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Alfred Gelbmann
Trümmerbruch oder Die Entdeckung des glücklichen Raumes)

Lebenslauf einer schreibenden Hand


  Kritik
 

Alfred Gelbmann
Trümmerbruch oder Die Entdeckung des glücklichen Raumes
Roman
Innsbruck, Wien: Kyrene 2012
222 Seiten.




„Seht, wie die Hände in Freiheit leben, ohne an ihre Funk­tion zu denken, ohne sie mit einem Geheimnis zu belasten – seht, wie sie ruhen mit leicht gebo­genen Fingern, als ob sie sich irgendeinem Traum über­ließen, oder betrachtet sie in der eleganten Lebhaftigkeit der reinen Gebärden ...“, heißt es im „Lob der Hand“ des fran­zösischen Kunst­histo­rikers Henri Focillon.
  Die Biographie eines Menschen, dessen Hände erst dann in Freiheit leben können, da er selbst hinter Gittern sitzt, entwirft, in seinem Ansatz inter­textuell und multi­medial, die Buchseiten in visuelle Kompo­sitionen verwandelnd, in seinem Aufbau polyphon und multi­perspek­tivisch, die Gesetze von Erzählzeit und erzählter Zeit kon­sequent unter­laufend, der Roman Alfred Gelbmanns, der bei seinem Erscheinen berechtigtes Aufsehen erregt hat.
  „Während meiner Kindheit habe ich mich in völliger Übereinstimmung mit ihnen befunden. In der Folge entwickelt sich ein eigenartiges Verhältnis zwischen meinen Händen und mir“, bekennt Moser, der Prota­gonist des Romans, der von der ersten bis zur letzten Seite nie unmittelbar als Akteur, als Handlungs­träger in Erschei­nung tritt, sondern ausschließlich als Schreibender. Schauplatz seines Schreibens ist eine Einzel­zelle in einer Voll­zugs­anstalt. Er sitzt dort in Unter­suchungs­haft, da er mit dem Tod einer Jugendfreundin in Zusammen­hang gebracht wird und nicht das Gerings­te unter­nommen hat, diesen Verdacht zu entkräften.
  Was Moser in seiner Zelle schreibt, ist keine Kassiberliteratur, kein Gefängnis­tage­buch, keine Gefängnis­lyrik, sondern der ra­dikal subjek­tive Ver­such einer Rekon­struktion der Gescheh­nisse, die aus ihm einen mehrfach Vorbe­straften, zum wieder­holten Male Tat­ver­dächtigen gemacht haben; ein Schreib­versuch, der ihn,vorbei an der Chrono­logie der Ereignisse, zurück­führt zu seinen Anfängen, genauer gesagt, zu einigen der vielen Anfänge, aus denen sein Leben besteht: „Ich begnüge mich seit Langem nur mehr mit An­fängen; alles über Anfänge Hinaus­gehende überlasse ich anderen zum Weiter- und Fertig­denken. Ich wende mich, sobald am Ende eines Anfanges die Span­nung nachlässt, neuen Anfängen zu“ – eine Maxime, die nicht nur Mosers Charakter und Exis­tenz­form, sondern unver­kennbar auch seine Schreib­weise prägt und bestimmt.
  Adressat seiner Niederschriften ist ein forensischer Beirat, kurz Der Rat genannt, ein namen- und gesichtsloses Kollektiv, das über ihn und sein weiteres Geschick zu befinden hat, ein fleisch­gewor­denes Abstraktum, dem er in regel­mäßigen Abständen vorgeführt wird, um ihm in einem strengstens festgelegten Ritual, das an religiöse Opfer­rituale denken lässt, seine Nieder­schrif­ten zu über­bringen.
  Aus diesen Niederschriften bestehen große Teile des vor­lie­genden Buches. Dabei handelt es sich aller­dings nicht, wie man nach dem bisher Gesagten an­nehmen möchte, um Recht­fertigungs­schrif­ten eines fiktiven Delin­quenten, nicht um Apo­logien in eigener Sache. Moser macht in seinen Nieder­schriften keiner­lei Anstalten, sich zu ver­teidigen, sondern taucht statt­dessen nur immer tiefer in den Prozess der Erinn­erung ein. Seine Rück­besin­nung im Wort und durch das Wort ist nicht ziel- und zweck­orientiert, sondern prozess­haft, ist nicht appel­lativ, sondern asso­ziativ und kommt infolge­dessen völlig ohne jede Argumen­tation, ja, überhaupt ohne festgefügte Rhetorik aus. Schre­ibend entfernt sich Moser sukzessive von seinem – ohnehin nur sehr vage formu­lierten – Schreib­auftrag, und das desto mehr und desto ent­schie­dener, je mehr er das Interesse, das der Rat an seinen Nieder­schriften zu haben vorgibt, als Chimäre durch­schaut: „Er ist sich jetzt sicher“, heißt es knapp vor Voll­endung der dritten Nieder­schrift, „es geht dem Rat gar nicht um seine Nieder­schriften. In Wahrheit sind sie nur an den Video­auf­zeich­nungen der Über­gaben interes­siert. Dem Befund liegen wahrscheinlich nur Aus­wertungen der Video­auf­zeichnungen zugrunde, keine Zeile seiner Nieder­schriften wird sich in dem Befund wiederfinden.“
  In Gelbmanns Romankom­position fungieren und funktionieren die Nieder­schriften seines Moser keineswegs als konventionelle Binnenerzählungen nach dem sattsam bekannten, alt­bewährten Prinzip des „Textes im Text“. Ihrer Form nach nicht eigent­lich episch, sondern eine fas­zinie­rende Mischung aus narrativem Essay und profaner Prosa­litanei, dienen sie gerade nicht der Vermitt­lung eines wie immer gearteten Roman­ge­schehens, sondern sind selbst das Geschehen –: Eine zer­brochene, eine in tausend und aber­tausend Erin­nerungen auf­gesplit­terte Biographie ver­wandelt sich unter dem Zugriff der schrei­benden Hand und mit­hilfe der „macht­losen Körper­lichkeit be­schrie­benen Papiers“ mehr und mehr in ein Pa­limpsest, in ein Dickicht aus Schrift, reich an Paradoxa reich an Korrek­turen und Über­schrei­bungen – von der wir Leser des vor­lie­genden Buches freilich nur eine „bereinigte“, leicht zugängliche Druck­fassung zu Gesicht bekommen.
  Geschrieben hat Moser bereits in jungen Jahren: „Für meine frühen Schriften genügte mir schon eine fensterlose Hauswand (…). Ich schrieb sie oft an einem Nachmittag in Gedanken voll mit dem, was ich werden wollte aber nicht konnte.“ Erst jetzt aber hat sein Schrei­ben einen angeme­ssenen Ort bekommen: den „glück­lichen Raum“ seiner Einzel­zelle. Hier findet er endgültig zu seinem Hand-Werk, hier erst werden ihm seine Hände, die ihm von Jugend an syste­matisch ent­fremdet wurden, wieder ver­traut, hier kann er ihnen wieder trauen und sich von ihnen leiten lassen durch den großen Trümmer­bruch aus Bildern und Wörtern und Namen, Orts- und Straßen­namen, die, erin­nerungs­gesät­tigt, vielfach Ver­schwun­denes benennen.
  Mosers Schreibhand folgt einer Wortspur nach der anderen kreuz und quer durch die Zeit. Immer wieder und wieder führt sie ihn, auf Umwegen oder auf direktem Weg, zurück in die Mulden­straße: die Straße, in der er aufge­wachsen ist, unter Nibe­lungen­menschen, kurz nach dem Ende des Dritten Reiches, als der „Friede noch jung war, ein Wagnis mit offenem Ausgang“, in einer Gesell­schaft von gnadenlos Hand­greif­lichen, in deren Köpfen der Krieg noch längst nicht zu Ende war, die den mörderischen Jargon der tausend Jahre immer noch selbst­gewiss im Munde führten. Die zutiefst ambivalente Schil­derung dieser Straße und ihrer Bewohner nimmt in Mosers Aufzeichnungen breiten Raum ein. Dabei kommt seine Sprache ganz zu sich selbst, wird luide und klar.
  „... denn die Muldenstraße war unsere Straße. Sie war unsere Mitte. Wir liebten ihr warmes Pflas­ter unter den bloßen Füßen, und im Winter rutschten wir es spiegelglatt mit harten Schuh­sohlen und ledernen Hosen­böden. Nie war uns eine Straße vertraut wie die Muldenstraße. Die Muldenstraße suchte sich schlängelnd ihren Weg durch die Mulde, wie sich ein Bach seinen Lauf durch die Täler sucht. Die Muldenstraße bestand nur aus Krüm­mungen, einer Rechts­krümmung folgte eine Linkskrümmung und umgekehrt. An einem Ende stieß sie an die Kirche St. Michael, am anderen an das Werk. Das jeweils andere Ende machte ihre Bedeu­tung aus, lud sie ständig mit neuer Spannung auf. Ihre Ober­fläche mied die Gerade ebenso beharrlich, als gelte es, auch innerhalb der gewundenen Binnen­fläche dem formalen Prinzip der krummen Linie zu folgen. In dem vermeint­lich ornamentalen Verlegemuster konnte man die natürlich beschränkten Reich­weiten halbkreis­förmiger Arm­bewegungen von acht nebe­neinander knienden, zwangs­arbei­tenden Pflas­terern erkennen (...)“
  Auf den Wortspuren, auf denen Moser unterwegs ist, gibt es keine Ve­rgangen­heit und keine Gegenwart, es ist alles gleich gegenwärtig – das Maut­hausener Pflaster in der Mulden­straße von seinerzeit und die uniformen „schwarzen Türme“, die dort mittler­weile an die Stelle der alten Arbeitersiedlungen getreten sind. In jedem noch so un­schein­baren, vermeint­lich harm- und geschicht­slosen Wort ist Geschichte ent­halten; etwa im Wort „Loch“, „das genauso klingt wie man es schreibt und zudem wie ein Loch aussieht, eigentlich; wenn ich es schreibe, meine ich jedes Mal, so auch jetzt in ein Loch hineinzuschreiben. Ich hole mir mit dem L den nötigen Schwung, um über das O hinweg­zu­kommen mit dem Cursor, in dem ich, zum Spiel natürlich, die Spitze einer Schreib­feder sehe, und ich bin immer erleichtert, wenn ich es schadlos passiert habe, um es dann lächelnd über ein lang­gezogenes, kräch­zendes CH wieder zu verlassen. Es gab Wörter, wie das Loch eines war, die standen in der Mulden­straße mehr als alle anderen ständig in Gebrauch: Opfer und Verlierer und Blindgänger und Zuschütter und Wiederrichter, und das Werk und die Hoffnung.“
  Durch das labyrinthische Lexikon seines Lebens folgt Moser den Wortspuren von Namen zu Namen, darunter Namen von Toten und Lebenden, Ortsnamen, die wohl immer noch dasselbe bezeichnen wie in den Tagen seiner Kindheit, doch nicht mehr dasselbe bedeuten. Schrei­bend kommt er etwa an dem Namen „Klaffer“ vorüber – und sogleich bildet sich um diesen Namen ein Hof von Bedeu­tungen: Stifter-Asso­ziationen und Erin­nerungen an einen Kind­heits­sommer. Der Orts­name hat seine Aura behalten, hat sich, mit allem, was er enthält an Licht und Schatten, an Aromen und Klängen, nicht verändert, doch unwei­ger­lich, wie von selbst, stellt sich die Frage: „Ob es Klaffer noch gibt? Und wenn es Klaffer noch gibt, gibt es wahrscheinlich keine Klafferer mehr, dann wurden sie unten im flachen Land von einer jener umtriebig werkenden Städte, wie sie überall an den Flussläufen richtungslos wuchern, aufgesogen, dann gibt es Klaffer nur noch als Klaffer meiner Erinnerung. (…) Das Verschwinden eines Dorfes ist nicht weniger traurig als alle anderen Formen der Aus­löschung.“

In der gegenwärtigen Welt der umtriebig werkenden Städte bleibt jemand wie Moser ebenso ein Fremder, Abseitiger wie er es in der ver­schwun­denen Welt der Linzer Mulden­straße war: Für seines­gleichen, für Leute, die ihre Hände ab­sichts­los und untätig in ihren Hosen­taschen ver­graben, hatte man dort kein Ver­ständnis. „Ihre Hände, Moser, sagten sie, entsprechen nicht unseren Vor­stel­lungen von Händen. Ihre Hände können nicht zu­grei­fen. Auf Ihre Hände ist kein Ver­lass. Suchen Sie sich eine andere Beschäf­tigung, eine bei der Sie ohne Ihre Hände aus­kommen können.“
  Die flehentliche Ermahnung eines benachbarten Musiklehrers –: „Diese Hände dürfen nie mit einem derben Hammer­griff, den gespannten Hebeln einer zu­grei­fenden Zange, den ver­ölten Griffen eines Schrauben­schlüssels, mit bren­nendem Eisen und heißem Öl, mit abplatzenden Zunder­platten und feuer­sprit­zenden Schleif­funken in Berüh­rung kommen!“ – findet keine Beach­tung. Moser wird, nach dem Gesetz seiner Familie, „in den Stahl geschickt“, in das Werk, in dessen Schat­ten er aufge­wachsen ist. „Ich wollte nicht in den Stahl gehen, ich wollte in die Kunst oder so etwas Ähn­liches gehen, wo man angeblich keine Hände braucht“, heißt es in seiner dritten Nieder­schrift, „obwohl ich nichts von der Kunst wusste, wollte ich in die Kunst gehen, aber vom Stahl wusste ich auch nichts, und trotz­dem musste ich in den Stahl gehen.“ Denn: „Für einen Uhr­macher gab es keinen Platz im Werk und folglich auch nicht in der Muldenstraße oder für einen Tier­präparator, oder für einen Geschichten­erzähler, oder für einen Torf­­stecher, oder für einen Schlangen­beschwörer.“
  Moser wird nichts von alledem; irgendwann entkommt er dem Werk – wann genau, bleibt wie vieles andere unausgesprochen –, verlässt seine Heimatstadt Linz, nur um immer wieder dorthin zurückzukehren. Eine rastlose „Seele, die stets zwischen den Polen schwebt, nirgends lange verweilt, die einmal oben ist und am nächsten Tag in Augen­höhe mit den Hunden erwacht“, verweigert er sich den Geschehnissen, die ihn vereinnahmen wollen, indem er unvermittelt eine Straftat begeht und sich sodann widerstandslos festnehmen lässt. Ortlos geworden, richtet er sich ein in der Ort- und Ziellosigkeit: „Mögen andere weiterhin ihre fröhlichen Kondensstreifen ziehen, ich werde mich endgültig mit einem bewegten Stillstand in meinen zeitlosen Räumen begnügen“.

Selten ist es einem Autor gelungen, den Akt des Schreibens als Inbegriff der Absichts­losig­keit, als bewegten Still­stand in zeitlosen und doch zugleich zeit­historisch konkret verorteten Räumen derart präzise dar­zustellen, zu ins­zenieren und zu realisieren wie Alfred Gelbmann in seinem vor­liegenden Roman. Weder experimentell im Schulsinn, noch erzählend im heute gängigen, marktgängigen Verständnis, ist dieser Roman ein exempla­rischer „Text der Wollust“, der, nach Roland Barthes, „in den Zustand des Sich-Verlierens versetzt, der Unbe­hagen erregt, die histo­rischen, kult­urellen, psycho­logischen Grund­lagen des Lesers, die Beständigkeit seiner Vorlieben, seiner Werte und seiner Erinnerungen erschüttert, sein Verhältnis zur Sprache in eine Krise bringt“ – eine Krise, die keiner Katharsis bedarf, um den Leser, die Leserin verändert, ja, verwandelt wieder zu entlassen.
Christian Teissl   16.11.2012    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht    Seite empfehlen  Diese Seite weiterempfehlen

 

 
Christian Teissl
Lyrik