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Marcus Roloff

reinzeichnung

ein unterlaufener landstrich / in komplementärfarben

Kritik


  Marcus Roloff
reinzeichnung
Gedichte
Verlag Das Wunderhorn 2015
17.80 EUR, 80 Seiten


Mit „Reinzeichnung“ erscheint nun Marcus Roloffs vierter Gedichtband. Und wieder ist meine erste Reaktion auf die Gedichte dieses Autors eine zunächst weitgehend unreflektierte reine Freude. Denn Roloffs Gedichte sind schön. Das allerdings ist keine hin­reichende Charakte­risierung, denn selbst wenn es gelingt eine zumindest vorläufig funktio­nierende Über­einkunft darüber zu erzielen, was ein Gedicht sei, so werden wir uns auf eine allgemein­gültige Defi­nition von Schön­heit wohl nicht so schnell einigen können. So leicht kann ich es mir also nicht machen.
  Also doch lieber deskriptiv. Mit Beispielen:
Da ist zunächst einmal der Titel. Wie gut „Rein­zeichnung“ zu den Texten des Bandes passt, ist mir tat­sächlich erst klar geworden, nachdem ich das Buch auf dem Küchen­tisch liegen­gelassen, und mein Sohn die Gelegen­heit, in die klar aufge­ris­senen Buch­stabenfelder auf dem Cover mit unver­dros­sener Lust hinein zu zeichnen beherzt ergriffen hatte. Denn so gelingt es auch Roloffs Gedichten immer wieder, auf der einen Seite die präzise Rein­zeich­nung einer Vor­stellung oder eines Bildes zu liefern, auf der anderen Seite – oder in einer anderen Schicht – eben in diese präzise Zeichnung ganz anderes, neues hinein­zubringen.

sappho (kleis / tochter)

die auf lesbos muss
schön sein an den tetra-pak stränden

krisenverbeutelte krisen
stiftende krisen kommentierende

gesamtausgabe (in vorb.) unmengen
text (der mutter) zerlesen raubkopiert an den

uferrändern und berge von quallen
unter der sonne wie mythen von teil vs.

welle in ewigen schneebrocken
eros das gliederlösende tier hat absolut nichts

damit zu tun sie (der stern) steht
hier als sinnbild für eine geschlossene

gesellschaft für mädchenkreise (und)
typen ekeln mich mehr als eure

aprikosenhälften mit flimmerhärchen
im gegenlicht das die zeilen verwässert



Eigene Beobachtungen zu Sapphos Dichtung, zum Schicksal ihrer Texte und ihres Namens, land­läufige Vor­stel­lungen von Sappho, Griechen­land ... Mühelos versteht es Roloff, all dies in verschiedenen Bildern über- und ineinander zu zeichnen. Es könnte den Leser schwindeln dabei, und doch sorgen die ruhige Selbst­ver­ständ­lichkeit der Form und der behutsam gestal­tete Rhythmus stets dafür, dass wir den Kopf nicht über den Versen verlieren.
  Häufig, besonders im ersten Teil, sind real existie­rende Bilder Ausgangspunkt der Gedichte. Und auch hier tun sich neue Ebenen auf, denn Roloff zeichnet nicht nur in ein (bekanntes) Bild Neues hinein, sondern auch in die (uns eben­falls bekannte) Situation des Betrach­tens in einem Museum, etwa:

städel #1

goethe (tischbein) anderthalb mal zwei meter, tadellos
verriegelt, der aufgeraute himmel von heute im thoma-
zimmer (hans) nebenan „selbstbild vor“ birkenwald &
warmen farben, abendstimmung achtzehn neun'neunzig
von zehn bis neun schaut er uns zu beim hören & sehen
ach 'n bach an der norwegischen küste („seesturm“) hoch-
kant stehender kutter & blenden weiße seele im auf-
gerissenen wolkendraht, auch das hintergrundlicht
ist untertitel & und die blonde ophelia (müller, victor) mit
weggeneigtem kopf souffliert sich die spiegelneuronen

Es ist – vorsichtig formuliert – allerhand los auf diesen drei Quadratmetern. Da überlagern sich (oder lösen einander ab) Zeichnungen verschie­dener Bilder, Zeiten, Betrachter und Be­trachtungs­situa­tionen – und doch entsteht auch hier aus dem, was Chaos sein könnte, ein stimmiges neues Gebilde, eines, das sich seine eigenen formalen Regeln sucht und sie gleich im Moment des Lesens dem Leser selbst­verständ­lich und einleuchtend macht (ich will mich nicht allzu weit hinein­wagen in das Minenfeld der Defini­tionen, aber mir scheint diese spezifische Qualität der Roloff'schen Gedichte der Auslöser für mein reflex­haftes Empfinden der Gedichte als „schön“ zu sein).
  So kann man (und sollte man) die Gedichte in „Rein­zeichnung“ mehrfach und unter unter­schiedlicher Beleuchtung mit unter­schiedlichen Augen lesen, als „Rein­zeichnung“, also als das eine in sich geschlos­sene und nicht hinter­gehbare Gebilde, das jedes der Gedichte ist, und dann als Ineinan­der ver­schiedener Zeich­nungen, die wir in eine Ordnung bringen, oder deren Über­lagerungs­stellen wir gezielt suchen können („wie phoenix aus dem raster // auf dem ORWO kontaktabzug“).
  Und natürlich werden diese Lese­eindrücke flüchtig sein, einander umspielen und immer wieder ablösen, wie eben der Blick zwischen Rein­zeichnung und Reinge­zeichnetem schwankt:

pappeln um stendal

wasser wässrig durchsetzt
ein unterlaufener landstrich
in komplementärfarben

macht diese ebene unter
dem eindruck von regen
zu meiner mühsam gehaltenen

abbildfunktion denn ich
suche hier etwas geschichte
im wie-format und

die zeit die sich absetzt das
heißt die weiden und pappeln
um stendal setzen mich

nicht mehr voraus

 

Dirk Uwe Hansen      28.06.2015       Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht

 

 
Dirk Uwe Hansen
Lyrik