Irrationalität [...]. Wir waren fähig, alles und nichts zu tun, auf allen Gebieten, nicht nur auf dem Gebiet der Literatur und Malerei, die beide nur deshalb so große Bedeutung gewannen, weil wir für das Ästhetische übersensibel waren. Und weil wir uns dokumentieren wollten."
Zugleich bedeutete diese Dokumentierung andere und neue Formen öffentlicher Auftritte und Präsentationen: Über den Stil wurde nicht nur der Textvortrag, sondern die gesamte Vorstellung revolutioniert. Die Dadaisten im Cabaret Voltaire setzten nicht mehr nur ihre Texte in Szene, sondern inszenierten nun von Anfang bis Ende ihre Auftritte und damit sich selbst on stage – bis hin, so Hermann Korte – „zu Kleidung und Staffage."
Ein halbes Jahrhundert später merkte Reinhard Döhl in seiner germanistischen Dissertation zu poetischen Texten Arps zusammenfassend an, dass auch dessen "künstlerischer Neuansatz" wohl in der (auch vergnüglichen) Erprobung neuer Sprach- und Spielformen und Verfremdungen poetischen De-Konstruktivismus' bestünde - dass aber Arps Texte letztendlich (wie in seiner Textzeile weisst du schwarzt du, die auf mich wie ein konstruktives Lehrbeispiel wirkt) und entgegen aller beanspruchter ästhetischer Negation an consensuale kulturgesellschaftliche Kriterien und Werte einer Gesellschaft und ihrer Kunstvorstellungen und -formen gebunden sind.
Freilich lässt sich an der Künstlerpersönlichkeit Arps zeigen, was - später von ihm zunächst elementare und dann konkrete Kunst genannte - tieflotende ästhetische Innovation war. Korte schreibt:
„Arp gehörte im Cabaret Voltaire bis auf den Vortrag von Simultangedichten nicht zum festen Kreis derjenige Künstler, die mit eigenen Texten auftraten. Dennoch war es gerade Arp, der die Negation jener in Mode gekommener expressionistischen Weltauf- und -untergänge mit Reflexionen auf einen radikalen Neuanfang der Kunst verband [...] Wie auf der Bühne des Cabarets Voltaire sich konventionelle literarische Formen im Laut-, Geräusch- und Simultangedicht auflösten, durchbrach Arp - geschult am französischen Kubismus, an Picasso und Braque - bildnerische Konventionen, die noch für die Expressionisten sakrosankt waren, experimentierte mit Klebe-, Zerschneide- und Zerreißtechniken und suchte nach einer abstrakten, elementaren, zuweilen geometrischen Bildersprache jenseits traditioneller Öl- und Tafelmalerei."
Nach dem Ersten Weltkrieg kommt Arp nach Deutschland und ins Rheinland. In Köln lebt sein Vater. Hier wird Arp noch einmal dadaistisch aktiv, trifft und befreundet sich mit Max Ernst (*1891 †1976) und Kurt Schwitters (*1887 †1947), in dessen Zeitschrift Merz auch Arp publiziert. 1922 heiraten Sophie Taeuber und Arp, ab 1925/26 leben sie vor allen in Neudon bei Paris. 1924/28 engagiert sich Arp im Sinn der französischen Surrealisten, erprobt als Maler Zufallselemente als Grundlagen der Formgestaltung, experimentiert in konkreter Kunst.

Hans (Jean) Arp (Foto um 1926) (http://www.arpmuseum.org/html/museum/cont_arp.html)
In den zwanziger Jahren veröffentlicht Arp in Deutschland vier Poesiebände: Der Vogel selbdritt und Die Wolkenpumpe (beide 1920), Der Pyramidenrock (1924) und weisst du schwarzt du (1930). Seit Anfang der 1930er Jahre konzentriert sich Arp als Künstler zunehmend auf seine plastischen Arbeiten. Dazu Linda v. Mengden im Katalog des Ludwigshafener Hack-Museums:
"Ab 1930 widmete sich der Künstler vor allem plastischen Arbeiten, die das Prinzip der biomorphen, organoiden Zell-Form ins Dreidimensionale übersetzten. Es sind glattpolierte, fließende Steine, zumeist Marmorskulpturen, die den Eindruck sinnlicher Körperhaftigkeit vermitteln; eine Vorstellung, die umschlägt in Assoziationen an Mineralisches oder Tierisches, als würde sich die Form vor unseren Augen verwandeln. Diese Metamorphosen der Plastiken Arps scheinen Bilder aus den Tiefen einer mythischen Vorzeit hervorzurufen, die der Künstler in den Ausdruck eines zeitlosen, heiteren Glücks übersetzt.“
Damit sind zwei wesentliche Werkelemente und Arbeitsgrundsätze Arps und seiner Zeichnungen, Collagen, Reliefs, Skulpturen und Plastiken angesprochen: Die Verbindung von Zufall und Mythos zu einer neuen Einheit. Beide Momente bestimmen Arps abstrakte Formen. Etwa in seinen Plastiken seit Beginn der dreissiger Jahre. In der Vereinigung dieser ´organoiden und biomorphen Elementen mit den Zufallskomponenten aus der geometrischen Abstraktion´ zu bisher unbekannten, damit einzigartigen Formen liegt auch das ästhetisch Neue der Arp´schen Formen und Bilder- und Symbolsprache, die damit auch neue subjektive Erfahrungswelten in uns als aktiven Betrachtern und Sehern ("Rezipienten") anklingen lassen kann - und zwar unabhängig vom persönlichen Wollen des Künstlers und seinem individuellen Streben nach absoluter Universalität (als Werkbeispiel etwa Die Ägypterin, um 1938, aus weißem Marmor, eine raumfigurell wirksame relativ kleine Figur mit runden Körperformen ohne jeden Anklang an Nofretete ... abstrakt und sinnlich zugleich).
Nimmt Arp aus der dadaistischen Lust an schöpferischer Zerstörung vor allem die Zufallskomponente (die Victor Vasarely [*1906 †1997] in seiner Op-Art später perfektionierten sollte) ins weitere Werk mit, so wendet er sich doch (als meines Wissens einzig bekannter Dadaist) später dann anderen, mysthische(re)n Welten zu. Diese setzt Arp in besonderen Formen (etwa oval und glatt) um. Auch erhält nun die (ästhetische Anti-) Farbe weiß ihren Platz (wie im Zentrum der hier reproduzierten Arp-Lithographie 1959/60). Entsprechend sind für den "reifen" Arp nach postdadaistischen Übergangs- und Suchphasen (1926/30) typische Topoi und "Motivkreise" vor allen im plastischen Werk Menschliche Konkretion (von 1934) mit Assoziationsanschlüssen etwa an triptichale und andere Dreiheiten. Oder Sagengestalten wie die Figur des Gnom und, immer wieder, Sterne (wie der von 1939 auf Arps Grab).

Reproduktion einer um 1959/60 entstandenen Hans-Arp-Lithographie. Im Original zweifarbig von außen nach innen / großen zu kleinen Formen gelb und grau. Die innere Figur ist weiß (Format 14,5 x 20,5 cm). [Original im Privatarchiv des Autors]
Letztgenannte Motivgruppe findet sich auch im zeichnerischen Werk etwa im Kippbild Ohne Titel (um 1959), das ein runzliges Greisen- oder Gnomengesicht, eingelagert in einen Viertelmond, zeigt (im Katalogband Der gestirnte Himmel seitenverkehrt reproduziert). Und auch Arps Altersbild Drei Sterne (um 1961) mag die unermüdliche Auseinandersetzung des Künstlers sowohl mit allem Irdischen als auch mit manchem, was drüber hinaus lebt, veranschaulichen.



KUNST

Veröffentlichung oder Publizierung und Präsentation moderner und aktueller Kunst und ihrer Werke erscheint heute umso wirksamer je mehr die Veranstaltung selbst wenigstens als event wenn nicht als performance propagiert und organisiert wird. Event meint ein besonderes, herausragendes Ereignis (also das, was englisch immer noch "quite an event" heisst). Performance meint unabhängig davon, ob der/die Künstler/innen noch leben und/oder selbst auftreten, spezielle werkbezogene Aufführung und Darstellung.


Eröffnung der „Ersten Internationalen Dada-Messe“ durch führende Dadaisten,
30. Juni - 25. August 1920 in Berlin
(Quelle H.J. Krysmanski; Thomas Neumann, Gruppenbild. Deutsche Eliten im 20. Jahrhundert;
rororo Sachbuch 8721, Reinbek 1987: 34/35)

Das bedeutet zum einen, daß mit der performance auch das Werk in den Hintergrund verwiesen werden und die theatralische Inszenierungspraxis im Vordergrund stehen kann. Diese Grundunterscheidung verweist zum anderen auf eine entscheidende Differenz und Scheidelinie zwischen moderner und postmoderner Kunst seit Beginn des zwanzigsten Jahrhundert mit seiner ´klassischen Moderne´: Was als event ereignishafte Präsentationsmöglichkeit von Werk/en und/oder Künstlern (beiderlei Geschlechts, auch folgend sind Künstlerinnen immer mit einbezogen) ist und hinreichende Bedingung für alle Kunst(werke)präsentation, -publikation, -rezeption und –wirkung bleibt - wird im "late modern age" (Anthony Giddens) als Inszenierungsnotwendigkeit auf der Folie objektiver Fähigkeiten und subjektiver Fertigkeiten so grundlegendes wie unverzichtbares ästhetisches Kennzeichen von Postmodernität: nun muss das (Kunst-) Werk weder in herkömmlichen ästhetischen Sinn "schön" sein noch auch nur so scheinen: Es muss vielmehr vor allem marktig (hoch-) gerechnet werden können – eine Entwicklung, die der Kunstwissenschaftler Werner Hofmann schon Ende der 1960er Jahre in die so eingängige wie oberflächliche Formel „Alles muß Ware werden“ preßte (Die Zeit vom 21. Feber 1969: 13).
Auch wenn sich Arps Werk zunächst mehr mit jener "klassischen" künstlerischen Modernität, die sich (nicht nur in Deutschland) mit Formensprache und Funktionsweise des Bauhauses der 1920er Jahre verbindet und zugleich von der immer beliebigeren Postmodernität unterscheidbar ist, zurechnen lässt, so sind doch auch in Arps gesamtem künstlerischen Schaffen schon im Ansatz wesentliche postmoderne Rezeptionselemente und Wirkungsvorgaben enthalten, einbezogen oder incorporiert. Das wurde schon Mitte der 1990er Jahre deutlich. So verwies etwa die Theater-Rundschau (1997) unter der Überschrift "Weltkür für Hans Arp" (mit dem Anschauungsbeispiel einer miniaturisierten Arp-Plastik-Reproduktion im Format 4,5 X 5,5 cm) auf eine besondere Weltreise:
"Auf großer Reise befinden sich derzeit dreißig Bronzen aus der Hans-Arp-Stiftung im Rolandsecker Bahnhof an Rhein bei Bonn nebst weiteren Arbeiten von ihm und seiner Frau Sophie Taeuber-Arp. Nach der Eremitage St. Petersburg geht es rund um die Welt. Stationen sind u.a. Tokio, New York, London und die Kulturhauptstadt Europas, Thessaloniki. Das eigentliche Ereignis soll dann die Rückkehr nach Rolandseck 1998/99 sein - dann eröffnet die zurückgekehrte Sammlung ihre neue Heimstatt in dem von Richard Meier gebauten Hans-Arp-Museum - hintern Bahnhof, hoch überm Rhein."
Das weltreisende Werk Arp´scher Bronzen konnte, sollte und wurde übers event hinaus genutzt und mit show- und performance-Elementen wirksam verbunden bis hin zum finalen Kulminationspunkt dieser aufwändig inszenierten „theatralischen Kulissenkultur“ (Hannah Arendt ) als neues, seit Mitte der 1990er Jahre geplantes Arp Museum – was durch die Verausgabung enormer finanzieller Mittel der (damaligen und heutigen) Landesregierung des deutschen Bundeslandes Rheinland-Pfalz auf Grundlage einer fiktiven Bewertung des Arpwerks in (wirklicher oder vermeintlicher ) Gesamthöhe von 60 Millionen DM [1997] möglich wurde. Das Projekt Arpmuseum wurde auch gegen nachhaltigen Widerstand verwirklicht und auf Grundlage der Design-Entwürfe des Star-Architekten Richard Meier schließlich Ende 2007 eröffnet. Insofern wurde, wenn auch nahezu ein Jahrzehnt später als projektiert, auch am Rhein der (umbaute) Raum selbst, hier in Gestalt eines neuen Museums, unverzichtbares Inszenierungsmerkmal ästhetischer Postmodernität und selbst zum event und show einvernehmenden performance-Prozeß.
Auch in anderer Hinsicht erfuhr die Entwicklung zur postmodernen Performance in der zweiten Hälfte der 1990 Jahre entscheidende Impulse: etwa in Form der 64 weißgelackten Rheinbrücken-Stautos des bekannten rheinkölnischen Aktionisten H. A. Schult (1997) oder beim nordrhein-westfälischen Designzentrum in der nach Plänen des Stararchitekten Sir Norman Forster umgebauten Essener Zeche Zollverein XII (1997). Diese Entwicklung mag wer immer will als allgemeinen Wesenszug von Postmodernität beklagen. Als Prozess zunehmender Einbeziehung von Showelementen in Werkausstellungen einerseits und fortschreitende Ästhetisierung von Ausstellungsräumen andererseits kann er freilich nicht rückgängig gemacht werden. Dieser Prozeß entspricht dem robusten Trend vom event über performance zur show, ist mediengesellschaftliche Realität, kann nur durch gewaltsame Strukturbrüche rückholbar sein und ist damit auch bürgergesellschaftlich irreversibel.
So gesehen, mag das nun seit 1997 realexistierende Arp Museum Bahnhof Rolandseck auf eine auch kunstsoziologisch typischerweise übersehene Besonderheit der Wirksamkeit von ´moderner´ Kunst im postmodernen kulturellen Feld verweisen. Hier geht es nämlich nicht nur um von allgemeiner Beliebigkeit begünstigten relativistischen Wertenihilismus, um antiaufklärerische Vernunftrücknahmen, um die Ersetzung von Argumenten durch Behauptungen, um die so universal-omnipräsente wie aufwändig-massenmedial unternommene „Verdummungsindustrie mit ihren Verblendungs-, Verkehrungs- und Umwertungsmechanismen zur strategischen Verstärkung der durch den Warenfetisch jeder kapitalistischen Gesellschaft immer schon gegebenen spontanen Mystifikation als ´gesellschaftliche Gefolgschaft´“ (Richard Albrecht), ums Ersetzen von Arbeit durch Interaktion / Kommunikation, um die Verkürzung gesellschaftlicher Diskurse auf „kommunikative Kompetenz“ genanntes mittelstandsbestimmtes Sprechhandeln zur abstrakt-allgemeinen Explikation der „Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus“ und um die beanspruchte postmodern(isch)e „neue Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas).
Vielmehr geht es um etwas, das Robert Musil zu Beginn seines Jahrhundertromans dem dominanten Wirklichkeitssinn gegenüberstellte und bewußt Möglichkeitssinn nannte. Möglichkeitssinn ist als Ausdruck aller „konkreten Utopie“ (Ernst Bloch) und des künstlerischen „Empfindens in potentiell humanen Zukunftsperspektiven“ (Wolfgang Abendroth) speziell in Kunstwerken aufgespeichert und auch in einer Zeit aneigbar, in der – so Hartmut Krauss als subjektwissenschaftlicher Ideologiekritiker der „Post-Moderne“ (2003) – „die Suche nach der Rekonstituierung von ganzheitlichem (Lebens-) Sinn“ wächst. Und diese Suche war geschichtlich, ist gegenwärtig und bleibt zukünftig – wie ich meine – auch eine Kernkompetenz von Kunst.

Postmodern(istisch)e Performance und ihren Event- und Showcharakter bedien(t)en Großverpackungsspezialisten wie Christo mit Jeanne-Claude mit ihren Aktionen. Sie entsprechen dem scheinbar das Bewußtsein bestimmenden Schein im Doppelsinn und bilden die postmodern(isch)e
Triade Design – Schein – Sein. Postmodern(isch)e Ideologie zeigt ihre Zerstörungskraft auch in der Mißachtung des ans Kantische interessenlose Wohlgefallen von Kunst, Künstler und Werk gebundenen Möglichkeitssinns, welcher sich – so Musil zu Beginn des vierten Abschnitts seiner „Art Einleitung“ im ersten Buch von Der Mann ohne Eigenschaften (1930) – „geradezu als die Fähigkeit definieren [ließe], alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“

Auch im 21. Jahrhundert, genauer an der Schwelle zu dessen zweitem Jahrzehnt, gilt für alle auf
Möglichkeitssinn beruhenden Fiktionen und Utopien, utopischen Fiktionen und fiktionalen Utopien ihr Sinnbezug: die Bewältigung „schwieriger oder unlösbar scheinender Probleme oder Situationen“ (Georg Klaus).

Und weil auch in der Postmoderne rational-argumentativ nicht bestritten werden kann, was schon Franz Kafka (1915) in seiner lakonischen Türhüterformel: „
Es ist möglich, jetzt aber nicht“ ansprach, wird allein schon die Möglichkeit einer anderen sozialen Welt als künstlerische Vision auch von allen noch so geschmeidigsten postmodern(isch)en Ideologen nach dem Motto Utopie war gestern denunziert, exkludiert und destruiert.

Das freilich bedeutet auch, daß diese so praktische wie wirksame Ideologie und ihre „konzeptiven Ideologen“ (Karl Marx) keinerlei Utopie zu verraten haben … weil sie
keine Utopie haben.














Literatur

Dada Hermann Korte, Die Dadaisten. Reinbek: rowohlts monographien 536, 1994, 160 p. – Karl Riha (Hrg.), Dada Zürich. Texte, Manifeste, Dokumente. Stuttgart: Reclams Universal Bibliothek 8650, 1992, 176 p. – ders. (Hg.), Dada Berlin. Texte, Manifeste, Aktionen. Stuttgart: Reclams Universal Biblibliothek 9857, 1994, 184 p. Arp Richard Albrecht, Dubiose Vorgänge ums Hans-Arp-Museum in Remagen; in: Schweizer Monatshefte, 78 (1998) 7/8: 53-56 – ders., "weisst du schwarzt du": Hans Arp, 1886-1966. Porträt eines Künstlers des/im 20. Jahrhunderts (2005)
http://www.grin.com/e-book/109709/weisst-du-schwarzt-du-hans-arp-1886-1966 – Reinhard Döhl, Das literarische Werk Hans Arps 1903-1930. Zur poetischen Vorstellungswelt des Dadaismus. Stuttgart: Metzler, 1967 [ = Germanistische Abhandlungen 18], xi/268 p. – Stefanie Poley, HANS ARP. Die Formensprache im plastischen Werk. Mit einem Anhang unveröffentlichter Plastiken. Stuttgart: Hatje, 1978, 220 p. – Fritz Usinger, Die dichterische Welt Hans Arps. Wiesbaden: Franz Steiner, 1965 [= Abhandlungen der Klasse der Literatur Nr. 3]: 49-61 – Ausstellungskataloge HANS ARP. Eine Publikation der Kunsthalle Nürnberg [...] Ostfildern: Hatje, 1994, 192 p. – Hans Arp 1886-1966. Aufkäufe des Landes Rheinland-Pfalz. Mainz: Landesmuseum; Ludwigshafen: Wilhelm-Hack-Museum, 1997, 160 p. – Hans Arp und andere: Der gestirnte Himmel. Bahnhof Rolandseck: Stiftung Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp e.V., 1997, 64 p. Kunstsoziologisches Wilma Ruth Albrecht, „Wer von den Produktionsverhältnissen nicht reden will, sollte vom malerischen Schaffen schweigen …“ Illustrierte These zur Malerei als Prolegomena einer speziellen Soziologie der Künste; in: soziologie heute, 3 (2010) 15: 18-23 – Lutz Hieber; Stephan Möbius, Grundriss einer Theorie des künstlerischen Aktivismus von Dada bis zur Postmoderne; in: dies. (Hg.), Avantgarden und Politik. Künstlerischer Aktivismus von Dada bis zur Postmoderne. Bielefeld: transcript, 2009, 354 p., 7-29; auch: http://www.transcript-verlag.de/ts1167/ts1167_1.pdf Ideologiekritik Richard Albrecht, The Utopian Paradigm – A Futurist Perspective; in: Communications, 16 (1991) 3: 283-318 – ders., Sozialwissenschaft ist nicht so schön wie Kunst. Macht aber genauso viel Arbeit; in: SUCH LINGE. Vom Kommunistenprozeß zu Köln zu google.de. Sozialwissenschaftliche Recherchen zum langen, kurzen und neuen Jahrhundert. Aachen: Shaker, 2008 [ = Sozialwissenschaften], 110 p., 5-18 – ders., Theatralische Kulissenkultur. (2010): http://soziologisch.wordpress.com/2010/10/12/theatralische-kulissenkultur/ – Hartmut Krauss, Das umstrittene Subjekt der „Post-Moderne“; in: Hermann Kopp; Werner Seppmann (Hg.), Gescheiterte Moderne? Zur Ideologiekritik des Postmodernismus. Essen 2002: 93-121 – Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft [1954]. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler. Berlin/Weimar: Aufbau, ³1984, 692 p.

~ 28.735 Gesamtbruttozeichen; ~ 3.700 Worte
Erstdruck in: soziologie heute (August 2011), 4 (2011) 18: 28-32
© Autor 2012
Richard Albrecht (PhD.; Dr.rer.pol.habil.) ist unabhängiger linksintellektueller Sozialwissenschaftler. Er lebt als freier Autor und Editor in Bad Münstereifel, vertritt in der empirischen Kultur- und Sozialforschung den „Utopian Paradigm“-Ansatz (-> Communications, 16 [1991] 3: 283-318), veröffentlichte als Sozialwissenschaftsjournalist in den letzten Jahren regelmäßig unregelmäßig in Aufklärung und Kritik, Auskunft, Forum Wissenschaft, soziologie heute, Zeitschrift für Politik, Zeitschrift für Weltgeschichte, in den Netzmagazinen filmundbuch und poetenladen sowie die Bücher SUCH LINGE (2008), FLASCHEN POST (Editor, 2011) und den Erzählband HELDENTOD. Kurze Texte aus langen Jahren (2011); e-Archiv des Autors -> http://eingreifendes-denken.net Bio-Bibliographischer Link -> http://wissenschaftsakademie.net e-Postadresse -> eingreifendes.denken@gmx.net







„Father“ Rhine – Aspects of a River as/and a Myth

In his short essay, the author, a German social psychologist/literary sociologist, takes the Rhine seriously both as given reality and literary metaphor. Given this two general dimensions, in his setting Richard Albrecht (i) briefly describes the shape of the river Rhine, (ii) sketches insight views into the world of the Rhine and its functions within the last two centuries, and (iii) discusses both meaning and effect of the myth Rhine according to projective processes which create specific images of "Rhine", labelling him as a „father“, and using his features, like e.g. the Rhine valley inmidst Germany or the tiny rock-cliffs named Loreley, for basic cultural performances, and actual commercial interests, too. (When arguing, the author in his piece of scholarly ›faction‹ above all quotes literary texts as published within the last two centuries.)


In diesem Kurzbeitrag geht es entsprechend der über­greifenden Frage­stellung um den Rhein als Metapher und Projektionsfläche. Der Autor beschäftigt sich als So­zial­psycho­loge / Lite­ratur­soziloge nach ein­leitenden allgemeinen Hinweisen zur Realität von Geschichte, Lage und Entwicklung des Rheins als Fluss mit dem Rheinmythos als sinn­stiftender Zuschreibung. Deutlich wird nicht nur die seit nunmehr zwei Jahr­hunderten von deutschen Romantikern literarisch begründete und bis heute wirksame projektive Anthro­pomorphi­sierung des Rheins als gütiger „Vater Rhein“, sondern auch Ver­arbeitung und Nutzung dieses Rhein-Bildes und seiner einzelnen Bestandteile wie z.B. Land­schaft des mitt­leren Rheintals oder des verführerischen Rhein­felsens Loreley sowohl für grund­legende kulturelle Inter­essen als auch für aktuelle kommerzielle Zwecke. (Zur Ver­anschau­lichung seiner Thesen und Hinweise verweist der Autor weniger auf wissen­schaft­liche als vielmehr auf lite­rarische Texte aus den letzt­beiden Jahr­hunderten in Form einer ›faction‹–Montage)



„An einem Strom geboren zu werden, im Umkreis eines großen Flus­ses auf­zuwachsen, ist ein beson­deres Geschenk.“
(1966) Carl Zuckmayer (1896-1977)1

„Ich bin vom Rhein, und sah jeden Tag den Rhein mit Neid an, weil er bald in Holland ins Meer flie­ßen wird.“ (1957) – „Ein Fluß spielt in fast allen meinen Ge­schichten und all meinen Romanen eine gewisse Rolle.“
(1965) Anna Seghers (1900-1983)2

I.

Und als ich an die Rheinbrück' kam,
Wohl an die Hafenschanze,
Da sah ich fließen den Vater Rhein
Im stillen Mondenglanze.

»Sei mir gegrüßt, mein Vater Rhein,
Wie ist es dir ergangen?
Ich habe oft an dich gedacht
Mit Sehnsucht und Verlangen.«

So sprach ich, da hört ich im Wasser tief
Gar seltsam grämliche Töne,
Wie Hüsteln eines alten Manns,
Ein Brümmeln und weiches Gestöhne:

»Willkommen, mein Junge, das ist mir lieb,
Daß du mich nicht vergessen;
Seit dreizehn Jahren sah ich dich nicht,
Mir ging es schlecht unterdessen. […]«

So klagte der arme Vater Rhein,
Konnt sich nicht zufriedengeben.
Ich sprach zu ihm manch tröstendes Wort,
Um ihm das Herz zu heben:
»O fürchte nicht, mein Vater Rhein,
Den spöttelnden Scherz der Franzosen;
Sie sind die alten Franzosen nicht mehr,
Auch tragen sie andere Hosen.

Die Hosen sind rot und nicht mehr weiß,
Sie haben auch andere Knöpfe,
Sie singen nicht mehr, sie springen nicht mehr,
Sie senken nachdenklich die Köpfe.

Sie philosophieren und sprechen jetzt
Von Kant, von Fichte und Hegel,
Sie rauchen Tabak, sie trinken Bier,
Und manche schieben auch Kegel.

Sie werden Philister ganz wie wir,
Und treiben es endlich noch ärger;
Sie sind keine Voltairianer mehr,
Sie werden Hengstenberger. […]

Gib dich zufrieden, Vater Rhein,
Denk nicht an schlechte Lieder,
Ein besseres Lied vernimmst du bald -
Leb wohl, wir sehen uns wieder.3


II.

Im wirklichen Leben ist „Vater Rhein“ seit Beginn der ganz­deutschen Nuller­jahre ein Club­hotel: rechts­rheinisch zwischen Linz und Neuwied am Rhein gelegen, gegen­über von Bad Breisig zwischen Remagen und Andernach. Das weiß ich aus dem Netz. Über das ich mehr erfahren und – bei Bedarf – per Mail / via e-Post bei info@vater-rhein.de reser­vieren lassen könnte.

Damit sind wir aktuell und alltäglich mittendrin. Nicht im Rhein. Doch sowohl in der virtuellen wie reellen Wirklichkeit des heutigen Rheins. Der beides zugleich ist: Wirk­lich und unwirk­lich, Mythos und Realität, histo­rische Vir­tua­lität des Mythos und actuelle Realität des „word wide web“. Und wer immer dieser Tage nur mal den „Mythos Rhein“ durchgooglet – also die verbreitete Suchmaschine dieses Namens strategisch nutzt – müsste heuer, Ende Juni 2012, 2.100 online-Hinweise erhal­ten ... bei „Vater Rhein“ sind es etwa 161.000 Netzfund­stellen.


III.

Der reale Rhein – fluvius Rhenus – war und ist ein Fluss. Kein plätschernder Bach. Kein reißender Strom. Er fließt etwa 1.320 km von der graubündner Quelle bei Schloss Reichenau bis zur Mündung nahe dem niederländischen Rotterdam, vor­nehmlich durch Deutsch­land und markiert als „National­symbol“ die Grenze zwischen diesem und Frankreich. Zugleich ist „Vater Rhein“ Namenspatron zweier deutscher Bundes­länder: Rheinland-Pfalz, das ihn als „roman­tischen Rhein“, zwei­hundert Jahre nach seiner Entdeckung, Ende Juni 2002 als welt­weites UNESCO-Erbe feierte. Und des größten ganz­deutschen Binde­strich­lands Nord­rhein-West­falen mit dem anti­preus­sischen Rhein­land – wobei beide Bundes­länder auch zum Rhein Besonder­heiten auf­weisen: Rheinland-Pfalz als Wein­land mit wein­minis­teriel­ler Landes­regie­rung, der grössten Rhein­insel Nieder­werth, einem Dorf zwischen den beiden Rhein­armen nördlich von Koblenz und im Nord­zipfel Rolands­eck mit berühmten Bahn­hofs­toiletten und einem noch berühm­teren Museum.4. Nordrhein-West­falen mit dem Narren­zentrum Köln (NKZ)5, dessen anti­podischer Landes­haupt­stadt (LHD) Düssel­dorf und einem knappen Drittel (28 von 89) aller Rhein­brücken in Deutschland; im NRW-Süden jene – angeblich – so „kleine Stadt am Rhein“6, die faktisch fünf Jahr­zehnte deutsche Bundes­hauptstadt war, nun Bundesstadt ist und, dem 1985 posthum erst­veröf­fent­lichten „Roman in Dialogen und Selbst­gesprächen“7 des Lite­ratur­nobel­preis­trägers von 1972, Heinrich Böll (1917-1985), zufolge zwischen Weint­rinkern im Süden und Schnaps­trin­kern im Nor­den liegt ...


IV.

Das Rheinische also, das, wie der Rhein selbst, immer zwei Seiten hat: Links­rheinisch und/versus rechts­rheinisch, letztere kölsch „schääl sick“ genannt. Weniger tümelnd mit Ernst Bloch (1885-1977) veran­schaulichbar in der Konkurrenz zwischen dem indu­strie­bürgerlich-rechts­rheinischen Mannheim und dem chemie­proletarisch-linksr­heinischen Ludwigs­hafen8. Zugleich verläuft die mit dem Rhein als Fluß markierte „natürliche“ Grenze nicht nur etwa zwischen dem deutschen Kehl und dem französischen Strasbourg oder zwischen Frankreich und Deutsch­land. Sondern soll auch die zwischen Teutonen und Galliern, leichter und ernster Lebens­art meinen:

„Ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden, doch ihre Weine trinkt er gern“ – lässt Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) in Auerbachs Keller einen ange­trunkenen Studiosus lallen, nachdem Mephis­to­pheles stichelte:

„Ich tränke gern ein Glas, die Freiheit hoch zu ehren, wenn Eure Weine nur ein bisschen besser wären“9.


V.

Die Grenze: Sie kann nie hermetisch sein – dies wäre besten­falls Ideo­logie, schlimms­tenfalls Dyst­opie sondern war und ist real­historisch-empi­risch immer durch­läs­sig seis für Men­schen seis für Waren und ihre – Händler ge­nannten – Mittler. Auch dies wird am Rhein deutlich: Carl Zuckmayer (1896-1977) hat seinen dubiosen Helden Harras im „Teufels Gene­ral“ (1946) vom Rhein als Veran­schau­li­chung rheini­scher Geschichte, als eth­nische Schmelz­tiegel­praxis, Wiege des Abendlands und zur Ver­lächer­lichung der rassis­tischen Arier­nachweis­pflicht des National­sozia­lismus sagen lassen10:

„Vom Rhein. Von der großen Völkermühle. Von der Kelter Europas! Und jetzt stellen Sie sich doch mal Ihre Ahnen­reihe vor – seit Christi Geburt. Da war ein römi­scher Feld­haupt­mann, ein schwar­zer Kerl, braun wie 'ne reife Olive, er hat einem blonden Mädchen Latein bei­gebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürz­händler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ gewor­den und hat die katholische Haus­tradition begrün­det. – Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Lands­knecht, ein schwe­discher Reiter, ein Soldat Napoleons, ein derser­tierter Kosak, ein Schwarz­wälder Flözer, ein wandernder Müllersbursch vom Elsaß, ein dicker Schif­fer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offi­zier aus Wien, ein franzö­sischer Schau­spieler, ein böhmi­scher Musikant – das hat alles am Rhein gelebt, ge­rauft, gesoffen und gesun­gen und Kinder gezeugt und der Goethe, der kam aus dem­selben Topf, und der Beethoven, und der Gutenberg, und der Matthias Grünewald, und – ach was, schau im Lexi­kon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der Welt! Und warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben. Ve­rmischt – wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem großen, leben­digen Strom zusammen­rinnen. Vom Rhein – das heißt: vom Abendland.“11


VI.

Gegenüber diesem historischen Bogenschlag nimmt sich der neuzeitliche Mythos vom „Vater Rhein“ bescheiden/er aus – greift dieser doch nur zwei Jahr­hunderte zurück, genauer: Auf die deutsche Romantik als durch Welt­schmerz, Sehnsucht und Verlangen gekenn­zeichnete Litera­rizität zu Beginn des 19. Jahr­hundert. Der Rhein bot sich an als Pro­jek­tions­ob­jekt oder Emotions­con­tainer für diese sub­jektiven Gefühls­welten und ästhe­tische Deu­tungen und wurde, anthro­pomor­phi­siert als „Vater Rhein“, ent­sprechend ver­nutzt von Clemens Brentano (1778-1842) – aus Ehren­breit­stein –, der gemein­sam mit seinem „Herzbruder“ und Mithe­raus­geber der drei­bändigen Volks­lied­sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ (1806-1808), Achim v. Armin (1781-1831), 1802 den Rhein bis Koblenz bereiste und später seine „Märchen vom Rhein“ zur Stili­sierung des Mittel­rheins im „Rhein­mär­chen“ mit seinem „Vater Rhein“ schuf ... wobei unsre Roman­tiker immer­hin an­schlie­ßen konn­ten an so ein­präg­same lite­ra­rische Reise­bilder wie Friedrich Höl­der­lins (1770-1843) vom „majes­tätisch ruhi­gen Rhein“ (von 1788) oder Niko­laj Michai­lo­witsch Karam­sins (1766-1826) „Tränen des Kum­mers“ ange­sichts verhee­render Rhein­über­schwem­mungen (von 1791/92) oder Georg Forsters (1754-1794) Reise­bericht „Von Bingen nach Ko­blenz“ (von 1790)12. Und noch Goethe ver­klärte später im 13. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ das Schloss Ehren­breit­stein als „herrlich und majes­tätisch [...], in seiner Kraft und Macht voll­kommen ge­rüs­tet“.13

Popularisiert – und später trivialisiert – wurde das romantische Rheinbild einige Jahre später von Aloys Wilhelm Schreiber (1763-1841) in seinen gereimten „Anleitungen den Rhein zu bereisen“ (1815) und folgend im „Handbuch für Reisende am Rhein“ (1818). Es folgten zahlreiche romantische Rhein­elegien nament­lich von englischen Lyrikern (etwa den „lake-poets“14).

Insofern trifft die vom damaligen Staatssekretär im weinland-pfälzischen Landes­ministeriums für Bildung, Frauen und Jugend und heutigem Ober­bürgermeister der die letzte Bundes­gartenschau ausrichtenden „kleinen“ Rheinmetropole Koblenz – Dr. Joachim Hofmann-Götting – im Sommer 2002 öffentlich vorgetragene „Begründung“ zur Aner­ken­nung dieses „Schick­sals­stroms“ als UNESCO-Welt­kultur­erbe zu15:

„Das Rheintal ist wie keine andere deutsche Landschaft durch die Bewegung der Roman­tik zur besonderen Region von internationalem Rang geworden. Es waren nicht Rhein­länder, es waren Eng­länder, die zu Beginn des 19. Jahr­hun­derts die Schön­heiten links und rechts des Rheinufers mit seinen Burgen, Bau­denk­mälern und histo­rischen Ruinen priesen und damals die Reiselust der Dichter ent­fachten [...] Nicht zuletzt faszi­nierten auch die Märchen und Sagen, die sich um Ro­lands­bogen, Drachen­fels, Mäuseturm und Loreley rankten.“


VII.

Die zuerst von Clemens Brentano um 1800 verdichtete Lore-Lay-Sage um den mythischen Ort und Felsen am Mittelrheintal des Loreley-Felsens und seines Echos verband dieser Autor er mit einer weib­lichen sirenen- oder nixen­haften Schönen, deren Gesang vorbeifahrende Schiffer ablenkte, die dann in den Rhein­fluten unter­gingen16. nahm auch, ganz ungebrochen, der große rheinische Spötter Heinrich Heine (1797-1856) in (s)einem Kurz­poem auf: Lore-Ley als Elegie und deutsche Varia­tion des klas­sisch-helleni­schen Sirenenmotivs um weibliche Fabelwesen, die See­leute so betören, dass diese sich vor Sehn­sucht verzehren, sich vergessen und schließlich (nicht nur, aber auch) von den Wellen verschlungen werden17:

Lore-Ley

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Daß ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.

Die Luft ist kühl und es dunkelt,
Und ruhig fliesst der Rhein;
Der Gipfel des Berges funkelt
Im Abendsonnenschein.

Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar,
Ihr goldnes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr goldenes Haar.

Sie kämmt es mit goldenem Kamme,
Und singt ein Lied dabei;
Das hat eine wundersame,
Gewaltige Melodei.

Den Schiffer im kleinen Schiffe
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe,
Er schaut nur hinauf in die Höh.

Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn;
Und das hat mit ihrem Singen
Die Lore-Ley getan.


Entmystifizierend-aufklärend hingegen die vor allem durch ihr „Eifelbuch“ zu Beginn des „kurzen“ 20. Jahrhunderts bekanntgewordene Schriftstellerin Clara Viebig (1860-1952). Sie beschrieb unterm so bekannten wie eingängigen reichs­nationalen Titel „Die Wacht am Rhein“ (Text Max Schnecken­burger 1840, Vertonung Carl Wilhelm 1854) in ihrem histo­rischen Düsseldorf-Roman (1902) sowohl sozio-regio­nales Milieu als auch Klas­sen­struk­turen der Nieder­rhein­metro­pole im „langen“ 19. Jahr­hundert.18


VIII.

Gewiß macht der Rhein (nicht als Fluß, sondern) als Mythos in einer Hinsicht keine Ausnahme: Er ist wie jeder Mythos ein von handeln­den Menschen geschaf­fenes Kon­strukt zur Strukturierung von Wirk­lich­keit/en. Denn jeder Mythos beruht auf Zu­schrei­bung/en und setzt sinn­hafte Bezüge und gemein­schaft­liche Zusammen­hänge – je leichter faßlich von vielen, desto massen­wirksamer für die „Kultur in der Medien­ge­sell­schaft“ (Lucien Goldmann). Aber auch: Nicht jede Zu­schreibung, die auf soziale Zusam­men­hänge und ideelle Bezüge setzt, wird empi­risch zum so wirk­samen Mythos wie der Rhein.

Dieser wirkt bis heute seit zweihundert Jahren nicht nur durch Romantiker. Sondern auch durch jene, die, auch in kriti­scher Absicht, sich mit „Mythos Rhein“ und „Rhein­romantik“ publizistisch, lite­rarisch, bildnerisch, film­ästhetisch und musikalisch aus­ein­ander­setz(t)en.

Unabhängig davon, dass dauerhafte Wirk­samkeit des Mythos der ständigen – auch symbol- und bildhaften – Erin­nerung bedarf – früher vorwiegend münd­licher Über­lieferung, heute zuneh­mender medien­profes­sioneller Prä­sentation/en – so gilt für jede Wirk­samkeit des Mythos im beson­deren, was für mensch­liche Hand­lungen im allge­meinen zutrifft: Menschen urteilen typi­scher­weise nicht nach wirk­lichen Tat­sachen, sondern: unsre „Mei­nungen über die Thatsachen“ (Wilhelm von Humboldt) bestimmen unsere Urteile. Entsprechend lautet das Thomas­theorem:
Wenn Menschen Situationen als wirklich definieren dann sind diese auch in ihren Folgen wirklich.“19

Insofern sind die neuerlichen am „Mythos Rhein“ aus­gerichteten Handlungs­stra­te­gien zur kom­mer­ziellen Ver­wer­tung des Rhein­mythos „heute zunehmend unter glo­baleren wirt­schaft­lichen Rahmen­bedin­gungen“ so­zial­psycho­lo­gisch sinn­voll: Etwa wenn das, übrigens gemischt­konfes­sionelle, Bundes­land Wein­land-Pfalz im „world wide web“ in seiner Selbst­dar­stellung anläßlich der UNESCO-Bewer­bung „Welt­kultur­erbe“-Aus­zeich­nung 2002 und daran erinnerte, dass „der Rhein mit seinen fast 300 km die wirt­schaft­liche Haupt­ader des Landes bildet“ um die Groß­städte Ludwigs­hafen, Mainz und das „Dienst­leistungs­zentrum“ Koblenz. Und weiter: „Zu den schönsten Land­schaften Deutsch­lands zählt das sagen­umwobene, burgen­geschmückte, von zahllosen Dichtern, Malern und Musikern verklärte Rheintal zwischen Bingen und Bonn.„


IX.

Der Transformationsprozeß von Rheinmythos und Rhein­romantik in einen stand­ort­bezogenen und auf Massen­tou­rismus aus­gelegten Wirt­schafts­faktor ist heute an­ge­sichts zahl­reicher Veran­staltungen zur „Rheinreise 2002“ so unverkennbar wie un­umkehr­bar. Wünschens­wert frei­lich, dass diese neue Rhein­touris­tik bis­herige man­gelnde Qua­litäts­standards überwinden und Angebote jenseits von „Stroh­hut-Tourismus, Trink­gelagen von Kegel­klubs und lärmenden Halb­starken“ (Hofmann-Götting) schaffen kann.

Gelänge dies nicht: Dann wäre mit erneuter Häufung spötti­scher Rhein(reise)­bil­der zu rechnen. Aber auch diese sind, wie etwa die poetische Mignette des briti­schen Romanti­kers Samuel Taylor Coleridge (1772-1834) über Köln20 von 1828, selbst Bestand­teil des übergreifenden Rheinmythos und ohne diesen wirkungs­los ... bedient doch auch dieser Mythos im Rück­griff auf allgemein Mensch­liches und nicht selten Archa­isches im „late modern age“ (Anthony Giddens) unserer Zeit/en grund­legende Bedürf­nisse nach grossen Erzählungen, Erleb­nissen und Gefühlen früherer Zeiten.

Auch deshalb ist ein Ende des Mythos von „Vater Rhein“ und ver­klärender „Rhein­roman­tik“ nicht nur nicht er­kenn­bar. Sondern im Gegen­teil: Das Fascinosum Rhein wirkt noch immer bis heute im Alltag, weil dem Rhein auch heute „immer noch die Aura des Roman­tischen und Mythi­schen anhaftet.“21


X.

Ende Juni 2002 wurde die Aufnahme von neun neuen Stätten in die UNESCO-Liste des Kultur- und Natur­erbes der Mensch­heit bekannt­gegeben, darunter die his­torischen Stadt­zentren Stral­sund und Wismar und das von Bingen bis Koblenz reichende Obere Mittel­rheintal als, so die öffent­liche Begrün­dung der Jury22, „Kultur­landschaft von grosser Viel­falt und Schön­heit“.


________________________
1Zitiert nach Kurt Batt, Anna Seghers. Versuch über Entwicklung und Werke. Frankfurt/Main: Röderberg, 1973: 9

2 Zitiert nach ebenda: 18/19

3 Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen [1844]. Caput

4 Richard Albrecht, Dubiose Vorgänge ums Hans-Arp-Museum in Remagen; Schweizer Monatshefte, 78 (1998) 7/8: 53-56

5Köln, Blicke. Ein Lesebuch (Hg. Jochen Schimmang), Köln: Du Mont, 1998; aber auch Peter O. Chotjewitz über “Köln, die vollgekackte Stadt" in: Öde Orte (Hg. Jürgen Roth/Rayk Wieland), Leipzig: Reclam, 1998; die Köl´sche Polemik gegen diesen Köln-Kritiker folgte dann im express [Köln], 22.4.1998. – Historisch Georg Weerths „Domfest“ in der Schnapp­hahns­kis-Serie (Werke in zwei Bänden, II. 263-268); die im Beitrag letzt­zitierten Spott­verse von Coleridge stehen in diesem Zusammenhang

6John Le Carré, Der Spion, der aus der Kälte kam. Wien: Zsolnay, 1964; letzt­erschie­nene Neu­ausgabe Berlin: Ullstein, 2009

7Heinrich Böll, Frauen vor Fluß­landschaft. Roman in Dialo­gen und Selbst­gesprächen. Köln: Kiepenheuer, 1985; letzterschienene Ausgabe Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2007 [= Kölner Böll-Gesamt­ausgabe Band 23: 1984-1985]

8 Ernst Bloch, Über Eigenes Selber; in: Morgenblatt für die Freunde der Literatur, Sondernummer Ernst Bloch, Nr. 14 v. 2.11.1959, hier 2; sowie Blochs Skizze in: Der Rhein. Eine Reise mit Geschichten und Gedichten (Hg. Helmut J. Schneider). Ffm-Lpzg.: Insel, 1997: 42-46

9 Johann Wolfgang Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, Auerbachs Keller in Leipzig

10Carl Zuckmayer, Des Teufels General. Drama in drei Akten, 1. Akt

11Ein früher prominenter Bundes­politiker verdichtete Zuck­mayers Rhein­land-„Hymne“ im Jahr des poli­tischen Umzugs von Bonn am Rhein nach Berlin an der Spree als „große Völkermühle“- oder Schmelz­tiegel-Mythos so: „Wenn einer im Rheinland Ausländer raus! ruft, muss je nach Einreise­datum drei Viertel der Einwohner das Rheinland verlassen.“ (Dr. Norbert Blüm in seiner letzten Rede als CDU-Landes­vorsitzender NRW am 25.1.1999)

12 Wieder in: Der Rhein, hier 37-40; 47-51; 83-88. Clemens Brentanos Rheinpoem („Zu Bacherach am Rheine ...“) zuerst in: Godwi oder das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman von Maria, Zweyter Theil. Fragmentarische Fortsetzung; Bremen: Fr. Wilmans, 1802: 392/396. – Goethe verklärte später im 13. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ das Schloss Ehren­breit­stein als „herr­lich und majes­tätisch [...], in seiner Kraft und Macht voll­kommen gerüstet"

13Dichtung und Wahrheit, 13. Buch

14 Zum Rheinmythos, seinen zahlreichen Facetten und Er­schei­nungs­formen vgl. Aus­stellungs­katalog zu den Rheinland-Pfalz-Tagen 1992: Mythos Rhein (Hg. Richard W.Gassen/Bernhard Holoczek; Ludwigs­hafen: Wilhelm-Hack-Museum, 1992, drei Bände); Gisela Fleckenstein, Warum ist es am Rhein so schön ? Aspekte der Rhein­roman­tik von etwa 1800 bis zur Gegen­wart. In: Der Rhein. Mythos und Reali­tät eines europäischen Stroms (Hg. Hans Boldt/Peter Hüttenberger), Köln: Rheinland-Verlag, 1988: 189-202; Joseph A. Kruse, „Berg' und Burgen schau'n herunter“: Literarische Rhein­bilder und kultu­relle Identi­fikation im 19. Jahr­hundert. In: „An den Rhein, an den Rhein...“ Das malerische und romantische Rheinland in Dokumenten, Literatur und Musik (Hg. Ingrid Bodsch), Bonn: Edition Lempertz, 2002: 21-30

15Übersicht  externer Link

16Werner Bellmann, Brentanos Lore Lay-Ballade und der antike Echo-Mythos; in: Detlev Lüders (Hg.), Clemens Brentano. Beiträge des Kolloquiums 1978. Tübingen: Niemeyer [= Freies Deutsches Hochstift: Schriften 24], 1980, VI/382 p., hier 1-9

17 Zitiert nach: Der Rhein: 115; zuerst in: Drey und dreyßig Gedichte; Der Gesell­schafter oder Blätter für Geist und Herz, Nr. 49/26.3.1824: 242/243; wieder in: Buch der Lieder. Hamburg: Hoffman & Campe, 1827, pp. 178/179. - Die ausgreifendste Loreley-Parodie ist von Karl Valentin [um 1935]; in: Sturzflüge im Zuschauer­raum. Der gesammel­ten Werke anderer Teil (Hg. Michael Schulte); München: Piper, 1969: 101/102

18 Clara Viebig, Das Weiberdorf. Roman aus der Eifel. Berlin: Fontane, 1900; letzt­erschienene Ausgabe, Nachwort von Hermann Gelhaus. Alf/Mosel: Rhein-Mosel-Verlag, 2010; dies., Die Wacht am Rhein. Roman. Berlin: Fontane, 1902; letzt­erschiene Ausgabe Düsseldorf: Erb, 1983. – In Michael Curtiz´ klassischem US-amerikanischen „Kultfilm“ Casablanca (1942, sw, ungekürzt 106') schmettern in Rics Bar Wehr­machts­soldaten in einer symbo­lischen Kampfszene lautstrakt Die Wacht am Rhein gegen die französische Nationalhymne Marseillaise:   youtube  externer Link

19„If men define situations as real they are real in their consequences" (William I. Thomas/Dorothy Thomas, The Child in America. N.Y.: A. Knopf, ²1929: 572)

20 „In Köln, der Stadt der Pfaffen und Schreine,
Und stolpertückischer Pflastersteine,
Der Lumpen, Vetteln und Hexengespenster,
Da zählt´ ich zweiundsiebzig Gestänker,
Alles bestimmbar, verschiedene Sorten!
Ihr Nymphen über Kloaken, Aborten,
Der Rheinfluss, das ist ja bekannt,
Wäscht Köln, die Stadt, mit eigner Hand;
Doch sagt mir, Nymphen, die Himmelskraft,
Die dereinst dem Rheinfluss Wäsche schafft?" (Der Rhein: 164/165)

Im Original:
„In Köhln, a town of monks and bones,
And pavements fang´d with murderous stones,
And rags, and hags, and hideous wenches;
I counted two-and-seventy stenches;
All well defined, and several stinks !
Ye Nymphs that reign o´er sewer and sinks,
The river Rhine, it is well known.
Doth wash your city of Cologne;
But tell me, Nymphs, what power divine
Shall henceforth wash the river Rhine?“ (Rheinreise 2002: 168)

21 Richard W. Gassen, Der Rhein – Ein Mythos; in: Mythos Rhein, Bd. 1: 13-17

22 Unesco  externer Link

Richard Albrecht (PhD.; Dr.rer.pol.habil.) ist unabhän­giger Sozial­wissen­schaftler & freier Autor in Bad Münstereifel, vertritt in der empirischen Kultur- und So­zial­for­schung den „Utopian Paradigm“-Ansatz (Communications, 16 [1991] 3: 283-318), veröffentlichte in den letzten Jahren als Sozial­wissenschafts­journalist vor allem in soziologie heute, Aufklärung und Kritik, der Zeitschrift für Weltgeschichte und dem Netzmagazin Film und Buch sowie die Bücher SUCH LINGE (2008), FLASCHEN POST (Editor, 2011) und den Erzählband HELDEN­TOD. Kurze Texte aus langen Jahren (2011).
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Richard Albrecht    08.09.2012    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht    Seite empfehlen  Diese Seite weiterempfehlen

 

 

 
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