Die Regeln sind klar: „max zehn minuten schreiben, max zwei mal überarbeiten, max achthundertfünfzig zeichen mit leerzeichen.“ Fast wie die Anleitung zu einem Spiel lesen sich die selbstauferlegten Vorschriften, die sich Sudabeh Mohafez für ihre kurzen Texte gegeben hat. Unter dem Pseudonym eukapirates veröffentlichte sie ab Januar 2007 in ihrem „zehn zeilen“-Blog kurze Einträge mit Alltagsbeobachtungen, Reflexionen, poetischen Stimmungsbeschreibungen und surrealen Szenen – jeweils zehn Zeilen lang, höchstens. Dafür setzte sich die Autorin jeden Morgen von 09 Uhr bis 09.15 Uhr an den Schreibtisch. Eine Art Spiel, um mit der deutschen Sprache in Kontakt zu bleiben. So will es die Legende, die Sudabah Mohafez in Interviews mit Zeitungen pflegt. Die 1963 in Teheran geborene Autorin, die 1979 nach Berlin übersiedelte und inzwischen in Stuttgart lebt, hatte vor den Zehn-Zeilen-Texten bereits einen Roman und zwei Erzählungsbände auf Deutsch veröffentlicht. Unter anderem wurde sie zur Wiesbadener Poetikdozentur für junge Autoren 2007 und zum Bachmann-Preis 2008 eingeladen. Die Behauptung, dass die Zehn-Zeilen-Einträge der Übung des Deutschen gedient haben sollen, wirkt da eher kokett. Die vorgeblichen Fingerübungen lassen sich im nun erschienenen „zehn-zeilen-buch“ nachvollziehen. Der Band versammelt in leicht überarbeiteter Form zweiundfünfzig der kurzen Texte, welche die Autorin zuvor als „flaschenpost ins weltweitewogen“ geschickt hatte. Erprobt wird hier vor allem die Flexibilität der kleinen Form, aber auch die der deutschen Sprache, die stellenweise an ihre grammatischen Grenzen getrieben wird. In ihrem spielerischen Umgang mit der kleinen Form – der programmatische Untertitel des Blogs lautet „eukapirates versucht sich an der kleinen form“ – knüpft die Autorin an verschiedene Traditionen an. Mal liest sich ein kurzer Text rhythmisiert wie ein Gedicht, etwa „die zweite stille“: „wind in den weiden und der mond pudert federlicht auf die blätter. wind in den weiden und ich lausche dem klickern der äste. in dieser nacht bin ich endlich wach. in dieser nacht sehe ich euch endlich.“ Mal greifen Texte konkrete Alltagsbeobachtungen aus der Großstadt auf und formulieren diese prägnant und poetisch, etwa das anonyme Einandervorbeileben auf benachbarten Balkonen oder den Anblick einer Straßenbahn, die „licht in die nacht streut“. Kleinste Anlässe wie ein mit einem Blatt verwechselter Frosch werden zum Ausgangspunkt für kurze Reflexionen und Kommentare. Immer wieder bricht in die kurzen Texten das Surreale ein, zum Beispiel, wenn ein Mitfahrer im Bus regelmäßig das gleiche Buch zur Hand hat wie die Erzählerin oder wenn sich eine Figur über Jahre in einem Zimmer verschanzt und schließlich gegen wucherndes Wurzelwerk kämpft. Mohafez' Texte verbinden so unterschiedliche Formen wie die Anekdote, das Prosagedicht, das Denkbild und die – eher persönliche als philosophische – Reflexion. Im Untertitel heißen die Texte „ultrakurze geschichten vom leben, lieben und schreiben“, vom Verlag wurden sie als „die 52 besten shortest stories“ aus Mohafez' Blog angekündigt. Diese Bezeichnungen helfen weniger, die kurzen Texte gattungsmäßig zuzuordnen, als dass sie verdeutlichen, wie schwer diese leichten Gebilde zu fassen sind. Spielerisch bedienen sie sich aus verschiedenen Bereichen, verbinden Elemente und kommen dabei immer wieder zu anderen Ergebnissen. Das Probieren der kleinen Form und der sprachlichen Möglichkeiten macht den Reiz dieser Textsammlung aus. Das Selbstverständnis als Versuch zeigt sich auch in der durchgehenden Kleinschreibung (eher überraschend hier: die Kombination mit der alten Rechtschreibung). Irritation sowie Erzeugen von Distanz zum Alltäglichen und dem scheinbar Selbstverständlichen sind Anliegen der Texte, die sich immer wieder selbst bei ihrem Textsein ertappen: „und das alles geht immer so weiter und immer so weiter, nur daß die zehn zeilen hier um sind“. Gegenüber der Präsentation im Internet gewinnen die Texte im vorliegenden Band deutlich, was unter anderem am großzügigen Satz (eine Doppelseite pro Text) sowie an dem ungewöhnlichen Layout liegt: Die Titel der Einzeltexte sind jeweils verschieden gesetzt; der gesamte Text ist in Blau gedruckt, was sich nicht zuletzt als Anspielung auf „das langsame sichtbarwerden blauer buchstabenkette auf hauchdünnen, grauen linien, meine handschrift“ liest – als weiteren Verweis auf den Prozesscharakter des probierenden Schreibens. Ob sich die Autorin nun wirklich akribisch an ihre Regeln gehalten hat, steht dahin. In Ihrem Blog kann man sie jedenfalls hin wieder beim Schummeln erwischen, etwa, wenn ein Text auch mal über 890 Zeichen zählt. Und ob Mohafez die Texte wirklich nur zwei Mal überarbeitet hat oder mehr als das – es ändert nichts an der Qualität der Texte. Nur ließe es den Produktionsprozess etwas weniger märchenhaft erscheinen. Das ist auch das einzige, was dieser charmanten Sammlung von Texten vorzuhalten wäre: Dass es in ihr stellenweise allzu märchenhaft, beinahe niedlich zugeht, zum Beispiel, wenn die Erzählerfigur mit einer Wolke über deren Aufenthaltsort und deren Regenzeiten verhandelt. In einem anderen Text muss das wogende Meer (wieder einmal) als Bild für die Stürme des Lebens herhalten. Stärker sind dagegen die Texte, die mikroskopische Alltagsbeobachtungen auf den Punkt bringen, bis ins Absurde verfremden, neue Bilder finden oder surreale Stimmungsbilder zeichnen. Dort bringen sie die kleine Form hin und wieder an einen Punkt, an dem man nicht entscheiden kann, ob nun Kürzestgeschichte, Prosagedicht, Denkbild, Reflexion die passende Bezeichnung wäre. An diesen Stellen transportieren Mohafez' Texte etwas von der Faszination, die die kleine Form ausübt. Sie lassen ahnen, dass gerade in den präzise abgesteckten Zehn-Zeilen-Gebilden eine Menge Freiheit steckt.
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Carola Gruber
Prosa
Gespräch
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