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Nicolas Dickner
Nikolski

Eine herrliche Verschwendung
Kritik
 Nikolski |   Nicolas Dickner
Nikolski
Roman
Frankfurter Verlagsanstalt 2009
302 Seiten, 19.95 Euro


Am Anfang kann es helfen, Blatt und Stift bereitzuhalten. Denn hier scheint jeder mit jedem verwandt zu sein oder doch zumindest in enger Verbindung zu stehen – teils, ohne es selbst zu wissen. Und überhaupt hängt in Nicolas Dickners Debütroman Nikolski unwahr­scheinlich viel mit unwahr­schein­lich vielem zusammen: Drei mit­einander verwandte Haupt­figuren landen, ohne von­einander zu wissen, am gleichen Schauplatz, ihre Wege kreuzen sich, ohne dass sie sich begegnen.

Die harten Fakten: Noah, der in seiner Kindheit mit seiner Mutter Sarah Riel in einem Wohnwagen die Prärieprovinzen Kanadas durchquert hat, zieht zum Studium nach Montreal. Er ist der jüngere Halbbruder des Ich-Erzäh­lers, der im Buchladen S.W. Gram in Montreal arbeitet und dessen Mutter gerade gestorben ist. Der gemeinsame (verschollene)Vater Jonas Doucet ist der Onkel von Joyce. Sie ist als Nach­fahrin eines berüch­tigten Piraten­geschlechts im Fischerdorf Tête-à-la-Baleine an der Ostküste Kanadas aufwachsen und ebenfalls nach Montreal gezogen. Sie möchte selbst eine Art Piratin – man könnte auch sagen: Datenpiratin oder Kriminelle – werden. Im Laufe der 1990er Jahre kreuzen sich die Wege der drei Figuren mehrfach. Zeitweise wohnen sie im gleichen Viertel und teilweise sogar im gleichen Haus. Nur (er)kennen sie einander nicht. Zu sehr sind sie mit sich selbst beschäftigt: Sie sind ausgerissen oder von zuhause fort­gegangen, scheinen irgendwie „aus der Art geschlagen“ zu sein. Jeder auf seine Art lebt „am Rande einer wunderbaren und unbe­greiflichen Welt“ und sucht seinen Platz.

Das klingt konstruiert? Das ist es. Und der 1972 in Rivière-du-Loup (Quebec) geborene Autor hat sich einen Spaß daraus gemacht. Er erzählt im Wechsel aus der Perspektive der drei verschiedenen Hauptfiguren. Hin und wieder überschneiden sich die erzählten Ereignisse, dann wieder wird das Geschehen gerafft, einzelne Teile der Handlung werden ausgelassen. Man muss wachsam bleiben, um die sich kreuzenden Wege zu erkennen. Das Lesen nimmt regelrecht detektivische Züge an: Kann es sein, dass der Obdachlose mit Maple-Leafs-Kappe auf Seite 197 der gleiche ist, wie achtzig und hundertzehn Seiten davor? Laufen Noah und Joyce wirklich so dicht aneinander vorbei?

Gewiss, man könnte das als Spielerei abtun – wenn es nicht so gut gemacht wäre. Nicolas Dickner hat seinen Roman durchwoben mit wiederkehrenden Motiven: Da ist der Abfall, den der Ich-Erzähler zu Beginn und Ende des Romans zur Abholung anhäuft, der Noahs Studienobjekt im Fach Archäologie und das Ziel von Joyce' Diebeszügen ist. Da ist die Seefahrt, die den Lebensunterhalt der gemeinsamen Vorfahren sicherte. Da sind das Nomadentum und die Sesshaftigkeit; der Aufbruch von einem Ort, das leichte Gepäck, das Chaos einerseits und die Archivierung, die Archäologie, die Ordnung anderer­seits. Geschickt verknüpft Dickner die Motive miteinander, verbindet die Elemente seiner Erzählung auf scheinbar zwingende Weise.

Es ist ein Kosmos voller Zahlen- und Gedanken­spiele, in dem sich Dickners Erzähler bewegt. Immer wieder wird versucht, Ordnung in die Dinge zu bringen – etwa mittels Karten und Berechnungen: „Fünf Jahre vergingen. Fünfzig­tausend Schultage“. In seiner ganz eigenen archäologischen Arbeit befördert der Erzähler kuriose Details, unnützes Wissen und immer wieder wunderschöne sprachliche Bilder zu Tage. Und vermittelt das Gefühl: Irgendwie hängt all das miteinander zusammen.

Kein Zweifel, der Roman ist klug gebaut. Vielleicht etwas zu klug. So drängt sich das relativ zweckfrei in die Handlung eingewobene „Dreiköpfige Buch“, das auf verschlungenen Wegen von Noahs Besitz in die Auslagen der Buch­handlung S.W. Gram gelangt, allzu sehr als Metapher für Dickners eigenes „dreiköpfiges“ Buch auf. Und der „Nikolski-Kompass“, den der Ich-Erzähler um den Hals trägt, scheint ein Geheimnis zu versprechen, das am Ende eher verpufft, als dass es gelüftet würde. Nun ja, sagen wir: Es wäre auch ohne diese beinahe extra­vaganten Details gegangen.

„Es kann nicht alles perfekt sein“, heißt es am Ende. Als (selbst)ironischer Kommentar weist dieser vorletzte Satz auf die einzige Schwäche des Romans hin: Er ist nicht nur gut durchgearbeitet und komponiert, er will perfekt sein. Ist soviel Tüftelei aber nicht auch eitel? Beinahe wie eine Verteidigung liest sich der Gedenkstein, den Dickner wie im Vorbeigehen seinem Vorbild George Perec im letzten Kapitel des Romans hinstellt: In der Auslage von S.W. Gram liegt eine Sonder­ausgabe von Perecs kombina­tori­schem Roman Das Leben. Gebrauchs­anweisung. Für Kombinatorik, für das (systematische) Spiel mit Sprache und Erzähltem, begeistert sich auch Dickner.

Es fällt schwer, Nicolas Dickner seinen Spieltrieb übel zu nehmen. Zu viele hübsche und komische Einfälle und Beobachtungen, zu viele seltsame Details und Ver­strickungen kommen hier zusammen. Der Überfluss an Ideen, die geradezu fantastische Fantasie und die unbeirrbare Verspieltheit – es ist Ver­schwendung. Eine herrliche Ver­schwendung, die diesen Debüt­roman so sympathisch macht.
Carola Gruber    03.09.2009   
Carola Gruber
Prosa
Gespräch