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Constanze John
Heimat und Los
1
Wir wohnen. Unsere Vergangenheit nimmt zu. Wir wissen von den unterirdischen Verbindungen – verstaubt, verbunden, arbeitend –, aber wir fühlen sie nicht. Oder wir fühlen sie, ohne sie zu kennen. Wenn es uns die Sprache verschlägt, leben wir immer noch mit den Bildern. Ein Vogelmensch, Frau oder Mann oder keines von beidem, kann festgebunden nicht fliegen.
2
Wir haben eine Schwester. Sie sitzt in der Küche auf dem Stuhl, die Beine untergeschlagen. Sie sitzt wie auf einem orientalischen Teppich, raucht und lacht. Sie ist Schauspielerin und die Küche gut auch Theaterkantine oder Heiner Müllers Bau. Unsere Schwester ist irgendwoher gekommen, bis in unsere Leben hinein, und schon ist sie weitergegangen. Wahrscheinlich ist sie zurück in diese Küche gegangen, zurück auf den Stuhl, und raucht dort und lacht.
3
Der Vater baut. Er schreibt. Und zu guter Letzt konstruiert er Dinge, die einer wie er braucht zum Schreiben. Er sitzt an der Schreibmaschine oder schreibt mit der Hand. Wenn er mit Hand schreibt, setzt er sich in seinen Sessel, legt die Beine hoch und schiebt das Brett über die Lehnen. Es braucht Papier, Federhalter und Ellenbogen. Das Schreibbrett ist mit schwarzem Kunstleder bezogen und körpernah gebaut. Das hat er sich selbst gebaut.
„Du immer mit deinen Konstruktionen!“
4
Wenn wir uns aussetzen, bricht das Versehrte auf. Je getriebener oder angezogener wir uns bewegen, umso eher können wir stürzen. Auf dem Schotter, auf dem Asphalt oder die Haustreppe hinunter. Wir sind Kinder, besitzen eine dünne Haut und zeigen uns unsere Narben. Eine Narbe am Knie und eine an der Stirn. Und du? Was für schöne frische Wunden aber auch. Wer ein Pflaster trägt, der hat was zu erzählen.
5
Es ist eine Mutter und die hat vier Kinder. Sind sie aus demselben Holz geschnitzt? Schwesterlein und Brüderlein und Schwesterlein und Brüderlein. Jeden Abend hören wir ein Märchen. Gute-Nacht-Zeit. Brüderchen Vierbein, bin ich ein Stück Holz?
6
Wir haben eine Schwester. Draußen, am Himmel der Vollmond, wenn ihr ihn seht: Das ist ihr Hintern, so schön! Jeden Morgen duscht sich unsere Schwester, wenn sie uns besucht und gerade keine Rolle spielt an irgendeinem Theater. Und bevor unsere Schwester im Bad gewesen ist, und bevor wir in diesem Haus gewohnt haben, waren die Russen hier. Das hat einer von uns gehört. Und die Russen haben Tiere gejagt, heißt es, im Auwald, und hier in der Wanne mit großen Messern geschlachtet. Da ist aber längst das Wasser drüber gegangen.
7
Er ist mit dem Fahrrad gekommen, glaube ich mich zu erinnern. Und an jeder der Gaslaternen hielt er an. Die Gaslaternen waren sein Amt. Zündete oder löschte er sie, die Lichter? Glühbirnen, Wachskerzen, Sternenwerfer, Lichter, Lichter, Sonne, Mond, Sterne, Lichter. Und Glühwürmchen. Der Vater aber bevorzugt das Licht der Leuchtstoffröhre, das sich erst nur zögerlich zeigt, dann aber hell und mit leichtem Flackern.
8
Dem Waschbecken gegenüber hängt an der Wand ein hölzernes Kästchen. Es ist weiß lackiert und voller Klopapier. Das Klopapier sind die mit der Schreibmaschine beschriebenen und verworfenen Manuskriptblätter, geviertelt und eingeordnet. Das rötliche oder grünliche Durchschlagpapier ist weniger geeignet, dafür das weiße. Wir Kinder sortieren das weiße Papier wieder aus und beginnen zu zeichnen. Wir zeichnen unsere Bilder stapelweise.
9
Der Vater des Vaters hat einen Fleck auf der Weste. Die Gammler, wie er sie nennt, die mit den Röhrenhosen und den langen Haaren, motzen ihn an. Wie respektlos gehen sie mit unserem Großvater um! Das ist nicht zu glauben. Aber das spielt sich ab an einem anderen Ort. Und dort in Crimmitschau motzen sie selbst dann, wenn du Kind bist und zum Fasching als Fliegenpilz einen grünen Hut mit weißen Punkten trägst. Die Mutter des Vaters sagt immer, wenn wir zum Spielen hinunter gehen: „Lasst euch hier bloß von keinem ansprechen!“
10
„Hier sieht es aus wie bei den Zigeunern“, sagen die Vatereltern. Während der Vater des Vaters schweigt und seine Pfeife raucht, holt die Großmutter mit ihren Worten die Zigeuner zur Tür herein. Und gleich danach den Hitler. Auch Hitler sehen wir deutlich. Das ist so einer gewesen, der vor Wut in den Teppich gebissen hat. Und außerdem würden wir es selbst noch mit erleben, versichert uns die Großmutter, dass eines Tages die Raketen der Amerikaner die Erde durchbohren – von einer Seite direkt hindurch zur anderen.
11
Die Spur geht zurück. Er ist zwölf Jahre alt und er ist etwas besonders Anderes. Die Spur geht zurück in die zwanziger Jahre. Kein Mensch darf Mann und Frau in einem sein. Er kommt in die Behandlung. Seine Behandlung kostet etwas. Er schreibt Gedichte. Mit achtzehn Jahren schreibt er seinen Abschied. Dieses Papier trägt die Mutter der Mutter immer in ihrer Schürzentasche. Mehr wissen wir nicht zu sagen.
12
In ihrer Nähe wird es uns leicht, denn die Mutter der Mutter hat Flügel in den Augen. Es klingelt an der Tür, aber es steht kein Mensch vor der Tür. Weder vor der Haustür noch vor der Gartentür. Es ist dunkel. Wer jetzt ein Kind ist und keine Angst hat, weil doch die Großmutter mit zu Hause ist, kann die Stufen hinunterlaufen, den Weg zum Gartentor vor und es öffnen. Draußen wird es ihn sehen, den großen fremden Jungen, der gelehnt am weißen Gartenzaun steht und nichts sagt.
13
Vater brüllt, wenn kein Tor fällt. Er springt auf und brüllt, wenn dann ein Tor fällt. Er scheint glücklich, wenn der ältere Sohn neben ihm sitzt, um ihm sagen zu können, was das doch für ein Tor gewesen sei.
„Na?“, sagt er später und tätschelt unserer Mutter freundschaftlich die Schulter, bevor er in die Küche geht, sich sein Süpppchen zu kochen. Wenn sie sich küssen, im Fernsehen, geht er. Oder wenn sie operieren. Vor allem wenn sie eine Injektion setzen, im Film, geht er, als gehe das an sein Leben.
14
Als wir zwei, drei Jahre alt sind, beschließen wir, in die Welt zu ziehen, um das Glück zu suchen. Wir packen unsere Koffer, kleine grüne Koffer mit weißen Punkten. Es ist wie im Märchen. Luchs, der Wolfsspitz, begleitet uns. Wir sind ein Rudel.
15
Die Siedlung ist voller Spuren der früheren Wohlhabenden. Reckstangen und verfallene Schwimmbassins in den Gärten, in den Häusern Dienstbotenklingeln. Am liebsten spielen wir auf der Straße. Nasenwerfen, Himmel und Hölle, Meister gib uns Arbeit auf. Ein Mädchen sagt, ihrer Oma gehöre die ganze Wilhelm-Wild-Straße. Das glauben wir ihr nicht.
16
Es ist ein Kommen und Gehen. Das Licht brennt die ganze Nacht, falls doch noch einer geht oder ein anderer noch nicht gekommen ist.
17
Es ist ein Traum, aber es ist wahr, dass durch das geöffnete Fenster vom Garten her ein Kugelblitz in das Zimmer schoss, von einem Ende bis hinter zum Wäscheschrank, ein weißer Kugelblitz, innen rot glühend, und auf demselben Weg wieder zum Fenster hinaus. Wir haben hinter dem Nachtschränkchen gesessen und es genau gesehen.
18
Es gibt mindestens zwei Welten. Die Treppe verbindet. Wir können die Straßenschuhe ausziehen, bevor wir über diese Treppe gehen. Oder wir ziehen unsere Straßenschuhe nicht aus. Dann trampelt es sich besser. Oder wir gehen barfuß. Oder wir versuchen zu schleichen. Oder wir rutschen aus und stürzen dann treppab, von der oberen Welt hinab in die untere.
19
Überhaupt gibt es Probleme mit der Wärme. Entweder gibt es keine Kohlen oder die Heizkörper sind nicht richtig belüftet. Auch mit dem warmen Wasser gibt es Probleme. In der Küche befindet sich die Gastherme. Immer wieder verlöscht dort die Flamme. Immer wieder heißt es, wir müssen vorsichtig sein, damit das Haus nicht explodiert.
20
Es gibt ein Museum. Das Museum befindet sich im Schuppen und wird von meinem jüngeren Bruder geleitet. Am Zaun zur Straße hin sind kleine Plakate fest gezwackt. Es ist schön, wenn ein Besucher kommt, sich für Vogelfedern, kalkweiße Schädel und ausgestopfte Tiere interessiert und dafür seinen Eintritt bezahlt.
21
Die Wäschekammer ist ein vergessener Raum. Dort befinden sich nur der Korb mit der Schmutzwäsche und der Staubsauger mit seinem langen Schlauch. Es ist anzunehmen, dass hier die Hausgeister wohnen. Wo könnten sie sonst wohnen? Wir bevölkern schließlich jeden Winkel des Hauses, bis in den Keller und unter das Dach.
22
Die Mutter braucht unbedingt Farben. Wenn wir in die Ferien fahren, malt sie. Die Mutter könnte auch noch mehr Bilder malen, als die die sie schon gemalt hat. Roter Mohn und blaue Kornblumen. Auch ihr Bruder hat gemalt. Stillleben. Auch ihr Vater hat gemalt. Stillleben, Landschaft, ein Mensch mit einem Pferd. Der Vater der Mutter ist Dekorationsmaler gewesen und zu früh gestorben.
23
Das ist kein Raum für uns. Es riecht nach Benzin und Farbe. Aber wir öffnen die Garagentür und das Gartentor, geben von oben Zeichen, dass weiter kein Auto kommt. So kann der Vater den neuen Wartburg hinausfahren. Der Vater fährt rückwärts bergauf und dann davon.
Nun können wir die Nachbarinnen besuchen. Die Nachbarinnen halten schon die Gläser mit den Bonbons für uns bereit. Wir verstehen nicht, dass es in den Mietshäusern, vorn in Schleußig, Schilder gibt mit der Aufschrift: „Betteln verboten!“
24
Unser Haus ist sehr schön. Im Frühjahr blüht es mit rosa Blüten und ansonsten ist es grün bewachsen. Das Haus kommt direkt aus der Erde und innen bleibt genug Raum für unsere Familie. Vater, Mutter, Kind. Das Kind ist immer ein anderes. Aber wenn das Nachbarmädchen kommt, dann ist sie immer das Kind, denn sie ist sechs Jahre jünger als wir.
25
Meist tippt die Mutter und der Vater diktiert. Manchmal tippt der Vater. Manchmal probiert er auch nur ein neues Farbband aus, wenn er tippt. Er schlägt die Typen auf eine geheimnisvolle Art so an, dass sie halb rot und halb schwarz werden und überhaupt auf- und abspringen. Probiert der Vater nur die Maschine aus, schreibt er nicht selten einige Zeilen über „die Berliner“. Die Textproben über „die Berliner“ sind immer voller Ausrufezeichen.
26
Der eine Garten ist innen, der andere außen. Der Garten außen ist auch von hier innen gut zu sehen. Auf der rechten Seite, zur Straße hin, stehen die beiden Birken. In ihrem Wipfel sitzt ungerührt ein Uhu und schaut zu uns her. Geradewegs, durch die breite Fensterfront, ist der Blick frei hinüber zum Haus der guten Nachbarin. Dort wohnt auch eines der Nachbarmädchen. Manchmal sind wir böse und erschrecken das Mädchen mit einem großen schwarzen Hund, den wir sehen. Nur sie kann ihn nicht sehen.
Und auf der linken Seite sind der Steingarten und der große Apfelbaum. Schön.
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Constanze John
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