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Wiederentdeckung des Schriftstellers Ernst Goll (1887-1912)
Höhenflug und Todessturz

Christian Teissl gibt das Werk von Ernst Goll neu heraus

Im bitteren Menschenland

  Essay
 

Vor 100 Jahren nahm sich der Grazer Dichter Ernst Goll (1887-1912) das Leben. Er hat ein bemer­kens­wertes lyri­sches Werk hinter­lassen, das nun neu auf­gelegt wurde.




Vor hundert Jahren wurde in den Metro­polen der Alten Welt ein neuer Erd­teil entdeckt: der Konti­nent neuen künstle­rischen Ausdrucks, neuen Schauens, Sa­gens und Gestal­tens. Die ihn entdeckten und als erste besie­delten, waren nicht Angehörige der damaligen kultu­rellen Eliten, sondern in der Regel jugend­liche Außenseiter, Visionäre und Unruhe­stifter, die das Be­stehende attackier­ten, übe­rkommene Formen zertrümmerten und sich dem Alther­gebrachten, Tra­dierten und Nor­mierten mit aller Ent­schieden­heit wider­setzten.
Das Jahr 1912 erwies sich für diese neue Generation pro­grammatischer Provo­kateu­re als ein annus mirabilis, nicht nur in deutschen Landen, sondern euro­pa­weit. Von einem „Gipfel­jahr euro­pä­ischer Literatur“ sprach jüngst der Lite­ratur­kritiker Michael Braun in einem kenntnisreichen Essay, von einer „fantas­tische[n] Bündelung kultureller Energien und ihre[r] Frei­setzung auf dem Terrain der Lite­ratur“, und zwar über Sprach- und Staats­grenzen hinweg, in atem­berau­ben­dem Tempo: Kaum hatte in Berlin Gott­fried Benn seinen „Morgue“-Zyklus als Flug­blatt ver­öffentlicht, schuf in Paris Apollinaire seine revo­lutionäre Groß­stadt­hymne „Zone“.
Im selben Jahr, doch weit entfernt von den Schau­plätzen dieser ästhe­tischen Revo­lutionen, in Graz, dem Pensiono­polis einer alters­müden Monarchie, machte der 25-jährige Ernst Goll sein Testament, indem er die folgende lyrische „Grabschrift“ verfasste:
Die Menschen haben mich zu sehr gequält, / Und allzu schwer empfand ich meine Bürde. / Da trat ich frierend aus dem Tor der Welt / Und wünschte nichts, als daß mir Ruhe würde. // Die ihr an meinem frühen Grabe steht, / Verlöschet sanft die blassen Totenkerzen, / Gebt mir nicht Tränen, gebt mir kein Gebet: / Es führt kein Weg zu meinem kühlen Herzen. // Doch jenem andern, der noch Atem holt, / Bekränzt den Weg mit roten Liebesrosen /Und wertet seine Menschheit nicht nach Gold, / Daß er nicht flüchte zu den Lebenslosen.
Als Goll diese Zeilen schrieb, war er in seiner Heimat kein gänzlich Unbekannter mehr; spätestens seit seiner ersten öffent­lichen Vorlesung im Februar 1912 galt er in Graz unter Kennern als Nach­wuchs­hoffnung. Vom weiten Weg aber, den er bereits zurück­gelegt hatte, wussten nur ganz wenige Freunde. Es war ein von Krisen gepflas­ter­ter Weg der konsequenten Reduktion, der ihn von der poetischen Schablone zum geschlif­fenen Wort führte, von einer geblümten romantischen Sprache zu knappen, präg­nanten Strophen, die bisweilen fast kunstlos und wie impro­visiert wirken und doch, Wort für Wort und Vers für Vers, präzise erarbeitet sind, mit einem ausgeprägten Sinn für sprach­liche Architek­tonik. Manche Text­varian­ten und manche Entwurf­skizzen, die sich in seinem Nach­lass finden, belegen eindrucksvoll, wie sehr seine poetische Arbeit einer langwierigen Such­bewegung glich, mit allem Vor und Zurück, allen Umwegen und Irrwegen, allen Unsicher­heiten und uner­warteten Lösungen.
In seiner letzten Schreibphase, 1911/12, gelang es ihm schließlich, formal an der Tradition fest­haltend, sprach­liches Neuland zu betreten und in die alten Schläuche des stro­phisch gebauten und gereimten Gedichts neuen Wein zu füllen. So sind in seinem letzten Lebens­winter Bild­nisse entstanden wie jenes von den „Skifahrern“: „Sie schritten auf eilenden Füßen / Die schneeigen Hänge empor, /Ein letztes verhallendes Grüßen /Der Morgenglocken im Ohr. // Dann fielen die Flocken dichter / Und hinter der Nebelwand / Versanken die bunten Lichter / Vom atmenden Menschenland. // Da ritt auf schnaubenden Rossen/ Der Tod seine Königsbahn, / Hielt still vor den Fahrtgenossen / Und sah sie schweigend an. // Da riß vor den zitternden Lidern/ Der Majaschleier der Zeit, / Da löste von ihren Gliedern/ Sich blutend das Menschenkleid.“
Binnen denkbar kurzer Zeit hatte er wie in einem Zeit­raffer eine außer­ordent­liche poetische Ent­wicklung durch­laufen, die ihn aus redseliger, verklärender Epi­gona­lität herausführte und ihn dazu ermäch­tigte, auf eine ihm gemäße, lakonische Weise Zeit­genossen­schaft zu üben. Am Ende dieser Entwicklung, war er nicht mehr darauf angewiesen, die Welt zu ver­klären und sein Leben zu poetisieren, hatte seine Poesie doch sein Leben längst schon überrundet. Sein lyri­sches Ich war voraus­gegangen und hatte voraus­voll­zogen, was sein bio­graphisches Ich nur noch nach­zu­voll­ziehen hatte, in er­schreckender Konsequenz.
„Freitag, den 12. Juli, war sein Entschluss gefasst. Er ließ sich rasieren, badete, kleidete sich mit schöner Wäsche und ging zur Uni­versität. Welch ein Martyrium mag dieser Nachmittag gewesen sein!“, schreibt sein Dichter­freund und lite­rari­scher Nach­lass­verwalter Julius Franz Schütz in einem bislang un­ver­öffent­lichten Gedenk­blatt, in dem er auch den Versuch unter­nimmt, die letzten 24 Stunden im Leben Ernst Golls zu rekon­stru­ieren. „Viermal ging er von seiner Wohnung weg mit dem Entschlusse, nicht mehr zurückzu­kehren, jedesmal kam er wieder, erregt, das magere bleiche Gesicht schweiß­bedeckt, müde, gebrochen. Er musste Mut sammeln. Samstag 10 Uhr vor­mittags verließ er die Wohnung zum letzten Mal. Sein Zimmer war in tadel­loser Ordnung, ein kleines Hand­kofferchen enthielt sämtliche Briefe und Andenken von seiner Braut, eine braune Mappe mit seinen Gedichten lag da [...], auf der Mappe eine weiße Schachtel, die Tagebücher enthaltend. Mappe und Schachtel waren sorgfältig adres­siert. Auf der Schach­tel lagen die Schlüssel. – Mittags verließ er die Univer­sität auf eine kurze Zeit, ohne zu speisen [,] um drei­viertel ein Uhr sprach er den Portier um etwa einge­laufene Briefe an. Er er­ledigte noch rasch die Korre­spondenz und begab sich ruhigen Schrittes in den zweiten Stock, wo er bis halb zwei Uhr hin und herging, unglaub­liche Mengen Wasser zu sich nahm und wartete, bis der Gang menschen­leer war. Dann nahm er ein Tuch, das er sich da­heim schon gefaltet und gedreht hatte (ein zweites ebenso gedrehtes lag bei seiner Wäsche), band sich dasselbe um den Hals und zog es fest, vielleicht um sich zu betäuben. So sprang er in die Tiefe.“
Unter dem Titel „Selbstmord eines Rigorosanten“ brachte die „Neue Freie Presse“ tags darauf die folgende Kurzmeldung: „Aus Graz wird uns berichtet: Der Kandidat der Philo­sophie Ernst Goll, ein Sohn des Oberpostmeisters Goll in Winidsch­grätz, hat heute aus Furcht vor dem abzulegenden Rigorosum durch Sturz vom zweiten Stockwerk des Universitätsgebäudes auf die Straße Selbstmord verübt.“
An Presse­meldungen wie diese anknüpfend, in denen lediglich von der Prüfungs­angst des Kandi­daten die Rede war, nicht jedoch von der viel größeren, abgrün­digeren Angst des Dichters notierte Peter Rosegger einige Wochen später in seinem „Heim­garten“: „Ein Student, hat man gesagt, der sich vor dem Rigo­rosum ge­fürchtet. Das war viel­leicht anders, es war ein Idealist, der überhaupt dieses Leben nicht mehr ertrug. Er mochte geahnt haben, daß sein Schön­heits­drang ihn zu Ehre und Ruhm führen könne, aber das war ihm zu wenig, ein zu geringer Ersatz für die Qualen eines Erden­lebens unter Philis­tern. [...] Wir haben wahr­scheinlich an ihm einen bedeu­tenden Dichter verloren, ohne ihn zu besitzen.“


  Ernst Goll
Im bitteren Menschenland
Das gesammelte Werk
Herausgeber: Christian Teissl
Igel Verlag, Hamburg 2012


Erstaunlich rasch kam es in weiterer Folge zur Druck­legung von Golls Gedichten. Julius Franz Schütz nutzte hiefür seinen Kontakt zum Egon Fleischel-Verlag, einem Berliner Verlagshaus, das die Werke von dazumal vielgelesenen Autorinnen und Autoren wie Clara Viebig, Georg Hermann und Cäsar Flaischlen betreute. In derart illustrer Umgebung erschien bereits im Spätherbst 1912 der von Schütz zusam­men­gestellte Band „Im bit­teren Menschen­land“, ein Debüt im Trauer­flor, das im gesamten deut­schen Sprach­raum positive Resonanz erregte. Es enthält nicht ganz zwei Drittel von Golls lyri­schem Nachlass, vor­nehm­lich Arbeiten aus seinen letzten drei Lebensjahren, allerdings nicht in chrono­logischer Reihung, sondern nach thematischen Zusammen­hängen und zugunsten flie­ßender moti­vischer Übergänge geordnet. Steht die „Grab­schrift“ am Ende dieses Bandes und aller späteren Ausgaben bis auf jene von 1943 – damals fiel sie, wie auch der Titel des Bandes, der NS-Zensur zum Opfer –, so steht ganz am Beginn das im Juni 1911 ent­standene Gedicht „Königszug“. Es ist eine hym­nische Feier der Jugend und zeigt, wie sehr auch Goll auf seine Weise Anteil hat am geistigen Aufbruch jener Jahre.
In Kurt Pinthus' Menschheits­dämmerung und seither in jeder besseren Expres­sionis­mus-Antho­logie findet man das Gedicht „­Aufbruch der Jugend“ des schle­sischen Dichters Ernst Wilhelm Lotz, der mit 24 Jahren im Sommer 1914 an der Westfront gefallen ist. „Beglänzt von Morgen, wir sind die ver­heißnen Erhellten,/ Von jungen Messiaskronen das Haupthaar umzackt,/ Aus unsern Stirnen springen leuchtende, neue Welten,/ Erfüllung und Künftiges, Tage, sturmüberflaggt!“ So lautet die letzte Strophe dieses eksta­tischen Pro­gramm­gedichts; es findet eine eben­bürtige, zeit­gleiche Ent­sprechung in Golls „Königs­zug“, das, eben­falls in der Wir-Form gehalten, ähnliche Bilder enthält: „Die Augen heiß, die Stirnen weinumlaubt/ Und Fahnenwimpel über unserm Haupt, // So ziehn wir aus, den Sonnenweg entlang,/ Und unser Lied ist Frühlings­sturmgesang: // Du, Vater, in dem engbegrenztem Haus, / Sieh, unsre Sehnsucht breitet Schwingen aus! // Du, Mutter, die uns eng umfangen hält, /Hör, unser Herz gehört der ganzen Welt!“
Der letzte Vers ist für Goll emblematisch: So oft auch rechts­gerichtete Kritiker und Publi­zisten in den letzten hun­dert Jahren versucht haben, ihn auf seine Her­kunft zu redu­zieren, ihn zum Heimat­dichter zu stempeln, zum Sänger der alten Süd­steier­mark, des „ver­lorenen Unter­landes“, die Subs­tanz seiner Poesie konnten sie dadurch nicht zerstören. Golls Ort ist nicht irgendein dahin­geschwun­de­nes grün­weißes Arkadien, sondern die öster­reichische Moderne.

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Das hier zitierte Text von J. F. Schütz findet sich in Gestalt eines sieben­seitigen Typo­skripts im Nachlass Schütz in der Stmk. Landes­bibliothek.
Unter dem Titel „Im bitteren Men­schenland“ erscheint Ende Juli im Ham­burger Igel-Verlag, herausgegeben von Christian Teissl, Golls Gesammel­tes Werk: 300 Seiten stark, präsen­tiert diese kommen­tierte Ausgabe die Gedichte des Autors erstmals in chrono­logischer Reihung inklusive aller vor­handenen Text­varianten und enthält außerdem ein bislang unbekanntes Dramen­fragment und einige Prosa­versuche aus seinem Nachlass.
Bei extraplatte erscheint im Septem­ber die CD “„Zwischen heut' und morgen – Chansons nach Gedich­ten von Ernst Goll“ der Grazer Band Ilmala

Christian Teissl   25.10.2012    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht    Seite empfehlen  Diese Seite weiterempfehlen

 

 
Christian Teissl
Lyrik