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Bausätze zum Gedicht
Ich habe das Gedicht – die Gattung Gedicht – als etwas kennen gelernt, das allen Systemen, die es einfangen möchten, Widerstand leistet. Dies trifft auch bei meinen eigenen Gedichten so zu, für mich, – für ihren Urheber. Ich fühle mich deshalb im übrigen veranlasst, dass ich meine nun folgenden Bemerkungen immer wieder mit der Vokabel „oft“ einschränke. Andernfalls würde ich mit dem Dilemma des lügenden Kreters zu tun haben.
„… allen Systemen, die es einfangen wollen, Widerstand entgegenzusetzen“: manchmal kann das geradezu eine Funktion des Gedichts sein. „Allen Systemen zu widerstehen“, für mich impliziert das auch: Gedichte-Schreiben kann einen Schub von Freiheit bedeuten. Literatur zu rezipieren oder zu schreiben: das kann Erzeugen von Freiheit sein.
Daraus ergibt sich für mich ein Satz – oft (nicht immer) –, von dem ich schon seit längerem weiß, dass er bei vielen wie ein glatter Affront ankommt: Eine der Wirkungen des Gedichteschreibens und somit des Gedichts ist, einen Kontakt herzustellen, der nicht historisch ist und der vor allem nicht gesellschaftlich sein muss.
Mit Herstellung dieses Kontakts bin ich also zum Beispiel in der Lage, phänomenale riesige Zeiträume zu überspringen.
Die Bauart meiner Gedichte leitet sich - oft, aber nicht stets – aus dem Wissen ab, dass eine „einfache Wahrheit“ (egal, wie sie aussähe) heute nicht zu haben ist.
Angesichts dessen ist es nur konsequent, dass Gedichttexte oft „mäandrieren“ – so wie der Fluss Mäander.
Gedichte sind oft genug nicht mehr monothematisch, sondern polythematisch. Themen, die vom Autor aufgegriffen werden, können auch wieder verschwinden. Ein Gedicht kann sowohl dem einen Motivblock wie noch mehreren anderen Motivblöcken verpflichtet sein. Aussagen können sich überlagern. Das Gedicht bietet, wie gesagt, eine Rolle der Freiheit an. Allerdings habe ich mir längst angewöhnt, diesem Faszinosum der ›Freiheit‹ auch die reiche Zahl von deren negativen Annexen zuzuschlagen.
Die Gedichte müssen inhaltlich nicht geradewegs auf ein Ziel oder auf ein Ende zusteuern. Sie können vieles mit aufnehmen. Und ich sehe solche Vorgehensweisen immer auch als eine Chance an, die sich speziell dem Poeten bietet; dem Poeten deutlich im Unterschied zum Wissenschaftler oder im Unterschied zum Journalisten. Ich nutze jedenfalls diese Chance.
Andererseits schließe ich im Gedicht gelegentlich kurz; absichtlich. Ich beziehe dann Inhalte aufeinander, die normalerweise nicht (oder nur mit mancherlei Zwischenschritten) als zusammengehörig erlebt werden. Und manchmal kann ich erst so das allzu Selbstverständliche aus seiner Region des Schweigens, des Unsichtbar- Gewordenen und der Nichtbeachtung hervorholen. Dies Verfahren läuft zugleich oft auf eine bemerkenswert neue Ästhetik hinaus. Derartige Gedichte haben nur ein Minimum an Redundanz. Natürlich macht sie das unter Umständen schwerer konsumierbar. Ich muss das als ihr Poet hinnehmen.
Gegenstand meiner Gedichte sind: Die Imponderabilien zwischen kollektiv gewordenen Mythen und einer jeweils individuellen Realität. Die Übergänge und Distanzen zwischen der Kindheit und der Jetztzeit. Die Unberechenbarkeiten zwischen kindlichem Dasein und dem Dasein der Erwachsenen. Die feinen Unterschiede zwischen Tat und Gedanken; zwischen dem Gedanken und aller Materialität. Das Niemandsland zwischen Wachzuständen und dem Traum. Ungewissheiten des Wachzustands. Die Differenzen zwischen Gesund-Sein und Tod. Lauter Grenzgänge auch also.
Es kommt mir oft drauf an, solche Unterschiede vielleicht überraschender aufeinander folgen zu lassen, als das der Leser normalerweise gewohnt ist. Klar ist mir, dass hier unaufhörlich Übergänge stattfinden. Mich interessieren Zwischenstadien; und die Zwischenstadien sind ja oft nur durch berserkerhafte Schnitte zustande gekommen.
Das Gedicht soll auf jeden Fall aus dem stupiden Konsensus des Selbstverständlich-Gewordenen befreien; – nicht „oft“, sondern immer. Es soll hier sowohl mich selber wie den Rezipienten befreien.
Von der hier oben skizzierten Funktion des Gedichts entferne ich mich inzwischen auch wieder.
Lyrik ist die mir bei weitem wichtigste Literaturgattung.
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Harald Gröhler
Lyrik
Poetologie
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