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Gerrit Wustmann
Istanbul Bootleg
Und mit'm Werner Gerrit will ich nächste Woche nach Florenz Istanbul –
da muss ich unbedingt mal hin!
Kritik |
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Gerrit Wustmann
Istanbul Bootleg
Gedichte
Zweisprachig: deutsch / türkisch,
Aus dem Deutschen von Miray Atli
binooki, Berlin 2013
96 Seiten plus 1 Audio CD
Hardcover, 17,90 Euro |
Man kann nicht überall sein! Gleichzeitig ohnehin nicht, das ist klar, aber auch nicht hintereinander weg. Immer wird es Orte geben, an denen man gerne mal wäre, wohin einen der Weg aber irgendwie nicht führt. So war ich schon etliche Male in der Türkei, nie aber in den dortigen Metropolen; nicht in Ankara, und auch nicht in Istanbul. Einmal war ich schon so gut wie da, ein Freund hatte Karten für den Auftritt von Kraftwerk beim „Rock Istanbul“ im Juni 2005 besorgt, aber da zog ich es dann doch vor, krank zu werden und meine Karte abzutreten, und so sind meine Begegnungen mit dieser Stadt bislang leider ausschließlich theoretischer Natur. Was ich über Istanbul, die bevölkerungsreichste Stadt der Türkei, weiß, habe ich aus zweiter oder dritter Hand: aus Bildbänden, aus dem Fernsehen, aus dem Fotoalbum eines Kollegen, und natürlich aus der Prosa und den Briefen von Jörg Fauser, der sich 1967 aus seinem Ersatzdienst in einem Krankenhaus absetzte und im Istanbuler Stadtteil Tophane als Junkie lebte – eine Zeit, die er später unter eben diesem Titel („Tophane“, nicht „Junkie“ – das war ein anderer) festhielt.
Man kann nicht überall sein, ich sagte es bereits. Eine lange Einleitung über meine verpassten Rendezvous mit Istanbul, die ausschließlich dazu diente, einen jungen deutschen Dichter in den Mittelpunkt zu stellen, dessen Name und Werk seit einigen Jahren in einem Zuge mit eben dieser Stadt genannt wird: Gerrit Wustmann. Im September 2010 besuchte er eine Freundin, die in Istanbul wohnte, und er erlebte nach eigenem Bekunden das, was er zuvor noch an keinem anderen Ort erlebt hatte: Er fühlte sich von der ersten Sekunde an zu Hause. Seitdem hat ihn Istanbul nicht mehr losgelassen und häufig begrüßen können, unter anderem im Jahre 2012 im Rahmen des Istanbul-Stipendiums der Stadt Köln. Und Wustmann saugt nicht nur auf, er hält auch fest. Seit einigen Jahren arbeitet er an einem mehrbändigen Lyrik-Zyklus über Istanbul.
Nach dem ersten Gedichtband „Beyoglu Blues“ (2011, als Paperback bei fixpoetry) erschien 2013 mit „Istanbul Bootleg“ der zweite Teil, dieses Mal bei binooki, einem in Berlin ansässigen Verlag, der sich auf türkische Literatur in deutscher Sprache spezialisiert hat.
„Istanbul Bootleg“ ist ein lyrischer Trip durch die Millionenstadt am Bosporus, eine Liebeserklärung, die auch die dunklen Seiten nicht auslässt; eine Spurensuche, die in der jahrhundertealten Geschichte den Stimmen der Dichter und den leisen Zwischentönen des Alltäglichen lauscht. – so ist es auf der Homepage des Verlags zu lesen. Und es trifft das Buch gut. Es sind die Gedichte eines Mitteleuropäers, dessen Sinne von den Eindrücken einer Stadt geweckt werden, die einiges zu bieten hat und bei Wustmann, der neben Geschichte, Theologie und Politologie auch Orientalistik studiert hat, offene Augen und Ohren einrannte. Wustmann hat sich ausgiebig mit der Geschichte, Politik und (vor allem) der Kultur des Landes beschäftigt, hat Gespräche gesucht und gefunden, und so sind seine Gedichte keine touristische Alles- so-schön-bunt-und-exotisch-hier-Lyrik, sondern Texte mit Background, mit viel Gefühl für Land und Leute, ein durchaus nachdenklicher, an manchen Stellen auch skeptischer Blick auf Vergangenheit und Gegenwart eines Landes zwischen Tradition und Weltoffenheit.
In einer Rezension zu diesem Buch wurden die Gedichte als größtenteils banal bezeichnet. Schaut man auf die Bedeutung dieses Wortes und sucht nach Synonymen, so stößt man auf Begriffe wie geistlos, nichtssagend, alltäglich. Der Rezensent hat es mit „alltäglich“ im Grunde gut getroffen, denn die Gedichte sind dem Alltag abgelauschte Szenen und Eindrücke – für mich, nun ja, sagen wir mal „normal“, dass Wustmann die Bilder und den Sound einer ihn betörenden Stadt in zumeist kurzen Skizzen festhält, die einen sehr persönlichen, oft melancholischen Touch und Klang haben und deshalb vielleicht keine Allgemeingültigkeit erlangen (können), so dass ich es zwar zum Teil nachvollziehen kann, wenn seine Gedichte auf manchen Leser banal wirken mögen, dieses Wort jedoch im Zusammenhang mit Wustmanns Gedichten keinesfalls als negativ oder gar abschätzig verstanden wissen möchte.
sis
im nebel verschwindet die stadt
schläft im regen unter der brücke
ragen die türme aus dem nichts
vor haydarpasa tauchen geister
möwen auf und ziehen kreise
um kadiköy und das knirschen
am anleger das knirschen einer
leisen berührung die delphine
tauchen heute
nicht auf
Gerrit Wustmann weiß genau, was er mit seinen bislang zwei Gedichtbänden über Istanbul abgeliefert hat. Er mag in Istanbul zweifellos eine zweite, eine vor allem emotionale zweite Heimat gefunden haben, doch so vertraut ihm die Stadt inzwischen auch sein mag: noch immer ist er ein Besucher, der mehrere Rollen, unter anderem auch die des staunenden Gastes, zu spielen hat.
Daraus, dass er sich dieser Rolle bewusst ist, macht er keinen Hehl. Schon der Buchtitel „Istanbul Bootleg“ klärt den Status des Dichters, denn was sonst ist ein Bootleg als ein unautorisierter Mitschnitt, der sein Leben und seinen Wert nicht aus technischer Perfektion, sondern daraus bezieht, ein Unikat mit hohem persönlichen Faktor zu sein?! Wer Bootlegs sein Eigen nennt, der weiß, dass sie oftmals viel intensiver sind als ein reguläres Live-Album, das glattgebügelt und dem dadurch eine professionelle Sterilität verliehen wurde, die hier wahrscheinlich den Unterschied zwischen Wustmanns Gedichten und einer offiziellen Werbebroschüre des Tourismusverbandes darstellen würde. Und Wustmann geht noch weiter, zieht das Bild (s)eines Mitschnitts als Faden durch das gesamte Buch, unterteilt die 30 Gedichte des Bandes in 4 Kapitel („demotapes“, „b-sides“, „remixes“ und „bootleg“ – wobei er sich im Kapitel „remixes“ auf Texte anderer Autoren bezieht; auf türkische Dichter, aber auch auf die Kölner Lyrikerin Marie T. Martin und Jörg Fauser).
„Istanbul Bootleg“ wird eröffnet mit einem recht umfangreichen, sehr poetischen, teils bereits mit Wustmanns Gedichten korrespondierenden Vorwort von Dogan Akhanli (1957 in der Türkei geboren, von 1985 bis 1987 als politischer Häftling im Militärgefängnis von Istanbul inhaftiert), der seine Beziehung zu Istanbul mit der Liebe zu einer Frau vergleicht) und schließt mit ausführlichen liner notes, die dem deutschen Leser die Lektüre erleichtern, indem sie die landessprachlichen, in die Gedichte eingeflochtenen Begriffe und Namen erklären. Konsequenterweise liegt das Buch als zweisprachige Ausgabe vor. Mein Türkisch ist, wie auch mein Finnisch und Griechisch, leider etwas eingerostet, so dass ich mir über die Qualität der von Miray Atli getätigten Übersetzung kein Urteil zu bilden vermag – dennoch finde ich es richtig und wichtig, die Gedichte auch in türkischer Sprache zu bringen; erstens als Ehrerbietung an das Land, dem sich der Autor in Sympathie und Empathie verbunden fühlt, zweitens aber auch aus dem ganz profanen Grund, dass sich Gerrit Wustmann in den letzten Jahren durch zahlreiche Lesungen und Gesprächsrunden eine türkischsprachige Leserschaft erarbeitet haben dürfte.
„Istanbul Bootleg“ hat mich, wie auch schon Wustmanns erster Istanbul-Band, daran erinnert, dass ich diese Stadt eines Tages unbedingt besuchen muss. Um es mit dem frühen Westernhagen zu sagen: Und mit'm Werner Gerrit will ich nächste Woche nach Florenz Istanbul – da muss ich unbedingt mal hin!
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Stefan Heuer
Lyrik
honig im mund
galle im herzen
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