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Richard Albrecht
DADA – DADAISMUS – HANS ARP

EVENT – SHOW – PERFORMANCE … UND WAS AUS KUNST ALS PROZESS GEWORDEN IST

  Essay
 


Nach Jahrzehnten beredten kunst­soziologischen Schweigens im all­gemeinen und im besonderen zu avant­gardistischen, umwäl­zenden, revolu­tionären künstleri­schen Strö­mungen und Akteuren des vergangenen „kurzen Jahrhunderts“ gab es kürz­lich wieder einen selbst­bewußten speziell-sozio­logischen Versuch. Dieser ging keines­wegs zu­fällig rück­bezüg­lich „von Dada“ zu Beginn des 20. Jahr­hunderts aus. Insofern erkennen die Autoren Hieber/Möbius (2009) im Abriß ihrer Theorie des künstle­rischen Aktivis­mus von Dada bis zur Post­moderne die kul­tur­geschicht­lich-sozio­politi­sche Bedeut­samkeit dieser Künst­ler­strömung und ver­weisen auf den „Schocks des Ersten Welt­kriegs“ für die Heraus­bil­dung einer künstle­rischen Avant­garde, die, wie Dada Züri' „das Versagen der bürger­lichen Kultur ange­sichts des Gemetzels und ihrem man­gelnden Wider­stand gegen die Phrasen der Politiker und Gene­räle“ öffent­lich anpran­gert. Ihrem – poli­tisch durch­aus ko­rrekten – Dada-Bild ent­spricht frei­lich die Vor­stel­lung eines abstrak­ten oder sekun­dären System-Dadais­mus ohne konkret-lebendige Dada­isten – grad so als ob weniger „lebende Menschen in ihrer ganzen Sub­jek­tivität“ (Paul Feyerabend) als vielmehr „tote Re­gis­tratur­nummern“ (Franz Kafka) interes­sierten. Diese Sicht führt dann auch an einem Metadadaismus heran, an den über Kunst als Form „neuer Lebens­praxis“ später sur­realis­tisch angeschlossen werden konnte:

„Im Dadaismus kulminieren künstlerische Protest­bewegungen, die sich – mit unter­schied­licher Akzent­setzung – sowohl gegen die Konven­tionen des Kunst­betriebs wie gleichermaßen gegen den poli­tisch-gesell­schaft­lichen Konser­vatismus richten. Das wichtigste Medium seines öffent­lichkeits­wirk­samen Affronts ist das Mani­fest. Die Dadaisten entwickeln zwar neue künstle­rische Ausdrucks­formen wie etwa das Lautgedicht von Hugo Ball oder die Foto­montage von John Heartfield. Aber sie beschränken sich keineswegs auf formale Inno­vationen. Die Stoß­richtung und die Identität des Dadaismus ist durch seine Manifeste bestimmt.“


„Jedermann sein eigner Fussball“ – Illustrierte Halbmonatsschrift. Hg. Wieland Herzfelde. 1. Jahrgang, Nummer 1, 2 Blatt, 4 Seiten, 42,7 x 29,5 cm. Berlin: Malik, 1919 [Einzig er­schie­nene Zeit­schriften­ausgabe. Verboten und be­schlag­nahmt]


Dieser Hinweis ist, auch wenn er sich vor allem auf Künstler-„Manifeste“ kapri­ziert und insofern eine formale Metasicht ausdrückt, nicht falsch. Er blendet freilich wesent­liche Besonder­heiten aus. Auch diese lassen sich ver­gleich­bar knapp skiz­zieren. Wilma Ruth Albrecht (2010) hat sie in ihrer kunst­histo­rischen tour d´horizon als spezi­fisch dadais­ätische Strö­mung auch in ihrer Formen­sprache beschrie­ben und politik­histo­risch so verortet:
„Lassen sich manche malerische Ansätze des begin­nenden 20. Jahr­hunderts auch als visionär-künstle­rische Ant­worten auf das dro­hendes erste große „Weltfest des Todes“ (Thomas Mann) deuten, so wird dieser Zeit­bezug und epochale Bruch mit dem Beginn des Ersten Welt­kriegs im August 1914 aus­drück­lich, etwa in der Dada-Strömung, die Laut­liches und Vi­suelles, Poeti­sches und Skulp­turelles, Kom­posi­tion und Dekom­position, Instal­lation und De­instal­lation, Kon­struk­tion und Dekon­struk­tion, Subjekt und Objekt im lebendigen Gesamt­kunst­werk „Mensch“ zu ver­binden versucht wie im Werk des Elsäs­sers Hans/Jean Arp (1886-1966) und seiner Zürcher Künstler­kollegen seit 1915/16: Hugo Ball (1886-1927), Tristan Tzara (1896-1963), Richard Huelsen­beck (1892-1947), Marcel Janco (1895-1984), später etwa auch Raoul Hausmann (1886-1971) und Kurt Schwitters (1887-1948).“


Kurt Schwitters, Das Unbild (1919)


In diesem Kurzessay nun geht es weder um den einen noch um den anderen, sondern um einen weiteren, dritten Aspekt. Zunächst geht es (→ DADA) um die als Kurz­geschich­te erzählte Erfolgs­geschichte von Dada und Dada­ismus als einer 1916 gegen den ersten Großen Krieg in Zentral­europa ent­standenen polit­ästheti­schen Bewe­gung. Dem folgt (→ ARP) (m)ein Künstler­por­trät von Hans (Jean) Arp (*16. September 1886 Straßburg †Basel 7. Juni 1966) als eines authentischen Zür'cher Dadais­ten der ›ers­ten Stunde‹ (dessen 125. Geburts­tag sich Mitte September 2011 jährt) und dem, zu­sammen mit seiner lang­jährigen Lebens­gefähr­tin Sophie Taeubner-Arp (*19. Januar 1889 Davos † 13. Januar 1943 Zürich), einer deutsch­schweizer Malerin und Bild­hauerin, nun auch ein eige­nes Museum gewidmet ist: das Ende September 2007 eröffnete, südlich von Bonn links­rheinisch gele­gene Arp Museum Bahn­hof Rolands­eck, direkt an der Rheinschiene. Es präsentiert im Gebäude des Bahn­hofs Rolands­eck und im Neubau in Rolands­eck vor allem Werke beider Künstler. Auch diese Ent­wicklung auf­nehmend und Hin­weise von Hannah Arendt (*1906 †1975) zur historischen ›thea­tralischen Kulis­sen­kul­tur‹ be­denkend, systema­tisiere ich zum Schluß einen Streit­punkt (→ KUNST) als neue und erwei­terte Form von Kunst­kommuni­kation. Hier geht es zugleich um eine Besonder­heit von ›moderner‹ Kunst und/als Kunst in der ›Mo­derne‹ – die Dar­stellung von Kunst als Event, als Per­formance, als Show. Diese Kunst­präsen­ta­tions­formen diskutiere ich im dis­har­moni­schen Schluß­akkord als Aus­druck der gegen­wärtigen Post­moderne / des aktuel­len Post­moder­nismus und ihrer nach­haltigen anti­dadais­tischen Kehre. Bei alledem orien­tiere ich mich nicht an Maßstäben heuer propa­gierter neo­soziolo­gischer Kor­rektur­wissen­schaft (Hans-Georg Soef­fner), sondern an Krite­rien herkömm­licher Kultur­wissen­schaft.

DADA


Am ersten Mittwoch des zweiten Monats im Jahr 1916 eröffneten die deutschen Emi­granten Emmy (Ball-) Hennings (*1885 †1949), eine Kaba­rettis­tin, und die Schrift­stel­ler Hugo Ball (*1886 †1927) und Richard Hülsen­beck (*1892 †1974) in der Züricher Spiegel­gasse 1 eine Cabaret Voltaire genannte Künstler­kneipe. Sie wurde rasch Treffpunkt für jene polit­litera­rischen Außen­seiter, die positiv ästhe­tische Avantgarde und Bohème, negativ Café­haus­literaten und Bummel­studenten genannt wurden. Was am 5. Feber 1916 begann, ent­wickel­ten die Genannten gemeinsam mit dem Elsässer Schrift­steller Hans (Jean) Arp (*1886 †1966), dem rumänischen Maler und Architekten Marcel Janko (*1895 †1984) und dem rumä­nischen Schrift­steller Tristan Tzara (*1896 †1963) bald schon zu einer eigenen, laut­malerisch Dada genannten, Kunst(stil)rich­tung, deren erste öffentliche „Proklamation“ im April 1916 entstand. Alle bis­herigen Hervor­brin­gungen in Literatur und Kunst ein­schließ­lich der damals neusten expres­sionis­tischen, futuris­tischen und kubis­tischen Strö­mungen und Stil­richtungen wurden grundlegend kriti­siert. Die radikale Tren­nung vom Beste­henden und vor allem dem Welt­krieg mit seinem Massen­schlacht­haus und Massen­grab Europa als letzter Hervor­bringung der bürger­lichen Welt und ihren „Wahnsinn der Zeit“ (Hans Arp) sollte auch in der öffent­lichen Darstellung formal voll­zogen werden durch gezielte Anti-Kunst Provo­kationen, durch bewußt pro­du­zierte Sinn­losigkeit und Anti­logik und durch spiele­rische und Zufalls­elemente.


Dada [Nullnummer der Zeitschrift] (Zürich 1917)


Das politästhetische Paradox Dada als Versuch, über das Strukturprinzip Chaos zu einer neuen Ordnung zu kommen als „Narren­spiel aus dem Nichts“ (Hugo Ball), blieb während des Ersten Weltkriegs auf Zürich begrenzt, breitete sich jedoch nach dessen Beendigung in der europäischen Metropole Paris, in den deutschen Kunststädten Berlin, Köln und Hannover und schließ­lich auch in der Kunstszene der US-Ostküstenmetropole New York aus.
Dadas frühes Selbstverständnis als politästhetische Anti­strömung erklärte der öster­reichisch-deutsche Dadaist, Maler, Graphiker und Bildhauer Raoul Hausmann (*1886 †1971) in der Rückschau (1920) so:
„Dada wurde erfunden von drei Männern: Huelsenbeck, Ball und Tzara. Zunächst bedeutete Dada nichts als vier Buchstaben, und damit war ein internationaler Charakter gegeben ... DADA war zunächst ein Bekenntnis zur unbedingten Primitivität, von dem Züricher Publikum teils ver­ständnislos, teils erheitert begrüßt. DADA wurde aber die große Elastizität der Zeit, die ihren Maßstab an dem Bürger fand: je seniler und steifer dieser wurde, umso beweglicher wurde DADA. das heute über den ganzen Erdball verbreitet ist. Denn, dies müssen Sie wissen. DADA ist die Wahrheit. die allein zutreffende Praxis des realen Menschen, wie er heute ist. stets in Bewegung durch die Simultanität der Ereignisse. Reklame, des Marktes, der Sexualität, der Gemeinschaftsdinge, der Politik, der Ökonomie; ohne überflüssige Gedanken, die zu nichts führen. Ja. erlauben Sie, Dada ist (und dies argen die meisten Menschen grenzenlos) sogar ganz gegen jeden Geist: DADA ist die völlige Abwesenheit dessen, was man Geist nennt. Wozu Geist haben in einer Welt, die mechanisch weiterläuft? ... es ist Ihnen unmöglich, etwas aufzuhalten: Sie werden einfach gespielt. Sie sind das Opfer ihrer Anschauungsweise, Ihrer sogenannten Bildung, die Sie aus den Geschichtsbüchern, dem Bürgerlichen Gesetzbuch und einigen Klassikern gleich en gros generationsweise beziehen. Sie scheitern an Ihren Voraussetzungen.“

ARP

Der britische Drama­tiker Tom Stoppard hat mit Travesties 1974 die Auf­bruchs­stimmung im fiktiven Zusammentreffen so unter­schied­licher historischer Figuren und individueller Tempera­mente wie James Joyce (*1882 †1941), W. I. Lenin (*1870 †1924) und Tristan Tzara (*1896 †1963) in deren Züricher Emigration während des Ersten Weltkriegs zu bannen versucht. Und es war in Nieder­dorf ab Früh­jahr 1916 das literarische Cabaret Voltaire, in dessen Künstlerkneipenmilieu allerlei Vielspänner und Buntschecker zusammen­trafen und sich austauschten. Hier entstand jene ästheti­sche Kreativität und/als schöpferische Irrationa­lität in Wort und Bild wie sie sich aus der Reibung am und der Negation des Bestehenden, aus dem Spannungsfeld von destruktivem Abriss und produktivem Aufbau, und damit aus dem, auch ökonomisch bedeutsamen, chaotischen Prozeß schöpferischer Zerstörung ergeben kann. Richard Huelsenbeck erinnerte diese Dada-Seite so:
„Die Dadaatmosphäre entwickelte sich vor der Erfindung des Wortes, wir alle wollten niederreißen und schaffen, wir lebten im Zustand der schöpferischen Irrationalität [...]. Wir waren fähig, alles und nichts zu tun, auf allen Gebieten, nicht nur auf dem Gebiet der Literatur und Malerei, die beide nur deshalb so große Bedeu­tung gewannen, weil wir für das Ästhetische übersensibel waren. Und weil wir uns dokumentieren wollten.“
Zugleich bedeutete diese Dokumentierung andere und neue Formen öffentlicher Auftritte und Präsen­tationen: Über den Stil wurde nicht nur der Textvortrag, sondern die gesamte Vorstellung revolutioniert. Die Dadaisten im Cabaret Voltaire setzten nicht mehr nur ihre Texte in Szene, sondern inszenierten nun von Anfang bis Ende ihre Auftritte und damit sich selbst on stage – bis hin, so Hermann Korte – „zu Kleidung und Staffage.“
Ein halbes Jahrhundert später merkte Reinhard Döhl in seiner germanistischen Dissertation zu poetischen Texten Arps zusammenfassend an, dass auch dessen „künstlerischer Neuansatz“ wohl in der (auch vergnüglichen) Erprobung neuer Sprach- und Spielformen und Verfremdungen poetischen De-Konstruktivismus' bestünde – dass aber Arps Texte letzt­endlich (wie in seiner Textzeile weisst du schwarzt du, die auf mich wie ein konstruktives Lehrbeispiel wirkt) und entgegen aller beanspruchter ästhetischer Negation an consensuale kulturgesellschaftliche Kriterien und Werte einer Gesellschaft und ihrer Kunstvorstellungen und -formen gebunden sind.
Freilich lässt sich an der Künstlerpersönlichkeit Arps zeigen, was – später von ihm zunächst elementare und dann konkrete Kunst genannte – tieflotende ästhetische Innovation war. Korte schreibt:
„Arp gehörte im Cabaret Voltaire bis auf den Vortrag von Simultangedichten nicht zum festen Kreis derjenige Künstler, die mit eigenen Texten auftraten. Dennoch war es gerade Arp, der die Negation jener in Mode gekommener expressionistischen Weltauf- und -untergänge mit Reflexionen auf einen radikalen Neuanfang der Kunst verband [...] Wie auf der Bühne des Cabarets Voltaire sich konventionelle litera­rische Formen im Laut-, Geräusch- und Simultangedicht auflösten, durchbrach Arp – geschult am franzö­sischen Kubismus, an Picasso und Braque - bildnerische Konventionen, die noch für die Expressionisten sakrosankt waren, experimentierte mit Klebe-, Zerschneide- und Zerreiß­techniken und suchte nach einer abstrakten, elementaren, zuweilen geome­trischen Bildersprache jenseits traditioneller Öl- und Tafelmalerei.“
Nach dem Ersten Weltkrieg kommt Arp nach Deutschland und ins Rheinland. In Köln lebt sein Vater. Hier wird Arp noch einmal dadaistisch aktiv, trifft und befreundet sich mit Max Ernst (*1891 †1976) und Kurt Schwitters (*1887 †1947), in dessen Zeitschrift Merz auch Arp publiziert. 1922 heiraten Sophie Taeuber und Arp, ab 1925/26 leben sie vor allen in Neudon bei Paris. 1924/28 engagiert sich Arp im Sinn der franzö­sischen Surrea­listen, erprobt als Maler Zufallselemente als Grund­lagen der Form­gestaltung, experi­mentiert in konkreter Kunst.


Hans (Jean) Arp (Foto um 1926)
Arpmuseum


In den zwanziger Jahren veröffentlicht Arp in Deutschland vier Poesiebände: Der Vogel selbdritt und Die Wolkenpumpe (beide 1920), Der Pyramidenrock (1924) und weisst du schwarzt du (1930). Seit Anfang der 1930er Jahre konzentriert sich Arp als Künstler zunehmend auf seine plastischen Arbeiten. Dazu Linda v. Mengden im Katalog des Ludwigs­hafener Hack-Museums:
"Ab 1930 widmete sich der Künstler vor allem plasti­schen Arbeiten, die das Prinzip der biomorphen, organoiden Zell-Form ins Dreidimensionale übersetzten. Es sind glatt­polierte, fließende Steine, zumeist Marmorskulpturen, die den Eindruck sinnlicher Körperhaftigkeit vermitteln; eine Vorstellung, die umschlägt in Asso­ziationen an Mineralisches oder Tierisches, als würde sich die Form vor unseren Augen verwandeln. Diese Metamorphosen der Plastiken Arps scheinen Bilder aus den Tiefen einer mythischen Vorzeit hervorzurufen, die der Künstler in den Ausdruck eines zeitlosen, heiteren Glücks übersetzt.“
Damit sind zwei wesentliche Werkelemente und Arbeits­grundsätze Arps und seiner Zeichnungen, Collagen, Reliefs, Skulpturen und Plastiken angesprochen: Die Verbindung von Zufall und Mythos zu einer neuen Einheit. Beide Momente bestimmen Arps abstrakte Formen. Etwa in seinen Plastiken seit Beginn der dreissiger Jahre. In der Vereinigung dieser ›organoiden und biomorphen Elementen mit den Zufallskomponenten aus der geometrischen Abstraktion‹ zu bisher unbekannten, damit einzigartigen Formen liegt auch das ästhetisch Neue der Arpschen Formen und Bilder- und Symbolsprache, die damit auch neue subjektive Erfahrungswelten in uns als aktiven Betrachtern und Sehern ("Rezipienten") anklingen lassen kann - und zwar unabhängig vom persönlichen Wollen des Künstlers und seinem individuellen Streben nach absoluter Universalität (als Werkbeispiel etwa Die Ägypterin, um 1938, aus weißem Marmor, eine raumfigurell wirksame relativ kleine Figur mit runden Körperformen ohne jeden Anklang an Nofretete ... abstrakt und sinnlich zugleich).
Nimmt Arp aus der dadaistischen Lust an schöpfe­rischer Zerstörung vor allem die Zufalls­komponente (die Victor Vasarely [*1906 †1997] in seiner Op-Art später perfek­tionierten sollte) ins weitere Werk mit, so wendet er sich doch (als meines Wissens einzig bekann­ter Dadaist) später dann anderen, mysthische(re)n Welten zu. Diese setzt Arp in besonderen Formen (etwa oval und glatt) um. Auch erhält nun die (ästhe­tische Anti-) Farbe weiß ihren Platz (wie im Zentrum der hier repro­duzierten Arp-Litho­graphie 1959/60). Entsprechend sind für den „reifen“ Arp nach post­dadais­tischen Übergangs- und Suchphasen (1926/30) typische Topoi und „Motivkreise“ vor allen im plasti­schen Werk Mensch­liche Kon­kretion (von 1934) mit As­soziations­anschlüs­sen etwa an triptichale und andere Dreiheiten. Oder Sagen­gestalten wie die Figur des Gnom und, immer wieder, Sterne (wie der von 1939 auf Arps Grab).


Reproduktion einer um 1959/60 entstandenen Hans-Arp-Lithographie. Im Original zwei­farbig von außen nach innen / großen zu kleinen Formen gelb und grau. Die innere Figur ist weiß (Format 14,5 x 20,5 cm). [Original im Privatarchiv des Autors]



Letzt­genannte Motiv­gruppe findet sich auch im zeich­nerischen Werk etwa im Kippbild Ohne Titel (um 1959), das ein runzliges Greisen- oder Gnomen­gesicht, einge­lagert in einen Viertel­mond, zeigt (im Katalog­band Der gestirnte Himmel seiten­verkehrt repro­duziert). Und auch Arps Altersbild Drei Sterne (um 1961) mag die unermüdliche Aus­einander­setzung des Künst­lers sowohl mit allem Irdischen als auch mit manchem, was drüber hinaus lebt, veran­schaulichen.

KUNST

Veröffentlichung oder Publizierung und Präsentation moderner und aktueller Kunst und ihrer Werke erscheint heute umso wirksamer je mehr die Veranstaltung selbst wenigstens als event wenn nicht als performance propagiert und organisiert wird. Event meint ein besonderes, heraus­ragendes Ereignis (also das, was englisch immer noch „quite an event“ heisst). Performance meint unab­hängig davon, ob der/die Künst­ler/innen noch leben und/oder selbst auf­treten, spe­zielle werk­bezogene Auf­führung und Darstellung.


Eröffnung der „Ersten Internationalen Dada-Messe“ durch führende Dadaisten,
30. Juni – 25. August 1920 in Berlin
(Quelle H.J. Krysmanski; Thomas Neumann, Gruppenbild. Deutsche Eliten im 20. Jahrhundert; rororo Sachbuch 8721, Reinbek 1987: 34/35)


Das bedeutet zum einen, daß mit der performance auch das Werk in den Hinter­grund verwiesen werden und die theatralische Insze­nierungspraxis im Vorder­grund stehen kann. Diese Grund­unter­schei­dung ver­weist zum anderen auf eine ent­schei­dende Differenz und Scheide­linie zwischen moderner und post­moderner Kunst seit Beginn des zwanzigs­ten Jahr­hun­dert mit seiner ›klas­sischen Moder­ne‹: Was als event ereig­nishafte Präsen­tationsmöglich­keit von Werk/en und/oder Künst­lern (beider­lei Ge­schlechts, auch folgend sind Künstle­rinnen immer mit ein­bezogen) ist und hinrei­chende Bedingung für alle Kunst(werke)prä­sentation, -publi­kation, -rezep­tion und –wirkung bleibt – wird im „late modern age“ (Anthony Giddens) als Insze­nie­rungsnotwen­dig­keit auf der Folie objektiver Fähig­keiten und sub­jek­tiver Fertig­keiten so grund­le­gendes wie unver­zicht­bares ästhe­tisches Kenn­zeichen von Post­moder­nität: nun muss das (Kunst-) Werk weder in her­kömm­lichen ästhe­tischen Sinn „schön“ sein noch auch nur so schei­nen: Es muss viel­mehr vor allem marktig (hoch-) gerechnet werden können – eine Ent­wicklung, die der Kunst­wissen­schaftler Werner Hofmann schon Ende der 1960er Jahre in die so ein­gängige wie ober­flächliche Formel „Alles muß Ware werden“ preßte (Die Zeit vom 21. Feber 1969: 13).
Auch wenn sich Arps Werk zunächst mehr mit jener „klassi­schen“ künstle­rischen Modernität, die sich (nicht nur in Deutsch­land) mit Formen­sprache und Funktions­weise des Bau­hauses der 1920er Jahre verbindet und zu­gleich von der immer beliebigeren Post­modernität unterscheid­bar ist, zurechnen lässt, so sind doch auch in Arps gesamtem künstle­rischen Schaffen schon im Ansatz wesent­liche post­moderne Rezeptions­elemente und Wirkungs­vor­gaben enthalten, ein­bezogen oder incor­poriert. Das wurde schon Mitte der 1990er Jahre deutlich. So verwies etwa die Theater-Rundschau (1997) unter der Überschrift „Weltkür für Hans Arp“ (mit dem An­schauungs­beispiel einer minia­turi­sierten Arp-Plastik-Reproduktion im Format 4,5 X 5,5 cm) auf eine besondere Weltreise:
„Auf großer Reise befinden sich derzeit dreißig Bronzen aus der Hans-Arp-Stiftung im Rolands­ecker Bahnhof an Rhein bei Bonn nebst weiteren Arbeiten von ihm und seiner Frau Sophie Taeuber-Arp. Nach der Eremitage St. Peters­burg geht es rund um die Welt. Stationen sind u.a. Tokio, New York, London und die Kultur­haupt­stadt Europas, Thessa­loniki. Das eigentliche Ereig­nis soll dann die Rückkehr nach Rolandseck 1998/99 sein – dann eröffnet die zurückgekehrte Sammlung ihre neue Heimstatt in dem von Richard Meier gebauten Hans-Arp-Museum – hintern Bahnhof, hoch überm Rhein.“
Das weltreisende Werk Arpscher Bronzen konnte, sollte und wurde übers event hinaus genutzt und mit show- und performance-Elemen­ten wirksam ver­bunden bis hin zum finalen Kulmi­nations­punkt dieser auf­wändig insze­nierten „thea­trali­schen Kulissen­kultur“ (Hannah Arendt ) als neues, seit Mitte der 1990er Jahre geplantes Arp Museum – was durch die Veraus­gabung enormer finan­zieller Mittel der (damaligen und heu­tigen) Landes­re­gierung des deut­schen Bundes­landes Rhein­land-Pfalz auf Grundlage einer fiktiven Bewertung des Arpwerks in (wirklicher oder vermeintlicher ) Gesamthöhe von 60 Mil­lionen DM [1997] möglich wurde. Das Projekt Arp­museum wurde auch gegen nach­haltigen Wider­stand verwirklicht und auf Grund­lage der Design-Entwürfe des Star-Architekten Richard Meier schließ­lich Ende 2007 eröffnet. Insofern wurde, wenn auch nahezu ein Jahrzehnt später als projektiert, auch am Rhein der (umbaute) Raum selbst, hier in Gestalt eines neuen Museums, unver­zichtbares Inszenie­rungs­merkmal ästhe­tischer Post­modernität und selbst zum event und show ein­ver­nehmenden performance-Prozeß.
Auch in anderer Hinsicht erfuhr die Entwicklung zur post­modernen Performance in der zweiten Hälfte der 1990 Jahre ent­scheidende Impulse: etwa in Form der 64 weiß­gelackten Rhein­brücken-Stautos des bekannten rhein­kölni­schen Aktionisten H. A. Schult (1997) oder beim nord­rhein-west­fälischen Designzentrum in der nach Plänen des Star­architekten Sir Norman Forster umge­bauten Essener Zeche Zollverein XII (1997). Diese Ent­wick­lung mag wer immer will als allge­meinen We­sens­zug von Post­modernität beklagen. Als Prozess zu­nehmender Ein­bezie­hung von Showelementen in Werk­aus­stellungen einer­seits und fort­schreitende Ästhe­tisierung von Aus­stel­lungs­räumen ande­rerseits kann er freilich nicht rückgängig gemacht werden. Dieser Prozeß ent­spricht dem robusten Trend vom event über per­formance zur show, ist medien­gesell­schaft­liche Realität, kann nur durch gewaltsame Struktur­brüche rück­holbar sein und ist damit auch bürger­gesell­schaft­lich irre­versibel.
So gesehen, mag das nun seit 1997 real­existierende Arp Museum Bahnhof Rolands­eck auf eine auch kunst­sozio­logisch typischer­weise über­sehene Besonder­heit der Wirksam­keit von ›moderner‹ Kunst im post­modernen kultu­rellen Feld ver­weisen. Hier geht es nämlich nicht nur um von all­gemeiner Beliebig­keit begüns­tigten relati­visti­schen Werte­nihi­lis­mus, um anti­auf­kläreri­sche Vernunft­rück­nahmen, um die Er­setzung von Argu­menten durch Behaup­tungen, um die so uni­versal-omni­prä­sente wie auf­wändig-massen­medial unter­nom­mene „Ver­dummungs­industrie mit ihren Ver­blen­dungs-, Verkeh­rungs- und Um­wer­tungs­mech­anismen zur stra­te­gischen Ver­stärkung der durch den Waren­fe­tisch jeder kapita­lis­tischen Ge­sell­schaft immer schon gege­benen spon­tanen Mysti­fikation als ge­sell­schaftliche Gefolg­schaft“ (Richard Albrecht), ums Ersetzen von Arbeit durch Inter­aktion / Kommuni­kation, um die Ver­kürzung gesell­schaft­licher Dis­kurse auf „kommuni­kative Kom­petenz“ ge­nanntes mit­tel­stands­be­stimmtes Sprech­handeln zur ab­strakt-allge­meinen Explikation der „Legi­timations­pro­bleme des Spät­kapita­lismus“ und um die bean­spruchte post­modern(isch)e „neue Unüber­sicht­lichkeit“ (Jürgen Habermas).
Vielmehr geht es um etwas, das Robert Musil zu Beginn seines Jahr­hundertromans dem dominanten Wirklichkeitssinn gegenüberstellte und bewußt Möglichkeitssinn nannte. Möglichkeitssinn ist als Ausdruck aller „konkreten Utopie“ (Ernst Bloch) und des künstlerischen „Empfindens in potentiell humanen Zukunfts­perspektiven“ (Wolfgang Abendroth) speziell in Kunst­werken auf­gespeichert und auch in einer Zeit aneigbar, in der – so Hartmut Krauss als subjekt­wisse­nschaft­licher Ideolo­gie­kri­tiker der „Post-Moderne“ (2003) – „die Suche nach der Rekon­stitu­ierung von gan­zheit­lichem (Lebens-) Sinn“ wächst. Und diese Suche war geschicht­lich, ist gegen­wärtig und bleibt zukünftig – wie ich meine – auch eine Kernkompetenz von Kunst.
Postmodern(istisch)e Performance und ihren Event- und Show­charakter be­dien(t)en Groß­verpa­ckungs­spezia­listen wie Christo mit Jeanne-Claude mit ihren Aktionen. Sie ent­sprechen dem scheinbar das Bewußtsein bestimmenden Schein im Doppelsinn und bilden die postmodern(isch)e Triade Design – Schein – Sein. Postm­odern(isch)e Ideologie zeigt ihre Zer­stö­rungs­kraft auch in der Miß­achtung des ans Kantische interes­senlose Woh­lgefallen von Kunst, Künstler und Werk gebun­denen Möglich­keits­sinns, welcher sich – so Musil zu Beginn des vierten Abschnitts seiner „Art Einleitung“ im ersten Buch von Der Mann ohne Eigen­schaften (1930) – „geradezu als die Fähigkeit definieren [ließe], alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“
Auch im 21. Jahrhundert, genauer an der Schwelle zu dessen zweitem Jahrzehnt, gilt für alle auf Möglichkeitssinn beruhenden Fiktionen und Utopien, utopischen Fiktionen und fiktionalen Utopien ihr Sinnbezug: die Bewäl­tigung „schwieriger oder unlösbar scheinender Probleme oder Si­tuationen“ (Georg Klaus).
Und weil auch in der Postmoderne rational-argu­mentativ nicht be­stritten werden kann, was schon Franz Kafka (1915) in seiner lakonischen Türhüterformel: „Es ist möglich, jetzt aber nicht“ an­sprach, wird allein schon die Mög­lichkeit einer anderen sozialen Welt als künstlerische Vision auch von allen noch so geschmei­digsten post­modern(isch)en Ideologen nach dem Motto Utopie war gestern denun­ziert, exkludiert und destruiert.
Das freilich bedeutet auch, daß diese so prakti­sche wie wirksame Ideo­logie und ihre „konzep­tiven Ideolo­gen“ (Karl Marx) keinerlei Utopie zu verraten haben … weil sie keine Utopie haben.

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Literatur

Dada Hermann Korte, Die Dadaisten. Reinbek: rowohlts monographien 536, 1994, 160 p. – Karl Riha (Hrg.), Dada Zürich. Texte, Manifeste, Dokumente. Stuttgart: Reclams Universal Bibliothek 8650, 1992, 176 p. – ders. (Hg.), Dada Berlin. Texte, Manifeste, Aktionen. Stuttgart: Reclams Universal Biblibliothek 9857, 1994, 184 p. Arp Richard Albrecht, Dubiose Vorgänge ums Hans-Arp-Museum in Remagen; in: Schweizer Monatshefte, 78 (1998) 7/8: 53-56 – ders., „weisst du schwarzt du“: Hans Arp, 1886-1966. Porträt eines Künstlers des/im 20. Jahr­hunderts (2005) – Reinhard Döhl, Das lite­rari­sche Werk Hans Arps 1903-1930. Zur poeti­schen Vor­stel­lungs­welt des Dadaismus. Stuttgart: Metzler, 1967 [ = Germanis­tische Abhand­lungen 18], xi/268 p. – Stefanie Poley, HANS ARP. Die Formen­sprache im plastischen Werk. Mit einem Anhang un­veröffent­lichter Plas­tiken. Stuttgart: Hatje, 1978, 220 p. – Fritz Usinger, Die dichte­rische Welt Hans Arps. Wiesbaden: Franz Steiner, 1965 [= Abhandlungen der Klasse der Literatur Nr. 3]: 49-61 – Aus­stel­lungs­kataloge HANS ARP. Eine Publikation der Kunsthalle Nürnberg [...] Ostfildern: Hatje, 1994, 192 p. – Hans Arp 1886-1966. Aufkäufe des Landes Rheinland-Pfalz. Mainz: Landes­museum; Ludwigs­hafen: Wilhelm-Hack-Museum, 1997, 160 p. – Hans Arp und andere: Der gestirnte Himmel. Bahnhof Rolands­eck: Stiftung Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp e.V., 1997, 64 p. Kunst­soziolo­gisches Wilma Ruth Albrecht, „Wer von den Pro­duk­tions­verhält­nissen nicht reden will, sollte vom male­rischen Schaffen schweigen …“ Illus­trierte These zur Malerei als Pro­legomena einer speziellen Soziologie der Künste; in: soziologie heute, 3 (2010) 15: 18-23 – Lutz Hieber; Stephan Möbius, Grundriss einer Theorie des künstle­rischen Aktivismus von Dada bis zur Postmoderne; in: dies. (Hg.), Avantgarden und Politik. Künst­lerischer Aktivismus von Dada bis zur Post­moderne. Bielefeld: transcript, 2009, 354 p., 7-29; auch: http://www.transcript-verlag.de/ts1167/ts1167_1.pdf Ideologiekritik Richard Albrecht, The Utopian Paradigm – A Futurist Perspective; in: Communi­cations, 16 (1991) 3: 283-318 – ders., Sozial­wissen­schaft ist nicht so schön wie Kunst. Macht aber genauso viel Arbeit; in: SUCH LINGE. Vom Kom­munisten­prozeß zu Köln zu google.de. Sozial­wissen­schaft­liche Recherchen zum langen, kurzen und neuen Jahr­hundert. Aachen: Shaker, 2008 [ = Sozialwissenschaften], 110 p., 5-18 – ders., Theatralische Kulissenkultur. (2010) – Hartmut Krauss, Das umstrit­tene Subjekt der „Post-Moderne“; in: Hermann Kopp; Werner Seppmann (Hg.), Geschei­terte Moderne? Zur Ideo­logie­kritik des Post­modernismus. Essen 2002: 93-121 – Georg Lukács, Die Zer­störung der Ver­nunft [1954]. Der Weg des Irrationa­lismus von Schelling zu Hitler. Berlin/Weimar: Aufbau, ³1984, 692 p.

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Richard Albrecht (PhD.; Dr.rer.pol.habil.) ist unabhän­giger Sozial­wissen­schaftler & freier Autor in Bad Münstereifel, vertritt in der empirischen Kultur- und So­zial­for­schung den „Utopian Paradigm“-Ansatz (Communications, 16 [1991] 3: 283-318), veröffentlichte in den letzten Jahren als Sozial­wissenschafts­journalist vor allem in soziologie heute, Aufklärung und Kritik, der Zeitschrift für Weltgeschichte und dem Netzmagazin Film und Buch sowie die Bücher SUCH LINGE (2008), FLASCHEN POST (Editor, 2011) und den Erzählband HELDEN­TOD. Kurze Texte aus langen Jahren (2011).
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Richard Albrecht    15.12.2012    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht    Seite empfehlen  Diese Seite weiterempfehlen

 

 

 
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