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Isabel Allende

Gespräch mit Johanna Hemkentokrax für den poetenladen
»Manchmal fängt ein Ort meine Phantasie ein«
  Gespräch


Welche Rolle spielen Orte für das Schrei­ben –- seien es gegen­wär­tige, ver­gan­gene oder ste­tig wech­selnde? Manch­mal kom­men die Orte sogar zum Autor, manch­mal sucht er sie auf. Sechs Au­toren­gespräche in poet 10 geben Aus­kunft. An dieser Stel­le das Gespräch mit Isabel Allende


Erschienen in poet nr. 10
Literaturmagazin
poetenladen 2011
Isabel Allende, geboren 1942 in Lima/Peru als Tochter einer chilenischen Diplomaten­familie. Sie schrieb Kindergeschichten, Theater­stücke, arbeitete für verschiedene Fernseh­sender und engagierte sich für die linke Volksfront-Regierung ihres Onkels Salvador Allende, des ehemaligen chilenischen Präsidenten, der bei dem Putsch von 1973 ermordet wurde. 1975 ging sie ins Exil nach Venezuela, wo sie als Journalistin und Lehrerin arbeitete. 1981 schrieb sie ihren ersten Roman, »Das Geisterhaus«. Bis heute veröffentlichte sie 19 Romane, darunter zahlreiche Bestseller, die in 27 Sprachen übersetzt wurden. Isabel Allende zählt zu den wichtigsten Schriftstellerinnen Lateinamerikas. Sie lebt heute in San Rafael/Kalifornien.


Johanna Hemkentokrax: Liebe Isabel Allende, in Ihren Büchern spielen Orte ja eine große Rolle. Wie erschaffen Sie einen literarischen Ort? Sind die Orte in Ihren Büchern manchmal am Anfang für Sie selbst fremd, vielleicht sogar unheimlich, weil Sie sie selbst noch nicht so gut kennen? Oder fühlen Sie sich sofort vertraut mit den Orten, die Sie beschreiben?

Isabel Allende: Alle meine Bücher sind sehr stark an Orte gebunden, sie spielen eine sehr wichtige Rolle, besonders die Bücher, die sich mit historischen Themen beschäftigen. Wenn ich über Chile schreibe, brauche ich keine Recherche über den Ort. Ich muss nicht einmal besonders viel darüber nachdenken. Chile kommt einfach ganz natürlich zu mir, als hätte ich mein Land niemals verlassen. Jetzt, nach 23 Jahren in Kalifornien, kann ich auch viel leichter über die USA schreiben. Für Geschichten, die von anderen Orten spielen, recherchiere ich sehr viel und besuche diese Orte. Außerdem reise ich regelmäßig und egal wo ich mich gerade befinde, beobachte ich immer sehr genau, denn vielleicht werde ich irgendwann über diesen Ort in einem meiner nächsten Bücher schreiben – das weiß ich vorher nie genau. Bei außergewöhnlichen Orten, wie dem Ama­zonasgebiet, Haiti, den nepalesischen Bergen oder Zentralafrika ist es nicht nur erforderlich dorthin zu reisen, um zum Beispiel ein Gefühl für die Menschen, das Wetter, die Gerüche zu bekommen, man muss auch sehr viel über die Geschichte, die Geographie, Flora und Fauna recherchieren. Wenn ich den Ort erst einmal kenne und mir sicher bin, in welcher Zeit er handeln soll, lasse ich meiner Phantasie freien Lauf.

J. Hemkentokrax: Was muss ein Ort (ein realer oder ein fiktiver) haben, um für Sie literarisch und persönlich interessant zu sein?

I. Allende: Mein Interesse an einem Ort ist immer unmittelbar an die Geschichte geknüpft, die ich erzählen will. Zum Beispiel in den Büchern Das Geisterhaus, Von Liebe und Schatten, Der unendliche Plan, Eva Luna oder in der Jugendtrilogie war das der Fall. Es kann aber auch sein, dass mich ein bestimmtes Ereignis interessiert, das sich an diesem speziellen Ort zugetragen hat, wie in den Büchern Fortunas Tochter, Porträt in Sepia, Zorro, Ines meines Herzens oder Die Insel unter dem Meer.

J. Hemkentokrax: In Ihren Büchern gibt es immer wieder Elemente des magischen Realismus – so werden zum Beispiel Orte wie das Geisterhaus beinahe zu eigenen Charakteren. Glauben Sie, dass jeder Ort dieses Potential hat?

I. Allende: Die Welt ist ein sehr geheimnisvoller Ort. Wir können nicht alles erklären oder kontrollieren. Ich bin einfach offen für diese Geheimnisse und das bereichert mein Leben und, zumindest hoffe ich das, auch mein Schreiben.

J. Hemkentokrax: Wie ist es mit den historischen Themen Ihrer Bücher? Wie genau recherchieren Sie da und ist es manchmal einfacher zu erfinden?

Isabel Allende: Wie ich schon sagte, ich reise überall auf der Welt herum und manchmal fängt ein Ort dabei meine Phantasie ein. Jahre später finde ich mich dann darüber schreibend wieder. Zum Beispiel habe ich das Ama­zonasgebiet schon in den 80er Jahren bereist und dann noch einmal in den frühen 90ern. Aber erst viele Jahre später, als ich meine Jugendbücher plante, konnte ich das für eine Geschichte verwenden. Die Stadt der wilden Götter, das erste Buch der Trilogie spielt letztendlich im Ama­zonasgebiet.

J. Hemkentokrax: Kann ein literarischer Ort, vielleicht sogar unvorhersehbar für Sie als Schreibende, die Figuren beeinflussen oder verändern?

I. Allende: Ja, auf jeden Fall. Der Ort bestimmt die Geschichte und auch das Verhalten der Figuren. In Fortunas Tochter hatte ich zum Beispiel niemals die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass die weibliche Hauptfigur sich als Mann verkleiden würde. Aber das Kalifornien zur Zeit des Goldrausches war eine rein männliche Welt. Eliza, als eine junge Frau, hätte in dieser Umgebung niemals allein überlebt. Als Junge verkleidet konnte sie aber ungehindert reisen ohne überhaupt wahrgenommen zu werden.

J. Hemkentokrax: In Ihren Büchern sind es immer die weiblichen Hauptfiguren, die sehr wichtig und stark sind. Denken Sie, dass Frauen neue Orte anders wahrnehmen als Männer, sie sich Orte vielleicht sogar anders aneignen?

I. Allende: Ich denke eigentlich nicht, außer dass Frauen sozialere Wesen als Männer sind und umgänglicher. Sie finden sehr viel besser Anschluss, finden schneller Freunde. Männer, die fremd an einem Ort sind, werden von seinen Bewohnern oft sogar als ein bisschen Furcht einflößend oder unheimlich wahrgenommen und sie werden erst einmal auf Abstand gehalten, während Frauen meist sofort willkommen sind.

J. Hemkentokrax: Haben sie manche Orte in Chile nach Ihrer Rückkehr aus dem Exil, als Sie Ihre Heimat zum ersten Mal nach der Diktatur besuchten, mit anderen Augen gesehen?

I. Allende: Es gibt einige Orte in Chile, die heute für mich eine Art negative Energie ausstrahlen und furchtbare Erinnerungen an die Repression und die Gewalt hervorholen. Das sind aber vor allen Dingen Orte wie die Konzentrationslager oder die Massengräber, Orte an denen gefoltert wurde.

J. Hemkentokrax: An welchen realen oder fiktiven Ort würden Sie nie wieder zurückkehren?

I. Allende: Ich hoffe, dass ich nie wieder in die Villa Grimaldi zurückkehren werde. Das war ein Ort, der während der Diktatur seine grausame Berühmtheit erlangte, weil dort schrecklich gefoltert wurde. Heute ist er eine Gedenkstätte, Parque por la Paz, Park für den Frieden, genannt.

J. Hemkentokrax: Was war der schönste Ort in Ihren Büchern, für Sie persönlich?

I. Allende: Mein liebster Ort ist nicht in meinen Büchern, es ist das Haus, in dem ich mit meinem Mann und meinem Hund lebe.

J. Hemkentokrax: Vielen Dank für das Gespräch.
 

Dieses Gespräch
und weitere Gespräche
zum Thema in poet nr. 10.



poet nr. 10
Literaturmagazin
poetenladen, Leipzig Frühjahr 2011
272 Seiten, 9.80 Euro

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Johanna Hemkentokrax    16.03.2011   

 

 
Johanna Hemkentokrax
Prosa
Reportage