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Carola Gruber

Alles an seinem Platz

„Alles an seinem Platz“ spielt mit der Möglichkeit, Geschichten zu erzählen und die Welt, so fantasievoll wie konsequent, umzu­formatieren. Indem geschildert wird, was und wie man schreiben könnte, entsteht eine Folge hochkomprimierter Geschichten. Aus vermeintlichen Schreibrezepten erwächst eine eigene, sich selbst genügende Form.


1
Antiliste

Mit Stift und Papier eine bequeme Haltung einnehmen und eine halbe Stunde lang Dinge notieren, über die man gerne schreiben würde – ein Halte­stel­lenhäuschen, dessen Dach mit Schnee bedeckt ist, etwas Unkenntliches, das im Wind davonfliegt, das Ticken einer Taschenuhr, einen Sandsturm, den Geruch eines frischgebackenen Apfelkuchens, ein Herbstblatt, durch das die Sonne scheint –, notieren, ohne abzusetzen, ohne zu begründen, dann abbrechen, die Liste betrachten. Sich verbieten, die genannten Dinge zu erwähnen. Losschreiben.

2
Tagessätze

Jeden Tag um Mitternacht – besser: zwei Minuten davor – einen Satz schreiben, ohne abzusetzen, ohne auf orthografische, grammatikalische, inhaltliche Mängel zu achten, einfach einen Satz, der nicht im Voraus entworfen sein darf, sondern der in diesem Moment auftaucht, und wenn er lautet, dass kein Gedanke kommen will, dass die Blumen gegossen und die Kinder endlich ermahnt werden sollten, dass der Baum vor dem Fenster Schnee statt der Blätter trägt und gestern auch eine Plastiktüte, dass das Leben im Grunde erträglich ist, dass es nicht lohnt, das Auto reparieren zu lassen. Aufschreiben, Tag für Tag, um 23 Uhr 58. Gegebenenfalls einen Wecker stellen, aufstehen und schreiben, wie programmiert, einen Satz. Nicht abbrechen, nicht durchstreichen, nicht verbessern. Zwei Minuten schreiben, nicht länger, nicht kürzer, dann absetzen, selbst wenn der Satz noch

3
Backup

Notieren, woran man sich erinnert – den Geruch verbrannter Milch, das Blau einer Aktzeichnung Kirchners, das Wort Dschandschawid, das Gefühl von Gänsehaut in der Kniekehle, den Geschmack von Cornflakes, verschiedene Techniken, eine Krawatte zu binden, den Ton einer Bratsche, das Wissen darum, wie ein Kaugummi ausgewickelt wird, und darum, dass Zungen rot und Zähne weiß sind, die Textur der Seiten des ersten Schreibheftes, die Handlung des zuletzt gesehenen Kinofilms, des zuletzt gelesenen Romans, eine treffende Metapher, den Namen eines winzigen Handknochens, die botanische Bezeichnung für Löwenzahn –, alles, was man über die Welt weiß oder mutmaßt, was man selbst erlebt oder von anderen erzählt bekommen hat, aufschreiben, jede Information, jeden Wissensschnipsel mitsamt allen Unsicherheiten: vergessene Na­men und unbestimmbare Jahreszahlen, widersprüchliche Amtsdaten, die undefinierbare Augenfarbe eines Großcousins mütterlicherseits. Die gesamte Welt reproduzieren.

4
Jungbrunnen

Eine einfache Geschichte erzählen. Anschließend die gleiche Geschichte noch einmal erzählen, diesmal ein Element weglassen und ein neues hinzufügen. Die Übung wiederholen, von Mal zu Mal etwas weglassen, eine Figur, einen Ort, einen Beweggrund des Handelns und die Handlung selbst, und durch etwas anderes ersetzen, eine neue Figur, einen neuen Ort, einen neuen Beweggrund, schrittweise, wie ein Organismus, der frische Zellen aufbaut, während alte Zellen absterben. Sobald die Geschichte einmal vollständig erneuert ist, die neue Geschichte noch einmal erzählen, ein Element austauschend, und so weiter.

5
Anorexie

Eine einfache Geschichte erzählen. Anschließend die gleiche Geschichte noch einmal erzählen, diesmal ein Element weglassen. Die Übung wiederholen, von Mal zu Mal etwas weglassen, eine Figur, einen Ort, einen Beweggrund des Handelns und die Handlung selbst streichen, schrittweise, wie ein Organismus, dessen Zellen ersatzlos absterben.

Aus: Carola Gruber: Alles an seinem Platz. poetenladen 2008

Carola Gruber   23.07.2009    

 

 
Carola Gruber
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